Walter Hasenclever: Antigone

Wer denkt, wenn der Name Antigone fällt, an einen Walter Hasenclever? An Sophokles doch eher, wenn das Denken sich denn nicht ganz vermeiden lässt. Das war einer aus der Antike, einer, den man in der Schule irgendwie hätte kennen sollen, wenn man ein Streber gewesen wäre, diese Zeiten aber sind zum Glück vorbei. Man muss kein überflüssiges Wissen mehr speichern, man hat davon den Riesenvorteil, dass man sich wundern darf, wenn beim Betätigen eines Schalters Licht angeht. Kenner von Stromkreisen sehen das zwar voraus, aber leben sie deshalb glücklicher? Wer soll denn dieser Hasenclever gewesen sein? Der am 8. Juli 1890 geboren wurde und am 22. Juni starb in einem südfranzösischen Internierungslager, nachdem er am Abend vorher eine Überdosis Veronal geschluckt hatte. 1940 war kein gutes Jahr für den Bestand der deutschen Literatur. Einige starben einfach, wie René Schickele, einige nahmen sich das Leben wie Ernst Weiß, wie Walter Benjamin und eben dieser Hasenclever. Der eine Berühmtheit war, eine Berühmtheit auf Zeit.

Und alles nur, weil diese Faschisten Frankreich eroberten, Frankreich, in dessen Süden sich die exilierte Literatur ballte wie kaum je zeitgleich und später an irgendeiner anderen Stelle. Alle kannten sich, weit weniger als alle liebten einander, wer nicht arm war, musste mit dem Neid derjenigen auskommen, die arm waren oder mit ihrem Geld nicht umgehen konnten. Walter Hasenclever hatte, als er dem Leben keine Hoffnung mehr abgewinnen wollte, seine „Antigone“ weit hinter sich gelassen, auch „Der Sohn“ ragte nur noch aus ferner Zeit herüber, der ein Flaggschiff des dramatischen Expressionismus gewesen war, der gern exemplarisch genommen wurde und wird. Auch von denen unter den Expressionismus-Forschern, die zunächst verkünden: „Man befindet sich sicher auf verlässlicherem Boden, wenn man sich weniger an den Expressionismus hält als an die Expressionisten.“ Schnell ist er hingeschrieben, so ein Satz. Ihn selbst zu beherzigen, war für Wolfgang Paulsen aber keineswegs die unausweichliche Folgerung.

Überhaupt Paulsen: Was ritt ihn, den Kleist-Preis für Hasenclever mit „Der Sohn“ zu verbinden, obwohl doch überall nachzulesen steht, dass es den seinerzeit höchst renommierten Preis eben für „Antigone“ gab? Warum lässt er seinen Walter Hasenclever in „Expressionismus als Literatur“ 1915 als Dolmetscher in den Krieg ziehen, so dezent verschweigend, dass auch Hasenclever wie fast alle 1914 wenigstens so kriegsbegeistert war, dass er sich freiwillig meldete, wenn er dann auch nicht genommen wurde seiner Konstitution wegen? Darf einer, der später den Ikonen des Pazifismus vorsaß, nicht zuvor ein Hurra-Schreier gewesen sein? Die neuere Geschichte kennt DDR-Offiziersschüler, die nachwendlich vor lauter Pazifismus die Bärte nicht lang genug wachsen lassen konnten. Der erste Weltkrieg, das zählt längst zum Allgemeinwissen, hatte zunächst massenhaft auch die Intellektuellen unter seinen begeisterten Begrüßern und Befürwortern, weil er eine als unerträglich empfundene Krise, eine dunstige Stagnation endlich zu beenden schien. Den Katzenjammer gab es beinahe postwendend und leider nicht etwa gratis. Er kostete Leben.

Man kann, sich der Antigone als Figur zuwendend, die Genealogie der Labdakiden herbeizitieren. Die griechische Mythologie hat es bekanntlich mit diesen fürchterlich verwickelten Familiengeschichten voller Schuld, Schicksal und Sühne, da morden die Söhne die Väter, dann heiraten sie die Mütter, zeugen blutschänderische Kinder und so weiter und so fort und wer immer seit der ersten Formung des Stoffes sich seiner annahm, der erzählte weiter, der erfand dazu, der strich aus, die Stoff- und Motivgeschichte lebt davon, füllt mit ihr mehr oder minder dicke Nachschlagewerke und Einzelabhandlungen, die berühmteste ihrer Vertreterinnen, Elisabeth Frenzel, gilt wegen ihrer Nazi-Affinität zwar als Pfuiteufelchen, aber neu aufgelegt werden ihre Standardwerke immer wieder und benutzt sowieso. Denn sie lassen sich nicht überholen in ihrer puren Stofflichkeit. Der Fluch der Labdakiden reicht bis zu Antigone, weshalb er auch knappe Darstellung findet in „Mythos Antigone“ (einem Band aus der wunderbaren Reihe von Reclam Leipzig, solange es Reclam Leipzig gab). Labdakos war übrigens der Enkel von Kadmos.

Pausanias, der Reiseschriftsteller und Geograph aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus, hat in seiner Beschreibung Griechenlands einen „Schleifplatz der Antigone“ in Theben, den es angeblich deshalb gab, weil das schwache Weib die schwere Bruderleiche ein wenig schleifen musste, denn tragen konnte sie sie nicht. Nicht immer war also der Mythos Antigone in den allerhöchsten Verklärungssphären angesiedelt, es gab auch Erdnähe, buchstäbliche gar. Antigone ist die, die den Befehl des Königs nicht befolgte, der in der Fassung von Walter Hasenclever lautet: „Wer dieser Leiche letzte Ehre spendet, / Der wird zu Tod gesteinigt, / Sein Kadaver jenem zugesellt.“ Nun war es nicht pure Schwesterliebe, nicht Humanismus in höchster Selbstverleugnung allein, die Antigone bewegten. In der antiken Glaubenswelt standen Beerdigung und Aufnahme in die Totenwelt, ins Jenseits, ins Fortleben auf der anderen Seite in engem Zusammenhang. Genau deshalb ließ es Antigone schließlich auch im ersten Versuch mit einer eher symbolischen Beerdigung bewenden: sie bedeckte die weiter unbegrabene Leiche des Polyneikes mit einer dünnen Schicht Staub.

Bei Edith Frenzel heißt es lapidar: „… für Hasenclever ist Antigone die Künderin von Humanität und Pazifismus, ihr für die Brüderlichkeit der Menschen geleisteter Opfertod überwindet auch Kreon, der abdankt.“ Das Wesentliche des Fünfakters ist damit haarscharf nicht benannt, denn bei aller stofflichen Nähe zu Sophokles hat sich Hasenclever in einem entscheidenden Punkt sehr weit vom großen Tragiker entfernt: er macht aus Antigone eine dezidiert christliche Figur, der es immer nur um Gott, nie, wie in Griechenland zu erwarten wäre, um die Götter ging. Hasenclevers Antigone hat messianisch-prophetische Züge, sie bewegt sich zwischen dem Selbstverständnis eines weiblichen Jesus und einer Maria, Mutter Gottes. Ihr Künden hat Fundamentalistisches vom Ethos der Bergpredigt, ist auf spezielle Weise modern aber in der Ansprache der Frau und ihrer Rolle im Leben. Antigone und ihre Schwester Ismene stehen als kaum zu versöhnender Gegensatz im Stück. „Ist nicht der Bruder höher als der Tod?“, fragt Antigone, Ismene antwortet: „Höher als der eine ist die Welt, / Und wäre er mein Bruder tausendfach.“ Es fällt schwer, bedenkenlos Antigone zu folgen. Auch, wenn sie später sagt: „Besser gut sein, als weise.“ Rasch ist dergleichen unterschrieben, unmenschlich schwer gelebt.

Auch bei Hasenclever nimmt sich Antigone das Leben, nur tut sie es stellvertretend, ihr Tod ist Kreuzestod ohne Kreuz. Sie kündet ihre Auferstehung in tausend Jahren, man möchte es fast blasphemisch nennen. Vorher aber gibt sie ihr Beispiel universell vergebender Menschenliebe: „Wehe dem, der am Herzen der Menschen zweifelt, / Wenn sie Tiere sind, tief in der Unglückszeit.“ Wohl dem, der so denken kann, wo doch normalerweise das Ernennen von Menschen zu Tieren, zu Bestien, wahlweise auch zu Untermenschen, immer die Voraussetzung ist, an ihnen den einen, den unteilbaren Humanismus auszusetzen. Der Satz enthält nebenher natürlich auch die Aussage, dass es an Bedingungen gebunden ist, an eine „Unglückszeit“, die etwas fasslicher gut zu benennen wäre, wenn Menschen zu Tieren werden. Hasenclevers Antigone sagt das unmittelbar, nachdem die Meute die Schwestern auffordern, nackt vor ihnen zu tanzen. Das Personenverzeichnis des Dramas stellt, demonstrativ und etwas vordergründig natürlich auch, das „Volk von Theben“ an oberste Stelle, vor alle namentlich genannten Rollen und gerade das provozierte frühzeitig Kritik.

Der berühmte Schweizer Kritiker und Theaterhistoriker Bernhard Diebold (6. Januar 1886 bis 9. August 1945) sah am 20. Februar 1919 im Schauspielhaus Frankfurt die Inszenierung der „Antigone“ in der Regie von Richard Weichert und schrieb: „… das Volk ist zum aktiven Helden geworden. Das ist das Neue. Demokratie! … galt es eine Satire? Denn das war nicht „das Volk“ – das war Pöbel! Und um dieses miserablen Gesindels willen bedurfte es einer neuen „Antigone“? Denn dass die alte auch nicht schlecht war, erwies ja die im Prinzip unveränderte Übernahme der sophokleiischen Komposition für die ersten drei Akte, die einzig und allein dramatisch wirksamen.“ Diebold war nur mäßig begeistert, während Oscar Quint, der Kritiker der „Frankfurter Volksstimme“, der das nicht wesentlich anders sah, immerhin die begeisterten Publikumsreaktionen an den Anfang seiner Besprechung stellte. Deren Beschreibung erinnert fast verdächtig an die Beschreibung der berühmten Mannheimer Reaktionen in Schillers „Räubern“. Diebold zusammenfassend: „Diese „Antigone“ ist keine visionäre Dichtung, sie ist bei aller poetischen Aufwallung die Deklamation des geschicktesten Bühnenverstandes.“ In Berlin sah gut ein Jahr später Paul Wiegler eine „Ästhetik des Wadenkrampfes“.

Wolfgang Paulsen hebt auf den Aktualitätsbezug vor allem der „Antigone“ ab: „Hasenclever macht die überlieferten Gestalten zu scharf profilierten Vertretern von Denkformen und Interessen im Kampf um die Ideen des Pazifismus. Was er die alten Griechen auf seiner modernen Bühne agieren lässt, sind die Forderungen des Tages. Nicht um Theben ging es ihm, sondern um Deutschland und die Gegenwart. … Antigone kämpft nicht nur gegen die Unmenschlichkeit Kreons und Wilhelms II., sondern ebenso kompromisslos für die Armen und Unterdrückten…“. Was er großzügig übersieht, sind fatale Tendenzen der Selbstüberhebung dieser Antigone. Wer ein so ausgeprägtes Sendungsbewusstsein öffentlich macht für sich, der wird immer bedroht sein von der Gefahr, sich nicht auch distanziert sehen zu können, offen zu sein für Kritik oder auch nur andere Meinungen und Ideen. Es hätte geholfen, einen Blick auf zwei der berühmtesten Gedichte Hasenclevers zu werfen: „Der politische Dichter“ und „Die Mörder sitzen in der Oper“.

„Der Dichter träumt nicht mehr in blauen Buchten. / Er sieht aus Höfen helle Schwärme reiten. / Sein Fuß bedeckt die Leichen der Verruchten. / Sein Haupt erhebt sich, Völker zu begleiten. // Er wird ihr Führer sein. Er wird verkünden. / Die Flamme seines Wortes wird Musik. / Er wird den großen Bund der Staaten gründen. / Das Recht des Menschentums. Die Republik.“ Das bedarf eigentlich keines Kommentars mehr, vor diesem politischen Dichter müsste man am Ende wohl Angst haben. In dreißig vierzeiligen Strophen ballt sich alles, nur kein klares Denken, es gibt eben kein auch nennenswert präzises Zukunftsbild, es werden Vergangenheiten beschworen in kräftigen Bildern, die an der gewollten Aktualität vorbeischrammen, so, wie eben auch die Mörder in der Oper, die ausgerechnet den „Rosenkavalier“ sehen, nicht etwa „Nabucco“ oder „Lohengrin“. Man möchte fast meinen, dass es leicht sein sollte, alle Mörder auf einen revolutionären Streich zu erwischen, wenn man die Oper mitsamt ihren Insassen in die Luft jagte. Lustig ist solch eine Idee nicht, weil sie eben in real existierenden Köpfen tatsächlich geistert.

Walter Hasenclevers politischer Dichter unterscheidet sich von seiner Antigone mindestens dadurch, dass er den Fuß auf die Leichen der Verruchten stellt. Während sie verkündet: „Ich kenne keine Feinde, die man schändet, / Keinen Hass, der noch den Tod beschimpft.“ Diese Antigone wirkt mit der Kraft des Wortes. Selbst Kreon bezwingt sie. Der Pöbel, der sie eben nackt sehen wollte, ehe er sie steinigt, will nun ihre Füße küssen. Ein „Mann aus dem Volke“ spricht: „Folgt mir, ich will euch führen. / Der Wind steigt aus den Trümmern, / Die neue Welt bricht an.“ Und Kreon, der mörderische König, als wäre ein Aufklärungsdrama zu Ende im Geist des mittleren achtzehnten Jahrhunderts, verkündet die Moral der Geschichte: „Freiheit ist stärker als Gesetz und Ruhm! / Wer über Menschen herrscht, soll Gut und Böse / Erkennen und das Bessere tun.“ Da fehlt nur wenig bis zur Peinlichkeit. Dass Walter Hasenclever sich nur wenig später von seinen heroischen Illusionen verabschiedete, zeigt seine Farce „Die Entscheidung“ aus dem Jahr 1919. Dort will ein aus der Todeszelle befreiter Dichter seinen Befreiern keine Siegeshymne dichten, denn er sieht alte Doppelmoral nur durch neue ersetzt. So schnell kann einer lernen.


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