Ödön von Horvath: Die Unbekannte aus der Seine

Natürlich könnte man fast alle Namen, die Ödön von Horvath in das Personenverzeichnis seiner dreiaktigen Komödie mit Epilog „Die Unbekannte aus der Seine“ gesetzt hat, auch französisch aussprechen. Trotzdem habe ich mich beim Lesen nie in Paris gefühlt, eher wirkte alles wie im achten Bezirk in Wien, nur dass hier eben nicht der Zauberkönig neben der Metzgerei logiert, sondern ein Uhrmacher neben einem Blumenladen. Die Blumenhändlerin Irene hat etwas von der Trafikantin und überhaupt hat jede dieser Figuren etwas von anderen Horvath-Figuren. Man könnte dem Dichter Einfallsarmut vorwerfen. Er variiere nur immer seine Grundmuster. Das wäre unfair. Wir alle variieren nur Grundmuster, auch die Originellen gleichen einander wie ein Ei dem anderen in ihrer Originalität, man sieht es ihnen schon von weitem an, wie sie den Schal um den Hals geworfen haben oder wie tief der Hut ins Gesicht gezogen ist. Ein Ansammlung Origineller ist öder als jede Trachtenparade. Horvath ist halt der Dichter eines bestimmten Personals, anderes hat er anderen überlassen. Seine Leute haben es nicht mit dem Reden. Sie nutzen Fremdwortschatz ohne alle Hintergedanken, sie wählen ihn nicht. Ihnen sind die Vordergedanken schon anstrengend genug.

Aus der Seine ist die Unbekannte im Stück erst recht spät, vorher ist sie einfach nur die Unbekannte. Sie hat keinen Namen. Besser: sie hat einen, sagt ihn aber nicht. „Ich hab einen seltenen Namen“, sagt sie zu Albert, der ein Speditionsbeamter war und eine Unterschlagung beging. Albert liebte Irene, jedenfalls, sowie wie diese Liliom-Strizzi-Männer bei Horvath ihre Mädchen lieben, die hielt es dann mit Ernst. Ernst ist in dieser Hinsicht ein wenig der Metzger, der genommen wird, aber eigentlich nie eine Chance hat. Albert brütet mit Silberling und Nicolo ein Ding aus. Man will den Uhrmacher berauben. Es gibt einen Studenten, der es mit einer Gattin hat und später Buchhändler wird. Dann kommen, wie das so ist in den Nebengassen von Wien und anderen von Flüssen durchzogenen großen Städten, Nebenrollen vorbei. Sie füllen das Geschehen auf. Man könnte ihnen die Notwendigkeit absprechen. Wenn man es nicht tut, hat man keinen Fehler gemacht. So ein Leidtragender etwa passt zu Wien, wo die „schöne Leich“ etwas darstellt. Die Leiche, zu der der Uhrmacher dann wird, weil er aufwachte, statt den Einbruch in sein Geschäft zu verschlafen, sieht, wie man hört, nicht so schön aus, die geschlagene Kopfwunde blutet hässlich.

Es ist hilfreich, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass „Die Unbekannte aus der Seine“ schon etwas war, bevor Ödön von Horvath sein Stück diesen Titels schrieb. Das wusste offenbar der Herausgeber der beiden DDR-Horvath-Bände aus dem Jahr 1981 noch nicht, so wie es auch Kurt Krahl 15 Jahre früher noch nicht wusste. Anders als später leichthin behauptet, war die Totenmaske der Unbekannten aus der Seine zunächst keinesfalls an den Wänden von Spießer-Wohnungen zu finden, sie war Einrichtungsaccessoire der Pariser Bohéme. Im einschlägigen Wikipedia-Artikel findet sich eine illustre Namensreihe von Leuten, die sich von eben dieser Maske, genauer, von der Vorgeschichte dieser Maske inspirieren ließen. Darunter Vladimir Nabokov, Maurice Blanchot, Louis Aragon. Der frühe Nationalsozialist Reinhold Conrad Muschler schrieb eine Novelle über die fiktive Lebensgeschichte der Unbekannten, die schon in den dreißiger Jahren eine Auflage von 400.000 Exemplaren erreichte. Für Horvath wichtiger war die am 4. November 1931 im „Berliner Tageblatt“ veröffentliche Geschichte von Hertha Pauli. Claire Goll schrieb 1936 eine viel später knapp 18 Druckseiten lange Kurzgeschichte „Die Unbekannte aus der Seine“.

Alle aber waren offenbar fasziniert von dem seltsam verklärt-glücklichen Gesichtsausdruck der Toten. Bei Horvath taucht die Maske im Epilog auf und Albert spricht mit ihr, weil er die Unbekannte zu erkennen glaubt. Letzte Sicherheit gibt es dazu aus dem Stücktext nicht. Erstaunt aber muss jeder sein, der im „Spielplan“ von Georg Hensel liest, was angeblich im Stück geschieht. Laut Hensel versucht die Unbekannte Albert erst von seinem Verbrechen abzubringen und dann nimmt sie dessen Schuld auf sich. Die Vermutung, dass Hensel keineswegs all die Unmengen Stücke selbst gelesen hat, die er in seinem dicken Zweibänder charakterisiert, erhält an einer solchen Stelle Nahrung. Dass der Horvath-Spezialist Krahl freilich auch eine im entscheidenden Punkt unpräzise Aussage zu dem macht, was die Unbekannte im Stück tut, ist mehr als verblüffend. Prägnant und zutreffend hat es dagegen Otto Basil formuliert: „Der Freitod des Mädchens wird von Horvath dadurch motiviert, dass es sich selbst zum Verstummen bringen will, weil es als einzige Zeugin des vom Zufallsgeliebten begangenen Raubmordes reden müsste.“ Basil sah die Wiener Akademietheater-Inszenierung im Oktober 1962, die Kurt Krahl „lackiert“ nannte.

Wer die Motivierung des Freitodes, der im Stück selbst gar nicht vorkommt, nicht nachvollziehen kann, sollte zwei Sätze im Auge behalten, der erste aus dem Munde der Unbekannten: „Zum Beispiel ich persönlich würde mir nie etwas antun, so schlecht könnt es mir gar nicht sein.“ Der zweite von Emil, dem Studenten, in dessen Buchhandlungs-Schaufenster später die Maske zu sehen ist: „Man kann sich auch aus einem Hochgefühl heraus umbringen.“ Wenn sich die Unbekannte tatsächlich in die Seine gestürzt haben sollte, um die größte Gefahr vom Raubmörder Albert abzuwenden, dann wäre das eine fast übermenschlich große Geste. Denn vorher verzichtete sie ja bereits im Leben auf Albert, als sie erkennen musste, wie es steht zwischen ihm und Irene. Und im Epilog haben beide einen kleinen Albert, der sich vor dunklen Hauseingängen fürchtet. Die hochgelobte Regisseurin Anna Bergmann (Jahrgang 1978) hat 2011 in ihrer Münchner Inszenierung kurzerhand Irene zur Mörderin der Unbekannten gemacht. Ein lustiger Kritiker schrieb damals: „Das absurde Theater steigert Bergmann zu einer mit Synthiepop unterlegten Faschingsparty, in deren Schutz die kleinbürgerliche Gesellschaft den Aufbruch im Sex sucht.“ Keine Fragen weiter.

Die Berliner Schaubühne hatte im September 2000 eine „Unbekannte aus der Seine“ in der Regie von Barbara Frey, den Albert gab Lars Eidinger. Der Kritiker der „Berliner Zeitung“, die damals noch nicht komplett durch den Synergie-Wolf gedreht war, lobte: „Martin Brambach als Polizist, Thomas Dannemann als Leidtragender, Ronald Kukulies als Emil – auch in den kleinen episodischen Auftritten ist zu sehen, dass der Spießer durch Traurigkeit ein Mensch wird.“ Man möchte fast froh sein angesichts solcher Sätze, dass die Welt traurig genug ist, um Spießer zu Menschen zu machen. Was für große Gruppen werden in einst glücklichen Zeiten der kompletten Ausgrenzung verfallen! Bleibt die Frage, wohin sie marschieren müssen, wenn der intellektuelle Daumen an der Rampe seines Amtes gewaltet hat. Woher kommt eigentlich diese sich fortzeugende Arroganz derer, die den Stab brechen? Von Horvath haben sie jedenfalls nichts, aber auch gar nichts verstanden, selbst wenn der vermeintlichen Sinn erst seinen fertigen Stücken unterschob. Die still lächelnde Wasserleiche würde heute Wasserleiche 2.0 heißen müssen, was nichts besser machte. Die Unbekannte gibt übrigens im Stück ihren Geburtstag mit 2. Juni an. Der wäre morgen.


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