Hermann Sudermann: Fritzchen

Woran liegt es, dass allein die Nennung des Namens Reaktionen von der Art Pawlowscher Reflexe auslöst: Konfektion, Künstlichkeit, Kitsch seien hier nur drei der möglichen Stichworte, die sofort aus dem Register purzeln, in das Hermann Sudermann vermeintlich unverrückbar eingeordnet ist? Als ich vor Jahren zuerst „Die Reise nach Tilsit“ las, den „Litauischen Geschichten“ zugehörig und verschiedentlich auch in repräsentative Anthologien aufgenommen wie die in der DDR mit dem Titel „Kaisermanöver“ im Verlag der Nation erschienene, Herausgeber Fritz Böttger, war meine erste Reaktion tiefes Erstaunen, dass dieser Sudermann mich nicht nur einfach ansprach, sondern gar bewegte. Ein Kontrollblick in das schon in der Schulzeit gelegentlich genutzte Reclam-Buch „Deutschsprachige Literatur im Überblick“, immerhin 450 Seiten stark, ergibt eine Fehlanzeige. Der Name Sudermann kommt nicht ein einziges Mal darin vor. Dagegen ist die wuchtige „Deutsche Literaturgeschichte in einem Band“, fast ein Lehrbuch einst, immerhin zu acht vollen Druckzeilen über ihn gelangt, die in aller Knappheit den sozialkritischen Erzähler über den Dramatiker stellen.

Der Germanist Walter T. Rix, den verschiedene linke Internet-Foren wegen seines Engagements in Vertriebenen-Verbänden und -organisationen sowie vor Ort in ehemals ostpreußischen Regionen um Kaliningrad mehr oder minder eindeutig der „rechten Szene“ zuordnen, den aber der Stuttgarter Reclam-Verlag für kompetent hielt, Sudermann zu behandeln in seiner Reihe „Deutsche Dichter“, schrieb: „Sudermann als Dichter, so will es scheinen, ist nicht von den Wertungen seiner Kritiker zu trennen.“ Die Frage wäre, ob es tatsächlich so scheinen will, oder ob das eine billige Behauptung ist, eigene Arbeit am Text aufs hintere Ende einer langen Bank zu schieben. Rix selber verwendet dreieinhalb der elfeinhalb Seiten (davon ein ganzseitiges Porträt, zwei Seiten bibliographische Daten) auf das Referieren von Kritiker-Stimmen. Und kommt sehr rasch zu einem Ergebnis, das speziell Kenner der DDR-Literaturgeschichte zu verständnisinnigem Nicken bringen könnte. Der Kampf, fast Krieg, der Kritik gegen Sudermann war ein Stellvertreterkrieg. Man stilisierte ihn zum Phänomen eines Systems, das man ablehnte, und sah darüber vom tatsächlichen Sudermann ab.

Das aber erinnert tatsächlich an die Kämpfe um einen System-Goethe der offiziösen DDR, gegen den ein Alternativ-Kleist, eine Alternativ-Romantik, beide Seiten jeweils mit Wunschbild-Zügen, vor allem aber der System-Goethe als Popanz und Zielscheibe, installiert wurden. Und allein diese Parallele provoziert Neugier, welcher tatsächliche Sudermann möglicherweise hinter dem Popanz Sudermann als Zielscheibe stecken könnte. Mehr als ein erster winziger Schritt dahin kann hier natürlich nicht gewagt werden, veranlasst vom Neben-Jubiläum des 160. Geburtstages am 30. September. Der Blick fällt auf einen Einakter, den Sudermann selbst einst einem Zyklus zuordnete mit dem Titel „Morituri“, in dem „Fritzchen“ die Mitte einnahm zwischen „Teja“ und „Das Ewig-Männliche“, nur „Fritzchen“ hat jedoch Aufmerksamkeit und Nachwirkung gefunden, deren Betrachtung zu durchaus interessanten Einblicken führt. Beispielsweise hat Theodor Lessing als  Theaterkritiker, der dieser Profession später untreu wurde, seine Meinung innerhalb von zwei Wochen zwischen zwei Aufführungen in Göttingen fast radikal geändert zugunsten Sudermanns.

Dass die GÖTTINGER ZEITUNG ihrem Nebenberufs-Rezensenten Lessing überhaupt erlaubte, in so kurzer Zeit zweimal einen Theaterabend zu besprechen, der „Fritzchen“ mit Gerhart Hauptmanns „Hanneles Himmelfahrt“ koppelte, verdient gesonderte Erwähnung, selbst wenn es, was ich nicht ausschließen würde, eine nicht als solche gekennzeichnete „Richtigstellung“ einer vielleicht mit Leser-Protesten aufgenommenen ersten Schnell-Sicht war. Vielleicht war es auch eine verspätete Wortmeldung einer Zeitung in der mit viel Aufwand und noch mehr Heftigkeit geführten Debatte um Sudermanns 1902 erschienene Streitschrift „Verrohung in der Theaterkritik“. Walter T. Rix, der laut Programm der internationalen Konferenz „Zeitlose Namen. Hermann Sudermann“ gestern in Litauen zum Thema „Hermann Sudermann im Ausland: Übersetzungen und Filmadaptionen seiner Werke“ referierte (Partner unter anderem das Goethe-Institut Litauen) hat für die Jahre zwischen 1890 und 1900 mindestens 236 größere Arbeiten über Sudermann gezählt, Rezensionen dabei nicht eingerechnet, kleinere Polemiken und Miszellen ebenfalls nicht. Sein Fazit fällt 1999 klar aus.

„… und dennoch hat sich die Kritik bis heute noch nicht angemessen mit ihm auseinandergesetzt. Man hatte ihn schon vor dem Ersten Weltkrieg geistig beerdigt. Danach fiel er noch zu Lebzeiten praktisch der Vergessenheit anheim.“ Als Beleg, wie ungerecht und sachfremd das war, nennt Rix den späten Roman „Purzelchen“, von dem ich einst antiquarisch die Erstausgabe aus dem Jahr 1928 erwarb, Untertitel „Ein Roman von Jugend, Tugend und neuen Tänzen“. Die Erstauflage betrug übrigens 20.000 Exemplare, die J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger Stuttgart und Berlin definierte also Vergessenheit etwas anders als die Kritiker-Öffentlichkeit. Eine Else Schulz hat mit Tinte ihren Besitzvermerk aufs Vorsatzblatt gesetzt. Fünf Jahre älter ist die sechsbändige Edition „Dramatische Werke“ desselben Verlages, mein Exemplar wirkt trotz seines fast hundertjährigen Alters wie neu. „Fritzchen“ findet sich im dritten Band, hier betrug die Erstauflage natürlich nur 5000 Stück, wie ihr Verkauf lief, entzieht sich meiner Kenntnis. In „Fritzchen“ geht es um die Ehre, um die es auch schon in „Die Ehre“ ging, dem Sensationserfolg Sudermanns vom November 1889.

Den besprach mit einiger Verspätung im Mai 1893 auch Franz Mehring. Es ist übrigens seine einzige Kritik zu Sudermann, die Walter T. Rix 1999 kennt, obwohl es doch schon 1961 einen Band „Aufsätze zur deutschen Literatur von Hebbel bis Schweichel“ von Mehring gab, der nicht weniger als neun Auseinandersetzungen des Sozialdemokraten mit acht verschiedenen Sudermann-Stücken enthält. Philologische Akribie von Lehrstuhl-Inhabern sieht normalerweise anders aus. Die Ignoranz gegenüber der DDR galt eben noch in manchen Köpfen, als die DDR schon zehn Jahre gar nicht mehr existierte. Dabei hatte Franz Mehring eine klare Meinung: „Hermann Sudermann ist der erfolgreichste Theaterdichter der deutschen Gegenwart. Damit ist an und für sich zwar nicht viel gesagt, denn auf dem Gebiet des Theaters sind Erfolg und Verdienst längst nicht ein und dasselbe, Aber Sudermanns Erfolge sind nicht unverdient. Er besitzt ein schönes Talent, und er bemüht sich, ernsthaft mit den Problemen der Gegenwart zu ringen, wenn er auch im Allgemeinen über die Grenzen der kleinbürgerlichen Romantik nicht hinauskommt.“ „Fritzchen“ fehlt bei Mehring.

Fritz ist Leutnant und Sohn des Paares Richard und Helene von Drosse, der Vater Rittergutsbesitzer und Major außer Diensten, die Mutter kränkelt so, dass ihr alle die größtmögliche Schonung verordnet haben, was einschließt, auch alle Nachrichten, die vielleicht eine Aufregung verursachen könnten, von ihr fernzuhalten. Als das Stück beginnt, dessen Geschehen nur wenige Stunden an einem Sonntag umfasst, warten Eltern und die im Haus lebende Nichte der Familie auf Post von ihrem Fritzchen. In sechs Jahren Abwesenheit ist das noch nie vorgekommen. Die Nichte Agnes wartet nicht nur aus purer Gewohnheit wie die Eltern, sie wartet, weil sie ihn liebt. Der Mutter Helene ist gar schon eine gefälschte Depesche präsentiert worden, damit sie nur ja nicht auf Gedanken komme. Der Vater bereitet sich darauf vor, in der Kaserne selbst nach dem Rechten zu sehen. Weil er von sich und seinen jungen Offiziersjahren ausgeht, nimmt er verzeihliche Gründe an, die Fritz vom Schreiben abhalten. In dieser Richtung beruhigt er auch seine Gattin. Agnes ist im Besitz eines Briefes von einer Freundin, die solche Deutungen dann auch nahe zu legen scheinen.

Dann aber tritt ein Regimentskamerad und Freund von Fritz auf, fast konspirativ verabredet er mit Agnes, dass sie ihm zu einem festgelegten Zeitpunkt eine Nachricht in dem Gasthaus zukommen lässt, wo er genau darauf warten wird. Der Freund kündigt das baldige persönliche Erscheinen des von allen Vermissten und sehnsüchtig Erwarteten an. Und tatsächlich kommt der junge Leutnant fast unmittelbar danach. Und er bringt die fürchterliche Nachricht von seinem bevorstehenden Tod. Nur dem Vater sagt es das und auch das erst auf dessen Drängen. Fritz steht vor einem Duell, das er selbst nicht überleben wird, weil er es nicht überleben will. Er wird das Duell mit einem Ehemann haben, der ihn offenbar in flagranti mit seiner Frau, die doppelt so alt ist wie eben Fritz, erwischt hat. Der gehörnte Gatte hat ihn mit der Peitsche vom Hof verjagt, man darf den sehr vorsichtigen Andeutungen entnehmen, dass dies Fritz mehr als unvollständig bekleidet traf. Er hatte seinen Säbel nicht bei der Hand, den man zweifellos immer bei der Hand haben sollte, was dem Vater sofort ins Auge sticht. Rasch versteht der irritierte Vater, dass seinem Sohn tatsächlich nur ein Weg bleibt.

„Das Haus Drosse stand auf deinen Schultern, mein Sohn. - Du hast es in den Schmutz fallen lassen und möchtest jetzt wohl auch noch bedauert sein.“ Einen Moment hofft der Vater, der Ehrenrat möge, was der Sohn aber als schlimmste Möglichkeit sieht, das Duell gar nicht zulassen. Da versteht der Vater die Geschichte bis in ihre Konsequenz: die Ehre des Sohnes, die eigene Ehre auch, verlangen den Tod. Alle heißen Tipps, wie man ein Duell auf Pistolen übersteht, der Vater kennt es aus drei eigenen Fällen, sind nun nicht nur überflüssig, sondern Gedanken in die genau falsche Richtung. Fritzchen will sterben. Das aber dürfen weder die Mutter, die ihrer Krankenrolle alle Nuancen abgewinnt, noch die geliebte Agnes in dieser Klarheit erfahren. Richard von Drosse gibt seiner Nicht lediglich zu verstehen, dass sie Fritz nicht wiedersehen wird. Und die ahnungslose Mutter Helene erzählt weiter von ihrem Traum, in dem sie ihren Sohn inmitten zahlreicher Generale mit dem Kaiser persönlich sah. Hermann Sudermann überlässt Lesern und Theaterbesuchern eine schwebende Situation. Dem großen Theaterschauspieler Josef Kainz lieferte er eine Lieblingsrolle.

Das hat bis in „Reclams Schauspielführer“ gefunden: „Fritzchen, der Titelheld eines technisch brillanten Einakters, in dem ein kleiner Leutnant einen Ehebruch mit dem Leben büßen muss, war eine Lieblingsrolle von Josef Kainz.“ Günther Rühle schreibt über die Berliner Uraufführung der Trilogie: „Und auch diesem Sudermann wuchs – nun im Deutschen Theater – der Jubel zu. „Fritzchen“ nannte sich einer der Einakter, Kainz spielte einen jungen preußischen Leutnant, der dem Tod nahe ist. Er muss an diesem Abend das Publikum hingerissen haben. „Fritzchen“ wurde einer der größten Erfolge Sudermanns.“ Georg Witkowski äußerte noch 1913 im Rückblick: „Der Einakter „Fritzchen“, eingeschoben in den im Übrigen unbedeutenden Einakterzyklus „Morituri“ (1897), lässt einen weichen jungen Menschen durch den Mangel fester Kraft und die Starrheit des Ehrbegriffs in dem erzwungenen Berufe als Offizier zugrunde gehen, während er in stillem Glück sein Glück finden konnte. Der Vorgang ist im Innersten erfasst und ganz auf die Gefühlswirkung hin mit knappen Strichen, ebenso wie die Umwelt, höchst wirksam herausgearbeitet.“ Hohes Lob also.

Heute befremdet, wenn der Sohn im Stück vollkommen unironisch „Zu Befehl!“ sagt, einmal nutzt er diese militärische Gehorsamsformel sogar gegenüber der Mutter, die immerhin so viel vom Soldatsein weiß, dass sie sagt: „Der Soldat darf ja keinen Schmerz äußern“. Fritz aber fühlt den Schmerz der Peitschenhiebe ganz körperlich, liegen sie doch nur wenige Stunden zurück. Was also ritt Theodor Lessing, als er den Einakter sah: „Sudermanns Nervenaufkicherung in einem Akt, so wenig ein „Drama“, als es etwa ein Drama ist, wenn ich ins Theater eine Dynamitbombe lege und die Leute dann eine halbe Stunde zappeln lasse, ob das Ding nun losgehn wird oder nicht. Im „Fritzchen“ alles Plakatstil.“ Um es zwei Wochen später so zu sehen: „Fritzchen“ ist als Drama prachtvoll straff, einheitlich und vollkommen geschlossen.“ 1919, wenn auch nicht anlässlich eines „Fritzchen“-Abends, wütete Georg Britting in Regensburg, sah in Sudermann „den augenrollenden Plattheitenklimperer, den schmalzigen Talmipoeten, den gewiegten Kulissendonnerer, den Rampenmarlitt, den Courths-Mahler der Aktschlüsse“. Verrohung in der Theaterkritik? Natürlich.


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