Siegfried Pitschmann: Erziehung eines Helden

Zuallererst ist dieses Buch ein Dokument von Peinlichkeit. Als solches entlarvt es freilich nichts, was nicht längst fast bis zum Überdruss bekannt und eben auch dokumentiert ist. Die DDR war ein Land, das sich selbst als Leseland verstand und bezeichnete, ein Land, in dem man bei jeder Gelegenheit bezüglich eben des Lesens Geschichten zu hören bekam, wie die weitere Zukunft sich gestalten würde, nämlich wie in der Großen Sowjetunion, wo alle buchstäblich in jeder Lebenslage ununterbrochen lesen, in jeder Lebenslage und vor allem in jeder freien Minute. Und die, diese sagenhaften Sowjetmenschen, lasen natürlich nicht Schund und Schmutz, sondern Majakowski, Puschkin, Gorki. Der Schriftsteller Siegfried Pitschmann hat prägende Jahre seines Lebens in jener Phase des sowjetisch diktierten deutschen Teil-Territoriums erlebt, das dann zur DDR wurde, die ein in keiner Hinsicht gebremster, gar sublimierter Stalinismus in allen Gebieten des geistigen Lebens und der politischen Praxis kennzeichnete. Die verheerenden Folgen für Kunst und Literatur gaben sich schon im ersten Jahrzehnt Sozialismus auf deutschem Boden zu erkennen. Siegfried Pitschmann war mit seinem Versuch, eine Art Roman zu schreiben, ein Opfer heute kaum noch nachvollziehbarer Engstirnigkeit, man kann auch sagen: forcierter Dummheit und Dreistigkeit von Menschen, die die Macht hatten, anderen Menschen die Lebenslust bisweilen so sehr zu nehmen, dass diese versuchten, sich gar das Leben selbst zu nehmen.

Als uns Mitgliedern und Kandidaten des Schriftstellerverbandes der DDR, Bezirk Suhl, 1989 signalisiert wurde, Siegfried Pitschmann siedle in die damals so genannte „autonome Gebirgsrepublik“ über, war die erste vorwarnende Information dazu, es sei ratsam, ihn wie ein rohes Ei zu behandeln, er sei extrem empfindlich, die Rede war auch ganz unverhohlen von Alkoholsucht, in welchem Stadium inklusive des Überwundenseins, vermag ich nicht mehr zu sagen. Dass der
Mann, von dem nur ein auffallend schmales Werk präsent war, traumatische Erfahrungen hatte machen müssen, war kein Tagesgespräch, er war einfach nicht bekannt genug. Dass mit dem überraschenden späten Nachruhm seiner Ex-Frau Brigitte Reimann neue und teilweise sogar erste Neugier auch ihn treffen würde, war nicht zwingend vorauszusehen. Man müsste darüber spekulieren, wie weit die durchaus Hype zu nennende Hinwendung zu der schon 1973 an Krebs gestorbenen Brigitte Reimann auch eine unbewusste Wiedergutmachung für die unsäglichen Debatten des so genannten deutsch-deutschen Literaturstreites um Christa Wolf gewesen ist. Wie auch immer: Wer Brigitte Reimanns Tagebücher und die in rascher Folge erschienen Briefwechsel zur Kenntnis genommen hatte, wusste, dass sie sehr oft Pitschmann, den sie stets Daniel nannte, als den bedeutenderen, den besseren Schreiber bezeichnet hat.

Auch Kristina Stella, zunächst den Reigen der bekannten veröffentlichten Briefwechsel abrundend, indem sie im Bielefelder Aisthesis-Verlag unter dem Titel „Wär schön gewesen“ den Briefwechsel des Paares Reimann/Pitschmann herausgab, später dann die voluminöse kommentierte Reimann-Bibliographie, hat sich anstecken lassen. Ihrer Entdecker-Lust und der Bereitschaft des Verlages ist es zu danken, dass wir nun jenes seltsame Werk in der Urfassung nachlesen können, das den Titel „Erziehung eines Helden“ trägt, kaum Roman genannt werden kann und eben, siehe oben, zuerst ein Dokument von Peinlichkeit darstellt. Der unsäglichen Peinlichkeit einer Kultur- und Literaturpolitik nämlich, die ein solches, ich sage es mit leichter Hemmung, vollkommen harmloses Buch wie dieses unterdrückte. Man wird es, das scheint zweifelsfrei, nicht an die Seite von „Rummelplatz“ stellen können, Werner Bräunigs ebenfalls unterdrücktes und erst posthum Furore gemacht habendes Buch ist nicht nur im schieren Volumen stärker. Die DDR-Kultur- und Literaturpolitik, die immer wieder von Kampagnen lebte oder glaubte, ohne Kampagnen nicht leben zu können, hatte auch eine Phase, da es um die so genannte „harte Schreibweise“ ging. Schon in sehr jungen Jahren wusste ich, dass „Die Stunde der toten Augen“ von Harry Thürk dem Verdikt verfallen war.

Dieser Kriegsroman war aber immerhin erschienen, auch von Karl Mundstock, dessen hundertster Geburtstag in diesem Jahr natürlich vergessen wurde, gab es Text. Siegfried Pitschmanns Buch aber ist in Gänze nie erschienen, diverse im Anhang der jetzigen Ausgabe dokumentierte Teil-Drucke, als Neufassungen teilweise deutlich vom Urtext abweichend, gab es wohl, da aber hatte der Verfasser seinen Selbstmordversuch bereits hinter sich, da war nicht mehr viel zu retten. Sucht man auf den mit dokumentarischen Fotos vom Aufbau des einst größten Braunkohlenkombinates der Welt, „Schwarze Pumpe“, illustrierten 180 Druckseiten des in sieben höchst unterschiedliche Abschnitte geteilten Werks nach den Amerikanismen, muss man sich Mühe geben, welche zu finden, die überhaupt auffallen. Wer seinen Hemingway kennt und nicht alle Details vergessen hat, wird auf das Wort fabelhaft stoßen. Dann sind allerlei Dinge verteufelt, verflucht. Das ist harmloser als harmlos, selbst wenn man weiß, dass das amerikanische Sonntagsschulverbot des Fluchen in aller Literatur, in allen Filmen, die nennenswert waren und sind, zu regelrechten Fluchexplosionen führte: auch unter den Bedingungen der so genannten Freiheit bewirken Verbote das Gegenteil.

Der Musiker des Buches, der sich mit dem Gang in die Welt der Großbaustelle selbst kasteit, mag, wie übrigens Pitschmann und Reimann, vielfach nachlesbar, auch, Jazz und Blues. Wobei er dabei, als hätte er Verdächtigungen vorsorglich abzuwehren, sich klar von Elvis Presley distanziert, Protestgehalt in der Musik favorisiert. Siegfried Pitschmann und sein Held sind, wenn man es so nennen mag, musiklinientreu. Dass der Autor ihn, einer Bezeichnung des jungen Martin im Buche folgend, dann plötzlich selbst „King Klavier“ nennt, hat man als Tatsache des Textes hinzunehmen, es überzeugte mich nicht, denn es lenkt vom geschilderten Charakter der zu erziehenden Helden ab. Die Art, wie Pitschmann den Auftritt seines Helden in der Kneipe am verstimmten Klavier beschreibt, straft übrigens das wiedergegebene Selbstbild des angeblich gescheiterten Kaffeehausmusikers Lügen. Man kann an dieser Szenerie sogar Beobachtungen anstellen, wie kulturpolitische Erwartungshaltungen der DDR bedient werden, womit man nicht unbedingt an solchen Stellen rechnet. Denn das plötzliche Aufblühen, die innere Befreiung zu einem offenbar tollen Spiel mit tollen Improvisationen geschieht ja vor rein proletarischem Publikum. Vor Bauarbeitern. Nicht vor abgedrehten, vorwissenssatten Feinschmeckern, die glauben, man könne gute Musik ausschließlich mit geschlossenen oder wenigstens andächtig verdrehten Augen hören.

Was erzählt nun eigentlich Pitschmann und wie erzählt er es? Die Geschichte eines noch jungen Mannes, der sich selbst als Kaffeehausmusiker nicht mehr leiden kann, dem sehr früh im Text ein Hang zum Selbstmitleid attestiert wird, der eine Trennung von einer Lehrerin hinter sich hat und nun auf den im Zeitgeist liegenden und, das ist wichtig, auch der herrschenden Ideologie entsprechenden Gedanken kommt, er könne auf dem Bau, auf einer Großbaustelle des Sozialismus, ein anderer Mensch werden, einer, der mit sich selbst im Reinen ist. Pitschmann entscheidet sich für eine Erzählstruktur, die auch in den späten fünfziger Jahren, abstrahiert man nicht vollkommen von aller Welt außerhalb der DDR, nicht mehr reinen Herzens modern genannt werden kann, obwohl sie sichtbar forciert modern gemeint war. Wechselnde Perspektiven, satztechnisch erkennbar gemachte und oft auch nur in Klammern gesetzte Kommentar-Passagen, mal etwas wie ein Zwischenakt, mal ein Tagebuchauszug, auch von der Länge her differieren die sieben nummerierten Abschnitte erheblich. Pitschmann schildert eine „Ankunft im Alltag“ noch ehe seine Frau Brigitte Reimann mit dem Buch diesen Titels einer ganzen Literatursorte der DDR-Literatur einen Titel gab.

Der Alltag einer Großbaustelle fasziniert den Intellektuellen derart, dass er als Autor und Held (dass alles sehr autobiographisch ist, muss spätestens hier vermerkt werden) sich auf eine den Leser strapazierende und nervende Weise in technisch-technologische Ablaufdetails von Arbeitsvorgängen verliert. Es wird eine geschriebene Rhapsodie in Beton, die sich weniger von den Produktionsromanen der ganz frühen DDR unterscheidet, als wünschenswert. Bei Pitschmann wird die extreme Schwere der stupiden körperlichen Hilfsarbeit auf dem Bau deutlich, denn der ungelernte und eben auch wenig kräftige Musiker muss ausgerechnet Dinge tun, denen er rein physisch kaum gewachsen ist. Er empfindet das als Herausforderung, redet sich ein, das Gefühl zu genießen, erstmals ein Frühstück mit Arbeit wirklich verdient zu haben und so weiter. Das ist, mit Verlaub, nicht sehr weit weg vom einem Proletkult, es bedient die fast zelebrierte Hochschätzung vor allem des Bauarbeiters in der DDR und zementiert indirekt die sehr verbreitete Herabwürdigung des Intellektuellen. Während viele Intellektuelle der einstigen DDR ihren Staat noch heute bei jeder passenden oder selbst erfundenen Gelegenheit verteidigen, rannten im Herbst 1989 die hoch geschätzten Proletarier zur Banane und zum Westgeld, die vermeintlich geherrscht habende Klasse der DDR wurde ihrem Ruf nicht annähernd gerecht.

Der Alltag einer Großbaustelle wie der für „Schwarze Pumpe“ zeigte dem Gast, und mehr ist ein Musiker nicht, der erst als „King Klavier“ wieder wirklich bei sich ist, mehr ist ein Schriftsteller nicht, der den „Bitterfelder Weg“ für sich privat vorwegnimmt, wie es Pitschmann tat, ein Bild, das alle woher auch immer gewachsenen und gehegten Illusionen zerstörte. Pitschmanns Buch ist, das ist die wichtigste Erkenntnis bei aufmerksamer und genauer Lektüre, nicht eigentlich kritisch, es ist realistisch. Das ist ein Unterschied, wenn auch kein Gegensatz. Dass die diversen Obrigkeiten wenig begeistert waren, wenn die Realität auch in ein belletristisches Buch rutschte, ist nachvollziehbar. Man erinnert sich an die wilde veröffentliche Entrüstung, als Wolf Biermann die Klauerei in sozialistischen Betrieben ansprach, die jeder kannte, die viele selbst betrieben, die ohne Ironie gesprochen das Volkseigentum betrachteten, als meine es ein Privateigentum zur beliebigen Nutzung von 17 Millionen Bürgern. Es gibt auf Pitschmanns Baustelle Normbetrug, es gibt Alkohol, es gibt tödliche Arbeitsunfälle, es gibt marode Technik, Lieferprobleme, Pfusch mit falschen Betonmischungen (das kam in der frühen DDR offenbar so oft vor, dass es den Weg gleich in etliche Literaturwerke fand), nichts davon überrascht oder ist gar übertrieben geschildert. Es gibt auch eine mehrfach angesprochene Differenz des Erlebens im Buch von der im Buch kritisch gesehenen Realität in den Zeitungen der DDR. Wobei ich die Tendenz als ärgerlich empfinde, das den Journalisten anzulasten, als hätten die nicht unter einem noch viel direkteren Druck gestanden als die Schriftsteller und Dichter.

Pitschmann hat offenbar keinen Ehrgeiz entfaltet, seine sieben Teile des Buches auf eine Ebene zu bringen, es bleibt bis zum Ende (für mich) das Gefühl der Unausgeglichenheit, der Unausgewogenheit. Als mir das Nachwort von Kristina Stella vermittelte, dies sei der Urtext, es fehle nichts bis auf zwei halbe oder ganze Sätze, musste ich mir sagen: den ganz großen Durchbruch hätte das Buch seinem Verfasser auch dann nicht gebracht, wenn es veröffentlicht worden wäre. Von der sprachlichen Virtuosität, die Brigitte Reimann immer wieder in den Tagebüchern beschwor, spürte ich weniger, als ich gehofft hatte. Einigen wunderbaren poetischen Bildern im ersten Abschnitt folgen leider auch einige weit überzogene, unangenehm dick aufgetragene. Am ärgerlichsten aber sind mir die zahlreichen Stellen, an deren ich nur dann keinen Anstoß nehmen kann, wenn ich sie als ironisch gemeint auffasse. Leider erlaubt ihr sprachlicher Status aber genau diese Annahme selten bis nie. Das aber würde bedeuten, Siegfried Pitschmann unterlag den herrschenden Sprachregelungen und eben auch den Denkregelungen seiner Zeit mehr als seinem Nachruhm gut tun kann.

Es war eine wunderbare Idee der Herausgeberin Kristina Stella, dem langen Text noch die in dieser Form bisher ebenfalls unveröffentlichte Erzählung „Ein Mann namens Salbenblatt“ anzukoppeln. Auch diesen Text gibt es in veränderter Form gedruckt bereits mehrfach, Titel dann „Unten in Bitterfeld“. Aus dem Jahr 1967 stammend, zeigt er einen Pitschmann, der mit der Trennung von Brigitte Reimann offenbar noch nicht souverän fertig geworden ist, er verarbeitet die Frustration mit dem gescheiterten Projekt „Erziehung eines Helden“, indem er aus dem Musiker von einst jetzt einen Schriftsteller macht und nahezu jede wichtige Position des Buches zurücknimmt und negiert. Das geht bis in Details wie das Empfinden eines Teegeruchs, das fällt krass auf, wie vollkommen entgegensetzt die Schilderung von Hoyerswerda daherkommt, das übrigens belegt, dass die Ironie eben wohl doch keine wahr, sonst hätte nun keine Wendung um 180 Grad folgen müssen. Große Literatur ist auch diese Erzählung nicht, sie setzt einfach zu viel voraus, ist ohne Kenntnis des Romans kaum stimmig. Und dann hätte mich im Nachwort natürlich brennend interessiert, wie die teilweise richtig bösartigen Ausfälle gegen die Leonore (sprich Brigitte Reimann) der Erzählung gedeutet werden sollen, denn dort ist von einer Mentalität der Ex-Partnerin die Rede, die mit dem Bund deutscher Mädel aus der Hitlerzeit sehr direkt in Verbindung gebracht wird.

Bleibt abschließend daran zu erinnern, dass ein Hauptakteur der Peinlichkeit, dieses Werk seinen Lesern vorenthalten zu haben, Erwin Strittmatter hieß. Er war es, der die Kampagne gegen den Amerikanismus lostrat, er warf sich dafür in einem Maße in die Bresche, die ihn vorher und nachher nie wieder so kennzeichnete. Es ist, meine ich, wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese seine ideologische Hyperaktivität wohl keineswegs zufällig mit jenem recht kurzen Abschnitt seiner Biographie zusammenfällt, da Strittmatter mit dem Ministerium für Staatssicherheit kooperierte. Man kann, und zwar, wie ich glaube, ohne sehr viel Mühe, bis in die Diktion hinein an seinem veröffentlichten Tagebuch aus jener Zeit, „Nachrichten aus meinem Leben. Aus den Tagebüchern 1954 – 1973“ ablesen, in welchen Ausnahmezustand Strittmatter sich begeben hatte. Nach dem Selbstmordversuch und fortan versuchte er Pitschmann und Reimann zu helfen, wo und wie immer es ging. Das schlechte Gewissen bewegte ihn, selbst wenn er sich das nicht zugeben wollte und seine seltsamen Positionen aus der Debatte auch nie förmlich revidierte. Immerhin fällt auf, dass es unter all den vielen Büchern aus seiner Feder keines gibt, dass sein essayistisches Werk sammelt. Wie ja auch die ebenfalls zahlreich vorhandenen Äußerungen seiner Frau Eva aus den fünfziger Jahren nie gesammelt wurden. Der Bezeichnung „kleines Meisterwerk“ für Pitschmanns „Erziehung eines Helden“ kann ich nur bedingt folgen.


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