F. C. Weiskopf: Der Traum des Friseurs Cimbura

Ein Ereignis in meinem Lese-Leben ist Franz Carl Weiskopf aus Prag nie gewesen, da waren mir andere aus dieser isolierten Literaturecke lieber, viel lieber zum Teil, und auch für das Ende der Donaumonarchie ließ ich mich lieber mit Autoren ein, die mehr davon erlebt hatten als dieser erst 1900 geborene Mann. Aber Filmbilder sind mir gewärtig, weil sie in einen Kontext gerieten, den Weiskopf als Autor der benutzten Romanvorlage nicht vorausahnen konnte. Und das gar nicht einmal nur, weil er am 14. September 1955 urplötzlich starb, viel zu früh und unerwartet, wie die Trauer-Phraseologie das gern nennt. Weiskopf hätte wohl ungläubig geschaut, wenn ihm jemand die Turbulenzen ausgemalt hätte, in die zwanzig Jahre nach seinem Tod das kulturelle, speziell auch das literarische Leben der DDR trudelte, in der er die letzten Jahre seines Lebens verbrachte. Da nimmt sich der Regisseur Hans-Joachim Kasprzik den großen Roman „Abschied vom Frieden“ vor, drei Teile sollen es werden, engagiert wird, was Rang und Namen hat unter den Schauspielern der DDR, und plötzlich gibt es die Biermann-Ausbürgerung im November 1976. Es verwandeln sich Darsteller in Unpersonen wie Schriftsteller auch, der dreiteilige Film ist fertig und wird nicht gezeigt. Erst später, wie in einer hilflosen Geste, die auf Signalwirkung hofft.

Angelica Domröse, die die Irene von Claudi spielte, vor allem aber Manfred Krug als Marko Gelusich, bereiteten den Kulturoberen wohl heftige Bauchschmerzen, ehe dann, für April 1979, doch Sendeerlaubnis gegeben wurde. Angelika Waller hatte unvergessliche Nacktszenen als Wally, die vor dem Intendanzhauptmann Leopold von Vrbata erschrecken musste, den wiederum der ewige DDR-Hallodri Lutz Jahoda spielte. Man durfte rätseln, was das nun zu bedeuten habe, denn in der DDR hatte immer alles etwas zu bedeuten, was von oben inszeniert wurde, nur die Bedeutung wurde niemandem einfach verraten, es gab dafür ein hierarchisch gegliedertes System des Informationsprivilegs, aus dessen Kanälen manchmal etwas sickerte, manchmal auch nicht. Die Freunde Manfred Krugs jedenfalls, gewöhnt an überraschende Spätausstrahlungen nicht im Programm ausgewiesener Filme mit ihm (und Jutta Hoffmann), waren mindestens irritiert. Ansonsten war F. C. Weiskopf dann doch kein Joseph Roth. Als 1990 sein 90. Geburtstag anstand, war noch so viel DDR-Rest übrig, dass er nicht ganz vergessen wurde. Die keineswegs unsinnige Übung der Jubiläumsartikel in Landestradition zuckte noch einmal auf.

Doch welch horrender Blödsinn wurde plötzlich über F.C. Weiskopf behauptet! Die BERLINER ZEITUNG, aus Pietät sei der Name des Verfassers hier dezent verschwiegen, schrieb: „War er in der UdSSR der zwanziger Jahre mit Meyerhold, Eisenstein, Lunatscharski zusammengetroffen, so hatte F. C. Weiskopf in den frühen Jahren seiner literarisch-publizistischen Existenz in Prag oft mit Rilke und Kafka, Meyrink und Brod, Kisch und Fürnberg gemeinsame Pläne geschmiedet und Projekte diskutiert.“ Ich ahne nicht, aus welcher trüben Quelle das geschöpft ist, doch selbst ohne Detailkenntnis des Prager Literaturlebens darf man allein aufgrund der Geburtsjahre der genannten Männer heftig bezweifeln, dass das Behauptete auch nur in Teilen zutraf. Gustav Meyrink beispielsweise war rund 40 Jahre älter als Fürnberg und immer noch mehr als dreißig älter als Weiskopf. Was sollten der 1875 geborene Rilke oder der 1883 geborene Kafka oder der 1884 geborene Max Brod mit dem 1900 geborenen „jungen Schnösel“ und Kommunisten für gemeinsame Projekte gehabt und beraten haben? Bei Franz Kafka findet man den Namen Weiskopf gar nicht, bei Brod die unzweideutige Aussage, er habe fast nichts von Weiskopf gelesen, der auch nicht zum engeren Prager Kreis gehört habe.

Es wäre interessant zu wissen, wie viele Zuschauer der dreiteilige DDR-Fernsehfilm hatte, als ihn das MDR-Fernsehen im Januar 2009 noch einmal ausstrahlte, konsequent nach Mitternacht. 2014 nutzte ihn die Landeszentrale für politische Bildung im Raum Brandenburg. Da verwechselten die Verantwortlichen schon die Namen der Darsteller. 1955 aber, als F. C. Weiskopf überraschend starb, da war der Umgang mit seinem Tod noch etwas wie ein kleiner Offenbarungseid. Johannes R. Becher, der Kulturminister, hatte wie schon bei Erich Weinert große Mühe, nicht bei der reinen Phrase zu verweilen. Kein Wort über das, was der Tote im Laufe seines Lebens schrieb, dafür diese höchst seltsame Würdigung. „... ein guter, braver Mensch war er, der sich niemals vordrängte und der unauffällig beiseite trat, wenn einer mit dem Ellenbogen an ihm vorbeirudern wollte.“ Geschah so etwas unter Genossen etwa, möchte man demagogisch fragen. „Wie tapfer, wie pünktlich, wie zuverlässig war er …“. Warum fiel Becher eben das und nichts anderes auf? Vier dicke Bände Becher-Publizistik zeichnen ein anderes Bild des „lieben, lieben Freundes F. C. Weiskopf“, nämlich gar keines. Kaum substanzhaltiger die „Worte am Grab F. C. Weiskopfs“, die Bechers Stellvertreter Alexander Abusch der Nachwelt hinterließ.

Abusch kannte aber immerhin vier Buchtitel von Weiskopf. „Über Deinem Weg stand der Stern Lenins.“ sagte er. Wenn schon nicht der Stern von Bethlehem, möchte man anfügen. Das 1927 veröffentlichte Buch „Umsteigen ins 21. Jahrhundert“, eines der vielen verklärenden, verkennenden, bisweilen einfach nur erfolgreich desorientierenden Sowjetunion-Bücher der Zeit, sah Abusch so: „Das bedeutete den Ruf an alle, jetzt schon in unserem, dem zwanzigsten Jahrhundert zu streiten, zu kämpfen, zu arbeiten für den Bau eines sozialistischen Jahrhunderts. In dieser Erkenntnis, in dieser Zuversicht lag der eigentliche, der tiefe Sinn Deines Lebens und all Deiner schriftstellerischen Arbeit.“ Die dann, am tatsächlichen Geschichtsverlauf gemessen, unsinnig gewesen sein müsste, denn das sozialistische Jahrhundert kam nicht nur nicht herauf, auch seine Vorbereitung verdämmerte sang- und klanglos. Noch mein Archiv beweist die nicht vorhandene Nachwirkung, seit 1990 ist kein einziger Zeitungsausschnitt hinzugekommen. „Deine Bücher werden in diesen neuen Tag der Menschheit eingehen“, prophezeite Alexander Abusch. Man hat, makaber genug, nur ein n durch ein m zu ersetzen daran, und dann wäre Abusch sogar eine Art von Hellseher.

Menschliches Berührtsein gab es dennoch 1955 auch. Max Schroeder, der Cheflektor des Aufbau-Verlages, Altersgefährte von F. C. Weiskopf und ihn gar nicht sehr lange überlebend, hat den Moment des Abschieds auf dem Zentralfriedhof beschrieben. Er sah, natürlich waren es nur Ausnahmen, „bei manchen auch nur der formell erforderliche Ernst“. Schroeder treibt in seinem „Abschied im Spätsommer“ ein wenig zwingendes Spiel mit dem Nicht-Nennen von Namen selbst da, wo es vollkommen eindeutig ist, wen er meint. Aber er hat persönliche Erinnerungen, an die Ankunft in New York etwa, an den Besuch, den Weiskopf ihm am Krankenbett in Ellis Island abstattete. Grete Weiskopf, unter ihrem Autorinnen-Pseudonym Alex Wedding selbst eine sehr bekannte Autorin, wird beschrieben, wie sie geführt wird von der großen Dichterin und der Frau des Ministers, „die große Dichterin half G., sich aufzurichten.“ Von Anna Seghers ist 1985 erstmals ein umfängliches Konvolut Briefe an F. C. Weiskopf in Übersetzung veröffentlicht worden, die neue große Briefausgabe hat diese Briefe im französischen Original, aus der Todeszeit Weiskopfs fand ich bei ihr aber nichts. Vielleicht war sie zu betroffen? „Ich verschmähte die bereitliegende Schaufel für den letzten Dienst.“ Max Schroeder erwähnt die entfesselte Seele des Toten und schließt mit dem Hinweis auf die Internationale, zum Abschied gespielt von der Polizei-Kapelle.

Und „Der Traum des Friseurs Cimbura“? Viermal stehen die je nach Druck rund dreißig Seiten in meinen Regalen, als Titel des Insel-Buchs Nr. 445, als Text in den Weiskopf-Sammlungen „Die Zigarre des Attentäters“ (bb) und „Erzählungen“ (Reclam Leipzig) und auch als Beitrag in der Anthologie „Fünf Millionen Tauben“ (bb). Sammler und Herausgeber sind also von eben dieser Erzählung besonders überzeugt gewesen, darf man daraus folgern. Es kommt auf die Perspektive an. Im Insel-Buch steht vorn „Wer keine Wahl hat, hat die Qual“ aus dem Jahr 1927. Ich erinnere mich der Empfindungen nicht mehr, die mich bei meiner Erstlektüre im April 1980 bewegten, jetzt jedenfalls erschreckte mich die Vordergründigkeit. Hatte solche Literatur tatsächlich irgendwann einmal Wirkung oder erfreute sie nur die Hüter literarischer Parteilinien? Was sagt einem Leser fast 100 Jahre später eine solche Geschichte vom Streiken in einem böhmischen Dorf? Deutsch ist der Ausbeuter, tschechisch sind die Ausgebeuteten, das ist Sachinformation. Schon nach vier Wochen Streik mussten die Beteiligten Hab und Gut verkaufen, um ihr Leben zu fristen. Der heutige Kapitalismus ist vollkommen anders, mag man umgehend glauben, da lässt sich wochenlang streiken und niemand muss seine Bettwäsche verpfänden deswegen. Wer allerdings je selbst länger streikte, kann wunderbar nachempfinden, was F. C. Weiskopf vom Umschlagen der Stimmung erzählt, ohne das eigentlich zu thematisieren. Rasch schwindet die Euphorie der ersten Streiktage, das war die „Ästhetik des Widerstandes“, die Realität ist anders.

Die Reflexionen des Ziegelarbeiters Pulkrábek sind gut gemeint, doch weder baut er selbst, wie die bemühte Klassenkampf-Rhetorik behauptet, noch ist auch nur ansatzweise eine gesellschaftliche Entwicklung ernsthaft vorstellbar, in der erst die Welt umgebaut wird, ehe alles andere folgt. Bisher hat es noch keine einzige Revolution der Weltgeschichte vermocht, auch nur einen kleinen Teil der Welt wirklich nachhaltig umzubauen, am Ende blieb immer der alle Beteiligten überraschende hohe Restbestand alles Vorherigen, der neue Mensch gar war immer der alte Adam. Wenn F. C. Weiskopf also seinen Helden Pulkrábek mit der Frage ringen lässt, ob er ein Lump sein darf oder gar muss, um seiner sterbenden Frau mit dem Handgeld für Streikbrecher die Medikamente zu bezahlen, die ihr gar nicht helfen, dann ist das eine Reißbrett-Dramatik jenseits des wirklichen Lebens. Man erfährt nicht, ob die Furcht des Helden dem Status des Lumpen gilt oder nur der Meinung der anderen, die ihn dafür halten könnten. Man erfährt auch nicht, warum der Ziegelarbeiter die Möglichkeit eines Kredits beim Apotheker nicht einmal in Erwägung zieht, die ihm beim Fleischer als normal erscheint. Wirklich gute Erzählungen gehen anders. Da ist die Geschichte vom Friseur von anderem Kaliber.

Dessen Vater ein Schwimmmeister war, das Wort muss allein wegen der drei m so oft als möglich genutzt werden. Der seinen Sohn auch gern als Schwimmmeister gesehen hätte und ihn deshalb schon mit allerlei Handlangertätigkeiten beauftragt. Dann aber passiert das Ding mit den beiden Wasserleichen. Der Schwimmmeister bindet sie im Wasser fest und als er noch einmal nachschaut, sind sie weg, jemand hat den Strick durchgeschnitten. „Der Tod ereilte ihn plötzlich; bevor er auch nur „Schuster“ sagen konnte, war er hinüber.“ Das liest sich, als hätte F. C. Weiskopf die Art des eigenen Sterbens mit Humor beschrieben. Denn überliefert ist, dass er am Nachmittag des 14. September 1955 noch mit Kollegen im Schriftstellerverband zusammen saß, den Kongress im November vorzubereiten, dann zu Hause noch etwas schreiben wollte. Ob er noch „Schuster“ sagen konnte, ist nicht überliefert. Fest steht, dass Günter Caspar mit dem Satz: „Dann hat ihm der Tod die Feder buchstäblich aus der Hand gewunden“ wohl doch eher der Lyrik verfiel. Der Tod des Schwimmmeisters aber hat zur Folge, dass auch die Karriere des Sohnes eine neue Bahn nehmen muss, denn der neue Schwimmmeister hat ebenfalls einen Sohn. Hier lebt das Leben nun wirklich und der Autor F. C. Weiskopf kennt es natürlich genauestens.

Er kennt es sogar so gut, dass seine Beschreibung, wie sich der Friseur nach Krieg und Ende der alten Donaumonarchie verhält, Kennern der vergangenen 25 Jahre deutscher Geschichte seltsam bekannt vorkommen wird, die Klammer stehen wie hier zitiert im Text: „(Nach dem Krieg, als eine republikanisch-umstürzlerische Vergangenheit zum guten Ruf gehörte, gab Cimbura sein Ehrenwort, dass er sogar einen adeligen Major von den Windischgrätz-Dragonern mit Spucke rasiert habe … )“. Sind wir nicht fast ein ganzes Volk, dass vorübergehend mit Spucke rasiert, wenn es Not tut? Was die Geschichte tragikomisch macht, sind die Details des altösterreichischen Bestattungswesens, das in Krieg und Nachkrieg erodiert, bis dann als Todesstoß für die Nebenverdienstmöglichkeiten der Aushilfsbestatter motorisierte Leichenwagen die schöne Kutsche mit den Pferden und allem ersetzen. Der Friseur Cimbura neigt dazu, zum verspäteten Maschinenstürmer zu werden, wählt dann aber doch den Selbstmord durch Kollision mit einem Leichenwagen. Wozu es aber nicht kommt. Denn Cimbura stirbt vorher an Wurstvergiftung. Die Pointe hat Überlebenschancen in der Literaturgeschichte, noch 60 Jahre nach Weiskopfs Tod.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround