Alfred Wellm: Die Partisanen und der Schäfer Piel

Am 2. Januar 1968 platzte Erwin Strittmatter der Kragen: „Da liegt er nun und lauert auf die Entscheidung, die über seinen Roman gefällt werden wird. Und die Beamten im Verlag, im Kulturministerium, auch in der Abteilung Volksbildung im ZK schieben den Roman einander zu, ohne eine Entscheidung über die Druckgenehmigung zu fällen. Alle fürchten beim Gemahl der Volksbildungsministerin, der als Nachfolger des Gen. Ulbricht vorgesehen ist, in den Fettnapf zu treten und am Ende ihren Sessel loszuwerden. Jetzt warten sie allesamt auf die Rückkehr des Genossen Hager aus dem Urlaub. Ihm haben sie die Rolle des „starken Mannes“ zugedacht, der sich mit dem künftigen Generalsekretär der Partei anlegen soll. Was hat das noch mit Sozialismus zu tun? Man könnte es noch verstehen, wenn Alfreds Roman ein Wort enthalten würde, das unsere Gesellschaftsform oder unsern Staat in Frage stellen würde. Das ist nicht der Fall, aber wir sind jetzt so selbstverliebt (zu unserem Schaden natürlich), dass die leiseste Kritik an irgendeiner unserer Einrichtungen die Beamten des entsprechenden Ministeriums auf den Plan ruft, die diese Kritik (aus selbstischen Gründen, versteht sich) zu einem Angriff auf den Staat ummünzen. Wo wird das hinführen, und wie lange wird das ohne erhebliche Schäden für uns alle so gehen?“

Wir wissen, wohin es führte, wenn es auch noch etwas mehr als zwanzig Jahre gedauert hat. Die Frage aber, noch lange vor dem zwanzigsten Jahrestag der DDR gestellt, sagt alles und das fast noch Verblüffendere ist, dass wir 2017 wissen, dass das Selbstverliebte, das Ummünzen jeder Kritik in einen Angriff auf den Staat, so tiefe Wurzeln in manchen Menschen fasste, keineswegs nur Beamten, die es ja gar nicht gab im heutigen Sinn, in den Ministerien, dass sie noch heute wie Berserker jeden und jede attackieren, die das heile Bild der DDR in ihren Augen dahingehend verfälschen, dass sie sich beispielsweise scheinbar oder tatsächlich als Opfer des Systems ausgeben. Diese sehr spezielle Art von Ostalgikern scheint sich fast dreißig Jahre nach Ende der DDR noch immer so heftig mit dem untergegangenen System zu identifizieren, dass sie jeden Angriff auf das verschwundene Land als Angriff auf ihre eigene Person deuten und deshalb sofort mit teilweise extrem unverhältnismäßigen Mitteln zurück dreschen in ihnen willfährigen Publikationsorganen oder auf ihren eigenen Internetseiten. Das Zitat aus Erwin Strittmatters publizierten Tagebüchern formuliert nur besonders zugespitzt, was andere auch wussten. Beispielsweise Brigitte Reimann, die sonst, anders als Strittmatter, kein besonderes Verhältnis zu Alfred Wellm entwickelt hatte.

„Um den Wellm-Wanzka hat es bösen Streit gegeben, das Buch sollte nicht gedruckt werden; glückliche Umstände, nicht die Linie der Kulturpolitik, haben dazu geführt, dass es schließlich doch erschien, von vielen allerdings scharf bekrittelt und bekämpft wurde.“ So steht es bei Reimann unter dem Datum 5. Juni 1969, am 15. Juli 1969 folgt die zweite und letzte einschlägige Stelle ihrer publizierten Tagebücher: „Wellm ist ja noch in letzter Minute gerettet worden, allerdings hatte sein Buch auch nahezu zwei Jahre auf Eis gelegen.“ Wenn man das weiß, die Akteneinsichten in den Beständen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR und andere Dokumente haben kaum wirklich Neues dazu zutage gefördert, dann kann man um so deutlicher empfinden, wie geradezu unendlich verlogen war, was Anneliese Große in dem 1970 erschienenen Sonderband der Essay-Reihe des Mitteldeutschen Verlages Halle (Saale) als Text eines Vortrages, angeblich gekürzt und überarbeitet, drucken ließ, ohne dass auch nur eine Silbe dazu zu lesen war, wann, wo und vor wem sie das vortrug. Große, später Löffler, von Volker Braun Frau Professor Messerlein genannt, summierte in diesem Text im Mantel dessen, was man in der DDR gern „positive Kritik“ nannte, alle Vorwürfe gegen den Roman „Pause für Wanzka oder Die Reise nach Descansar“.

Als Wellm nach langer Krankheit am 17. Dezember 2001 gestorben war (heute wäre er neunzig Jahre alt geworden), was seiner Kritikerin Löffler ganz offenbar zu gelingen scheint, sie wurde am 7. Mai 89, erfuhr die längst nicht mehr so sehr interessierte Öffentlichkeit, dass Margot Honecker das Buch verbieten wollte oder sogar schon verboten hatte, weil es in ihren Augen eine nicht ertragbare Ansicht des DDR-Schulsystems verbreitete, dass aber Walter Ulbricht, das meinte wohl Brigitte Reimann, um seinen potentiellen und immer dreister werdenden Kronprinzen Erich Honecker gleich mit zu treffen, eine Sondererlaubnis zum Druck erteilte. Immerhin, Margot Honecker schaffte es, in der ihr hörigen Wochenschrift DEUTSCHE LEHRERZEITUNG etwas wie eine Kampagne gegen das Buch zu entfachen. Für Uwe Pergande am 2. Dezember 2003 ein gutes Thema, in der FRANKFURTER ALLGEMEINE abzuhandeln, „wie Alfred Wellms Roman „Pause für Wanzka“ die Verlogenheit des DDR-Schulsystems entlarvte“. Schade, dass Pergande mit einem groben Fehler in der Reihenfolge der Wellm-Bücher seinen Text etwas entwertete. Auf alle Fälle wäre allein diese eine zum Buch gewordene Geschichte um einen Lehrer, der Schulrat war und noch einmal wieder vor Kindern stehen wollte, ein lupenreines Lehrstück über die DDR.

Dennoch folge ich dem Faden nicht weiter und bekenne sogar, an Romanen über Lehrer und Kreisschulräte nie tieferes Interesse entwickelt zu haben. Der Grund: ich hatte zwei Lehrer plus einen Kreisschulrat (Stellvertreter) zu Hause als Mutter und Vater, ich habe eine Reihe von Schulräten persönlich gekannt, dem letzten vor dem endgültigen Verschwinden der Struktur der Räte der Kreise der DDR mit Übergangsphase eines Trägerwechsels von der SED zur CDU habe ich als Mitglied des Kreistages, Fraktion Kulturbund, im Saal der Ilmenauer Festhalle noch quasi öffentlich seine Ignoranz vorgeworfen, als er sich weigerte, einen damals heftig diskutierten Zeitungsartikel von Hermann Kant in JUNGE WELT überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Das war noch vor der Entmachtung des Ehepaares Honecker, wenn auch nicht lange davor und natürlich war es weder eine Heldentat noch ein Akt von Widerstand, es war eine Meinungsäußerung. Nur so viel noch: bei Erwin Strittmatter finden sich von April 1962 bis Mai 1993 immer wieder interessante Sätze über Alfred Wellm, seine erste Frau Inge, Scheidung 1971, die Wellms betreuten zeitweise sogar einen der Strittmatter-Söhne, und später dann über Wellm und Sigrid Damm, die Neue an seiner Seite. Es gab Phasen der Entfremdung, am Ende offenbar richtig bösen Ärger.

Das Anfangszitat oben bezieht sich auf den nach einem schweren Motorradunfall lange liegen müssenden, schwerstverletzten Wellm. Als dem 1987 Rulo Melchert in der Wochenzeitung SONNTAG zum sechzigsten Geburtstag gratulierte, gab es in der Würdigung keinerlei Privates, auch keinerlei Klärungen oder Erklärungen zum Geschehen um den Wanzka-Roman, den sah man nun einfach unaufgeregt, obwohl es dennoch bis 1989 dauerte, bis eine Verfilmung ins Fernsehen der DDR kam mit Kurt Böwe in der Hauptrolle, die nun allerdings niemanden mehr ernsthaft interessierte. Ein früher ins Auge gefasster DEFA-Film in der Regie von Frank Beyer nach Drehbuch von Jurek Becker wäre da wohl auf deutlich mehr Aufmerksamkeit gestoßen. Der 1987 erschienene dritte Roman Wellms, „Morisco“, wurde sein letztes Buch, er hat, wenn mir nichts entgangen ist, in den verbleibenden 13 Jahren seines Lebens kein weiteres veröffentlicht. Ganz am Anfang seiner Autorenlaufbahn aber schrieb er Kinderbücher für die jüngsten Leser, nach „Igel, Rainer und die anderen“ (1958), „Die Kinder von Plieversdorf“ (1959) dann „Die Partisanen und der Schäfer Piel“ (1960). Das hat der Kinderbuchverlag als Band 9 in einer Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ herausgebracht, ausgewiesen für Kinder von 7 Jahren an. Ich las es bald danach.

In meinem 1964 begonnenen Leseregister steht es als Nummer 77, was wenig besagt, da die ersten 99 Titel aus dem Gedächtnis notiert sind, nicht etwa in der tatsächlichen Lesefolge wie ab 1964 (bis heute). Heute bin ich erstaunt, einen wie alten Eindruck dieser Schäfer Piel macht, der sechzig ist, also wohl jünger als ich im Augenblick. Er kommt auch in „Das Mädchen Heika“ (1966) noch einmal vor, das ich nie las. Hier aber, im Trompeterbuch, ist der Schäfer ein Genosse, Mitglied des LPG-Vorstands, der am Ende alles zum Guten wendet, was ohnehin zu keinem Zeitpunkt im Schlechten verharrte. Wen es, falls er zu diesem Büchlein nochmals oder erstmals greift, wundert, mit welcher Selbstverständlichkeit DDR-Pioniere Partisanen spielten und das mit durchaus vorhandenem Detailwissen, sollte das Zeitkolorit hinzudenken. Das noch junge Fernsehen der DDR strahlte in der für Kinder attraktiven Sendezeit nach Schulschluss ganze Reihen von sowjetischen Filmen aus, besonders viele über den Bürgerkrieg, sicher auch, ich erinnere mich aber nicht genau, über den Kampf gegen die Faschisten, wie ihn speziell Partisanen führten. Außerdem gab es, das betrifft nun damalige Lehrer und Pionierleiter, das berühmte „Handbuch für Pionierleiter“ mit unglaublichen Heldengeschichten von Partisanen und Partisaninnen, die sich opferten für Stalin.

Ich habe in diesem Wälzer über viel Jahre abgeweichte Briefmarken getrocknet und gepresst und deshalb all diese meist einspaltigen Geschichten gelesen und gekannt: wie Männer sich mit der Brust vor ein faschistisches Maschinengewehr warfen, um es zum Verstummen zu bringen, wie Frauen unter dem Galgen „Es lebe Stalin! Es lebe die Sowjetunion!“ in genau dieser Reihenfolge riefen. Partisanen waren Kindern Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre nichts Fremdes, ihre Vorstellungskraft Überforderndes. Die Pioniere bei Wellm, Schüler der vierten Klasse, deren Lehrerin im Krankenhaus liegt, weil sie am Blinddarm operiert werden muss (das dauerte neun Tage noch bei mir 1964 und bei Wellm auch schon), wollen ihren Pioniernachmittag nicht einfach ausfallen lassen. Sie kommen auf die Idee, Partisanen zu spielen, nachdem andere Vorschläge keine Mehrheit fanden. Als Partisanen attackieren sie die Schafherde, die der Schäfer Piel hütet und von den flüchtenden Tieren verletzt sich eines an einer Winteregge, ein Muttertier, und der Schäfer flucht und droht den Übeltätern Prügel an. Natürlich prügelt er nicht, aber immerhin: drohen durfte er. Ich hatte im ersten Schulhalbjahr 1959/1960 noch einen Lehrer, der tatsächlich auf die Finger schlug und deshalb bald unter aktiver Mitwirkung eines mir bekannten Schulrates entlassen wurde.

Im Buch gibt es einen kritikwürdigen Lutz, der seine Bonbons am liebsten allein isst und niemandem abgibt, der gern kommandiert und am Ende so etwas wie der Hauptverantwortliche ist für die dann doch eher harmlose Übeltat. Er tut sich auch schwer, seine Schuld zu gestehen, wozu er sich erst ganz zum Schluss vor der höchsten Autorität, der Klassenlehrerin aufrafft. Da aber ist die Geschichte längst in wunderbaren Bahnen. Denn die Pioniere übernehmen die Pflege des verletzten Mutterschafes und des Lämmchens, hüten beide sogar separat von der Herde nach den Angaben und Vorgaben des Schäfers. Das machen sie so sehr zu seiner Zufriedenheit, dass ihm die Idee kommt, ihnen die beiden Tiere zu schenken. Er macht den entsprechenden Vorschlag im LPG-Vorstand, das findet Zustimmung und die Kinder sind natürlich kinderbuchwürdig begeistert: „Die Mädchen klatschen in die Hände und tanzen vor Freude. Hermann wirft die Arme in die Luft.“ Diese Hermann-Rolle hätte ich nie übernehmen können. Unter den Kindern ist ein Mädchen, das Elke heißt, es gehört zum Gruppenrat und strahlt eine gewisse brave Vorbildlichkeit aus. Als Lutz, um den anderen seinen Mut zu zeigen, eine harmlose Ringelnatter erschlägt, nennt ihn Elke einen Tierquäler. Ich kann mich an dieses auch uns Kindern sehr geläufige Wort bestens erinnern.

Elke aber ruft: „Ich erzähl alles Fräulein Berger, wenn sie wieder da ist.“ Was sie natürlich nicht tut, denn Petzen, ich weiß gar nicht, ob es dieses Wort heute noch im aktiven Sprachgebrauch von Kindern gibt, das war eine der sieben kindlichen Todsünden. Im Gegenteil, Elke ist es am Ende, als Lutz, der Schafe-Jäger und Schlangentöter, sein Geständnis vor Fräulein Berger abgelegt hat, die sagt: „Schuld haben wir alle.“ Es gibt im Buch keinerlei stille Affinitäten zwischen Lutz und Elke und später, als für das 1979 erschienene Buch „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen“ Hanna Hormann ihren Beitrag zu Alfred Wellm zu Papier brachte, hieß es zusammenfassend über die frühen Kinderbücher: „... das Fehlen einer handlungsbestimmenden Zentralfigur, die ungenügende Beachtung des Typischen hatten stellenweise noch zu einem Illustrieren gesellschaftlicher Vorgänge und pädagogischer Ziele geführt. Jedoch in einigen Figuren … deutete sich bereits das erzählerische Talent Wellms an, lebensverbundene und wahrhaftige Menschen zu gestalten.“ Der Schäfer Piel diente der Autorin hierfür als ein Beleg. Dass die Kinder einer vierten Klasse alleweil mit dem Pionier-Halstuch unterwegs sein mussten, war sicher dem pädagogischen Ziel geschuldet. Meins jedenfalls habe ich nicht sonderlich oft tragen müssen.

Anneliese Löffler hat für NEUES DEUTSCHLAND übrigens auch Wellms letzten Roman „Morisco“ umfänglich besprochen. Sie schrieb unter anderem: „Mit wunderbar zu nennender Behutsamkeit wendet sich Wellm gegen eine Selbstverwirklichung, die nur Ansprüche für sich einfordert. Er plädiert für eine differenzierte Auseinandersetzung des einzelnen mit sich selbst sowie dafür, die Verbindung eines jeden mit der Gesellschaft der ganzen Menschheit zu erkennen.“ Wellm selbst hat seinen letzten Roman später seinen vorgezogenen „Wende“-Roman genannt, kann man verschiedentlich lesen, ich kenne die Originalquelle für diese Aussage leider nicht. Anneliese Löffler hat davon vermutlich bis heute nichts mitbekommen. Was die Gesellschaft der ganzen Menschheit sein soll innerhalb des vorgeblichen Plädoyers von Alfred Wellm, wusste vermutlich auch nur sie selbst. „Neue Bücher von Alfred Wellm fordern stets zum Dialog heraus“, behauptete sie in ihrem ersten Satz. Als das Politbüro des ZK der SED im Herbst 1989 für ein paar Tage und Wochen die „Politik des Dialogs“ für sich entdeckt hatte, war es schon zu spät, es ging da schon nicht mehr um ausverkaufte Brötchen in sozialistischen Kaufhallen, es ging ums Ganze. Und der ganze Sozialismus in den Farben der DDR hatte schlicht und ergreifend final ausgedient.


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