Anna Seghers: Jans muß sterben

Nur ein einziges Mal habe ich Anna Seghers persönlich erlebt. Das war 1976 in der Berliner Stadtbibliothek im Rahmen einer Lesung „Für Spanien“. Sie war sehr hinfällig, wurde von beiden Seiten behutsam gestützt bis zum Podium und sie las nicht mehr als vier Zeilen. Vier Zeilen des spanischen Dichters Lopez Pacheco, „Ich lege die Hand auf Spanien“.

Später habe ich für die Reihe „Berliner Biographien“, die die „Berliner Zeitung“ im Jubiläumsjahr 1987 ins Leben gerufen hatte, selbst über Anna Seghers geschrieben. Es wurde mein vierter Beitrag in dieser Reihe, die anderen galten Alfred Döblin, Kurt Tucholsky und Johannes R. Becher. Danach war ich, wie viele ihrer Leser, unterwandert von den Aussagen jenes Buches, das 1989 wie kein anderes ein Versprechen zu sein schien für neue Zeiten in der DDR, das Buch „Schwierigkeiten mit der Wahrheit“ von Walter Janka.

Dieses Buch stellte Anna Seghers an den Pranger nicht für etwas, was sie getan hatte, sondern für etwas, was sie unterließ. Da sie 1983 am 1. Juni bereits gestorben war, konnte sie sich nicht wehren. Und da es eine Zeit der Anklagen war, nicht eine der Verteidigungen, blieb der Vorwurf in der Luft, der so berechtigt war wie unberechtigt.

In diesem Jahr nun fiel mir ein schmales Buch in die Hände, mit zwei Nachworten und übergroßer Schrift keine hundert Seiten stark, aber stärker als die meisten Bücher, die ich in meinem Leben gelesen habe und das sind etliche gewesen. Das Buch heißt „Jans muß sterben“, Anna Seghers schrieb es mit 25 Jahren und es wurde zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht. Das Buch ist groß, es ist ergreifend, es ist grandios.

Es erzählt vom Sterben eines Kindes, es erzählt vom Leiden der Eltern dieses Kindes, vor allem aber erzählt es, wie es ist, wenn man hat, was andere Menschen auch haben, nur eines nicht, die Fähigkeit sich auszudrücken, seinen Gefühlen Form zu geben, in Sprache zu verwandeln, was sich geteilt und mitgeteilt besser oder überhaupt erst ertragen lässt. Anna Seghers erzählt aus einem sozialen Milieu, das auch von der proletarischen Literatur vernachlässigt wurde, nicht nur von der bürgerlichen. Nur Joseph Roth hat, soweit ich sehe, in seinen frühen Romanen ähnliche Versuche unternommen.

Selbst namhafte Kritiker haben, als das Buch erschien, seine Qualitäten nicht erkannt, Fritz J. Raddatz kam sogar auf die alberne Idee zu vermuten, die Nachlass-Veröffentlichung könnte dem Ruf der Autorin Schaden zufügen. Welch ein Irrtum, welch eine Blindheit. Allein die ungeheure Präzision, mit der die Autorin das beobachtet, was die Gefühle, die Gedanken ihrer Hauptfiguren verdeutlicht, ohne dass diese sie formulieren, denn eben das können sie nicht, das ist ganz, ganz große Literatur. Ich empfehle Anna Seghers „Jans muß sterben“, erschienen im Aufbau-Verlag, mein Exemplar ist aus der zweiten Auflage im Jahr 2000.

Diese Leseempfehlung entstand 2008.


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