Volker Braun: Provokation für mich

Was fängt man mit einer Quellenangabe an, die schlicht in die Irre führt und außerdem auch noch Lektorat und Korrektorat eines eigentlich für renommiert geltenden Verlags ein schlechtes Zeugnis ausstellt? Heinz Czechowskis Aufsatz „Bleibendes Landwüst“, in seinen Sammelband „Spruch und Widerspruch“ (Mitteldeutscher Verlag Halle/Saale 1974) aufgenommen, nennt als Quelle für den Erstdruck das Heft 8 der Zeitschrift Sinn und Form von 1973. Nun ist diese Zeitschrift leider in all den Jahren stets mit nur sechs Heften pro Jahr erschienen, eine Ausgabe für je zwei Monate. Man hat sich also sicherheitshalber an den Nachdruck zu halten, zumal, wenn man, wie ich hier, nur den Anfang zu zitieren beabsichtigt: „Lyrik, will sie nicht in den Gesprächen und Polemiken der Lyriker untereinander verwaisen, hat ihre Bewährung in der Wirkung, die sie an den Leser zu vergeben hat. Nun ist diese Wirkung allerdings nicht derart, dass Gedichte gleichsam von allen und jedem, zu jeder Zeit an jedem Ort rezipiert, gesprochen und durchdacht werden können.“ Heinz Czechowskis Aufsatz gilt der Lyrik Volker Brauns. Schonender wurde die Tatsache, dass Lyrik in der Hauptsache eine Sache für Lyriker ist und zwar mit steigender Ausschließlichkeit, wohl nur selten formuliert.
 
Volker Braun war in einer Hinsicht und für einen begrenzten Zeitraum ein scheinbar sofort ins Auge springendes Gegenbeispiel. Er schwamm, trieb mit, ritt oben, man mag sich nach Bedarf Passendes aussuchen, auf einem Phänomen, das rasch den Namen „Lyrik-Welle“ erhielt. Das Bild ist schief, denn Wellen, denen nichts Vergleichbares vorhergeht oder sich anschließt, gibt es nicht. Wellen schleudern Unrat an Ufer, Wellen haben bisweilen arg schmutzige Schaumkronen, Wellen reißen Unbedachten gern die Füße aus dem sicheren Stand. Die Lyrik aber, von der die Rede ist, folgte zu Beginn der sechziger Jahre einem Vorbild, ohne schlicht ein Ausläufer dieser leicht zeitversetzt früheren Lyrik-Welle zu sein. Da nun in der DDR fast alles leicht zeitversetzt folgte, selten bis nie selbst voranging, darf man die Originaltät der DDR-Lyrik-Welle nicht überbewerten. Kleinzureden ist sie freilich ebenso wenig. Der am 7. Mai 1939 in Dresden geborene Volker Braun jedenfalls ist repräsentativ, das wurde von Beginn an genau so gesehen und genommen. Und wenn bisweilen vom hohen Ross mit eingeschränktem Horizont gefragt wird, ob es denn eine DDR-Literatur gab und überhaupt geben konnte, ist dieser Sachse die fast idealtypische Antwort: es gab sie natürlich.
 
Man muss auch gar nicht erst dreißig Lehrstuhlinhaber befragen: DDR-Literatur und ihre Autoren und Autorinnen unterscheiden sich von anderen deutschsprachigen Literaturherstellern über ein sehr einfaches und unzweifelhaft signifikantes Merkmal, sie wird von DDR-Lesern aus dem Stand und ohne jede Erläuterung nicht nur verstanden, sondern sogar dort verstanden, wo ihre Leerstellen zwischen den Zeilen stehen. Während die gleichen Vorlagen andernorts ganze Glossare benötigen und sich zum Teil für DDR-Leser fast unfassbar dämliche Fragen gefallen lassen müssen, die im eigenen Dunstkreis kaum geduldet würden. Volker Brauns erster Gedichtband „Provokation für mich“ aus dem Jahr 1965 erlebte nur zehn Jahre später bereits seine fünfte Auflage. Er enthält hinten ein paar Anmerkungen und Erläuterungen, die auch DDR-Lesern ein wenig, nicht immer, auf die Sprünge halfen. Und sie sind zugleich auf spezielle Weise typisch für die DDR und ihren von der Zensur gesteuerten Literaturbetrieb: ein Verweis auf Reiner Kunze ging noch gerade so durch, das Gedicht „Einer“ betreffend. Ein ganzes Gedicht, das Unperson Wolf Biermann in den lyrischen Dialog zieht, muss man in diesem Bezug ohne Hilfestellung erkennen, es heißt „So muss es sein“.
 
Welcher Erfolg darin gesehen werden muss, dass dieses Gedicht mit diesem Bezug überhaupt in diesem Debüt-Band zu finden ist, kann hier nicht erörtert werden. Immerhin: in der rollenden und ausrollenden Lyrik-Welle trieben Biermann (Jahrgang 1936) und der drei Jahre jüngere Braun noch mit- und nebeneinander. „Nachricht von den Liebenden“ heißt ein rarer Gedichtband, den 1964 Gisela Steineckert herausgab und der neben drei Gedichten Brauns sogar vier von Biermann enthält.
In der „Auftakt 63“ genannten Sammlung von „Gedichten mit Publikum“ finden sich zwei Braun-Gedichte, im Nachfolge-Band „Auswahl 64“ ebenfalls zwei. Und hinten die sehr winzig gedruckte Fußnote: „Leider erhielten wir von Wolf Biermann nicht die Zustimmung zum Abdruck seiner Gedichte „Wartet nicht auf bessere Zeiten“ und „Der Volkspolizist“, die er auf dem IV. Lyrikabend am 2. Dezember 1963 in Berlin vorgetragen hatte.“ Auch hier müsste man sich in die Vorgeschichte vertiefen, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. In „Auftakt 63“ steht zu Volker Braun: „Nach dem Abitur Tiefbauarbeiter und Maschinist im Kombinat Schwarze Pumpe. Jetzt Studium der Philosophie an der Karl-Marx-Universität, Leipzig.“ Ergänzung ein Jahr später: „1964 Kunstpreis der Freien Deutschen Jugend“. Ein Preis also schon ganz am Anfang der Laufbahn.
 
Wie liest man 2019 Gedichte aus den ersten 15 Jahren eines vor nunmehr 30 Jahren zugrunde gegangenen Staatswesens? Verfasst von einem noch sehr jungen Mann, der auf seinem Foto in „Auftakt 63“ fast mädchenhaft wirkt um den Mund herum, der ein Jahr später in „Auswahl 64“ die Stirn in Falten zeigt, nachdenklich, erstaunt, skeptisch. Überhaupt die Fotos in beiden Bänden! Sie dokumentieren, was jene „Lyrik-Welle“ auch war: eine sehr offizielle Veranstaltung: im Publikum ein Minister, ein Politbüro-Mitglied. Da musste und muss man sich kaum wundern, wenn allein das Wort „Provokation“ schon eine solche war, wie eben auch der „Widerspruch“ nicht einfach nur eine von Hegel erborgte Kategorie des Dialektischen und Historischen Materialismus, sondern zugleich ein Wort für etwas, was Obrigkeitsstaaten aller Art und Farbe nun gar nicht mögen. Theoretisch bringen Widersprüche die Entwicklung voran, gibt es gar keine Entwicklung ohne Widersprüche, praktisch aber, im Alltag, wird Widerspruch kaum geduldet. Während der Lyrik-Welle hatte die von den Dichtern selbst vorgetragene Lyrik, nicht selten mit Jazz-Musik kombiniert, Zuspruch von Massen wie nie vorher und nie nachher. Sie wurde bald Sache für Wohnküchen in Hinterhäusern.
 
Volker Braun hatte einen Vorteil, den es heute für Lyrik nur noch sehr selten gibt: man nahm ihn wichtig, man nahm ihn ernst. Was Dirk von Petersdorff nicht davon abhielt, den Namen Braun in seiner vermeintlichen „Geschichte der deutschen Lyrik“ (Reihe C. H. Beck Wissen) nicht einmal zu erwähnen. Wer in der Tradition gegenstandsloser Malerei und konkreter Poesie aufwuchs, hat für das, was stolze Unbelehrbare Inhalt nennen, einfach kein Sensorium. Ihm ist noch das blödeste Experiment wichtiger als alles, was jemand umstandslos verstehen könnte. Die Folge ist allgemein bekannt: Lyriker schreiben für sich selbst und ihre eigenen Vorstellungen von schönen, auch typographisch schönen, Büchern. Das macht sie elitär und lebenslang auf einen Lyrik-Betrieb angewiesen, der ununterbrochen Preise, Stipendien, Studienaufenthalte und Schreiberstellen auswirft, damit sie nicht dem Sozialamt auffällig werden. Und keineswegs wäre die andere deutsche Alternative Kristiane Allert-Wybranietz. Was in Summe hier natürlich nicht persönlich gegen Dirk von Petersdorff gerichtet ist. Wirklich prächtig aber ist die DDR-interne Aufnahme Brauns, denn jeder neue Gedichtband von ihm produzierte Lobesworte, die immer auch „Provokation für mich“ indirekt und wie in ungewollter Nebenwirkung abwerteten und herabstuften. Forschungsthema?
 
Beispiel 1: „Später, aus gehöriger Entfernung, wird man unbefangener und sicherer bestimmen können, wie erheblich der Schritt wirklich bist, den Volker Braun mit seinem neuen Gedichtband vollzieht; mir will er vorerst, nach vielfacher kritischer Lektüre, groß erscheinen.“ Die Rede ist von „Training des aufrechten Gangs“, der Autor Hans Richter. Beispiel 2: „Dieser kleine, 1974 erstveröffentlichte Band, der inzwischen in dritter Auflage erschien, markiert zweifelsohne eine entscheidende Etappe in der  Entwicklung von Braun.“ Die Rede ist von „Gegen die symmetrische Welt“, der Autor Claude Prévost. Beispiel 3: „Dieser Band markiert für den Dichter einen wichtigen Entwicklungsschritt.“ Die Rede ist von „Wir und nicht sie“, die Autorin Ursula Reinhold. War also Volker Braun in seinen jüngeren Jahren einer, der nicht nur auffallend oft die Vokabel Fortschritt benutzte, sondern selbst gewissermaßen der lyrische Fortschritt in Person? Glaubten gar manche der Kritiker in aller Stille und Heimlichkeit an eine Permanenz der Revolution im literarischen Schaffen als Qualitätskriterium? Dann hätte auch angelegentlich listig ein Trotzki-Zitat versteckt werden müssen, denn wer b sagt, muss a mit gemeint haben. Am Anfang war die „Provokation für mich“.
 
Wer sie heute im Zusammenhang liest, muss erstaunt feststellen, dass die Frau in diesen Gedichten, wenn sie denn überhaupt in den Vers gerät, Fleisch, Leib oder Schenkel ist, pure Körperlichkeit. Diese Gedichte sind, so revolutionär sie tun, in dieser zentralen Hinsicht ganz herkömmlich männlich, für bestimmte Berliner Schulwände wären sie gar sexistisch, würden sie dort zitiert. Wer sie heute im Zusammenhang liest, muss erstaunt feststellen, dass sie einen geradezu unfassbar unreflektierten Technik-Optimismus transportieren, für den Reaktoren bestenfalls unterm Aspekt von Rentabilität eine Rolle spielen, für den Chemie die Möglichkeit bietet, „fast ohne Kohle / Riesige Plastikwerkstätten am Leben zu halten“. Brauns Gedicht „Treibfahrt“ hat nicht nur die schöne, vielleicht beschönigende Zeile  „Die Schlote färben oben ab“, es erinnert auch daran, dass es früher Sperren in Bahnhöfen gab, die man nur mit einer Bahnsteigkarte durchqueren durfte, wenn man nicht mit einer vollgültigen Fahrkarte ausgestattet war. Auch die lyrische Kraftmeierei, auch der große Atem, der ausgepresste, kommen aus sehr profaner Zeitverhaftung. Wir wissen nun, dass Jazz nicht die Musik der Zukunft geworden ist, und nicht nur, weil eben nicht jeder ein Schöpfer ist.
 
Wohl sind einzelne, sehr wenige einzelne Gedichtzeilen aus diesem Debüt-Band wieder und wieder zitiert worden, vor allem „Kommt uns nicht mit Fertigem! Wir brauchen Halbfabrikate.“ Das klingt für sich genommen noch ganz gut, aber schon die Zeile „Hier herrscht das Experiment und keine steife Routine“ führt in unausgegorene Denkwelten. Welten ohne Routine sind einfach keine, das Experiment bestenfalls Weltelement oder Weltferment oder beides und warum, bitte, muss denn die Routine auch gleich noch eine steife sein? Was schließlich, soll die Behauptung „Das Leben ist kein Bilderbuch mehr, Mister“? War die Welt je irgendwo ein Bilderbuch, eines für Mister gar, nicht eines für Towarischtschi? Immerhin muss „Hier ist der Staat für Anfänger, Halbfabrikat auf Lebenszeit“ den führenden Genossen fast unweigerlich in die falsche Kehle fahren, ihnen, denen von Parteitag zu Parteitag, von Plenum zu Plenum die Welt immer herrlicher wird, der Sozialismus immer sozialistischer, der Plan immer erfüllter und übererfüllter. Wir finden im frühen Braun-Gestus in diesem Buch kaum verhüllte Attitüden eines Anti-Establishment-Denkens Westlinker, die ihr internes Feindbild an Äußerlichkeiten schulten: „Mit blankem Schuh, gesteiftem Hemd“.
 
Natürlich geht „Provokation für mich“ in diesen Einzelzügen nicht auf. Denn es gibt überraschend unprätentiöse Reminiszenzen an die Vernichtung Dresdens durch anglo-amerikanische Bomben, die freilich nicht genannt werden. Es gibt die sehr eindringliche und den dunkelsten oder einen der dunkelsten Punkte des real existierenden Sozialismus in den Farben der DDR frühzeitig markierende Frage: „Darf auch nur ein Mensch / Verlorengehn? // Hier?“ Die klarste Antwort auf diese Braun-Frage gab die Partei- und Staatsführung 1989, als sie den Ausreisenden nachrief: „Wir weinen ihnen keine Träne nach.“ Die Entwicklung bestätigte ebenfalls 1989 Brauns „Die Mauer wird museumsreif“, und wies im gleichen historischen Atemzug die Folgezeile „Durch Sozialismus fließt der Rhein“ für längeren Sicht in die Mottenkiste. Auch Biermann hat mit seiner von Braun gewendeten nassforschen Prognose „So oder so, die Erde wird rot“ ja nicht eben historischen Weitblick bewiesen. Die Geschichte führte im Wege einer friedlichen Revolution, wie das bis heute gern genannt wird, zwei Männer wieder nebeneinander, die vielleicht gar nicht mehr einander in Erinnerung gerufen werden wollten. Nein, „Die volle Wahrheit sagt man gleich“ ist kein guter Vers.
 
Zu forsch klingt mir heute das „Wir“, in das sich Volker Braun damals fast anmaßend einbezog, zu sehr als Popanz das „Ihr“ von dem er sich, im „Wir“ versteckt, absetzen möchte. Manchmal, will mir scheinen, verrät er mehr von sich, als ihm vielleicht selbst bewusst ist: „Es ist zu viel möglich / Ich trau mir nicht“. „Allem verhaftet“ heißt das Gedicht und es ist denkbar, dass es ein Gedicht über die Schere im Kopf ist, die viel beschworene DDR-Schere, die der öffentlich-geheimen Zensur so manche Arbeit abnahm. „Könnt ich die Augenblicke leben“ beginnt das Gedicht „Die Augenblicke“ das ist bei einem, der seinen ersten dramatischen Versuch „Hans Faust“ nannte, natürlich eine These gegen den, der seine Seele verpfändete mit einem Satz, der dem Augenblick höchste Bedeutung beimaß. Ein Gedicht wie „Gagarins Flug“ wird jedem, der sich (im Osten) an Juri Gagarin erinnert, die Begeisterung vor Augen rufen, die es 1961 gab. Und es wird heute (in Gesamt-Deutschland) vielleicht viele daran erinnern, was ein FC Bayern der Weltpolitik, Onkel Sam, tut, wenn ein Dortmund zwei Meisterschaften und einen Pokal in Folge gewinnt: das Imperium schlägt zurück. Danach gibt es einen Dauer- und Serienmeister allein, der mit der Mondlandung nur beginnt.
 
1972 legte der Leipziger Reclam-Verlag als Band 51 seiner Universal-Bibliothek „Gedichte“ von Volker Braun auf. Die Sammlung fußt auf den Bänden „Provokation für mich“ und „Wir und nicht sie“. Das Herausgeber-Paar Christel und Walfried Hartinger, ausgewiesene Lyrik-Experten in der DDR, sortierte die Gedichte chronologisch und stellte sie damit, wenigstens teilweise, in neue, in andere Zusammenhänge als in den zyklisch geordneten Quellen-Bänden. Es lohnt sich, die dem Debüt entnommenen Gedichte in der zeitlichen Ordnung neu zu lesen. „Mitteilung an meine bedrückten Freunde“ eröffnet die Reclam-Sammlung insgesamt, in „Provokation für mich“ lediglich das Kapitel „Provokationen“. An beiden Stellen natürlich der anmaßliche Ton des Jahres 1959: „Und ihr seid auf mich angewiesen: denn ihr / Könnt ja nicht sprechen, nein, ihr / habt keine Worte“. Eine sehr spezielle Sicht auf das Ost-Westverhältnis der beiden deutschen Staaten gibt es in „Liebesgedichte für Susanne M. in Flensburg“, drei an der Zahl sind es. Da sieht das Ost-Auge sogar hautenge Strümpfe als Makel, den Blick in die Reklame als blödsinnig sorglos. Im einst berühmten Gedicht „Bericht der Erbauer der Stadt Hoywoy“ folgt eine mich überraschende Zeile.
 
„Die berühmten Häuser setzten wir bald mit der linken Hand zusammen.“ Da von Hoyerswerda die Rede ist, ist das vielleicht ein Fingerzeig auf eine Dame namens Franziska Linkerhand, die just in und an dieser Stadt baut in einem der wichtigsten DDR-Romane. „Der Fortschritt rutscht nicht auf dem Knie“ heißt es in „So muss es sein“, dessen Titel bei Reclam 1972 um die in Klammern gesetzte Erklärung ergänzt ist „nach Béranger“. Was den Schatten Biermanns natürlich nicht aus den Versen eliminierte. Nie vermutlich sind Literaturkritiker aufgefordert worden, das Messer in die Nachtigallen zu hauen, Volker Braun macht daraus eine der „Zueignungen zu: Vorläufiges“. Diesen Titel „Vorläufiges“ trägt übrigens der zweite, bei S. Fischer im Westen erschienene Lyrik-Band Brauns, dessen Erscheinungsort Christel und Walfried Hartinger in ihrem Braun-Beitrag für den ersten Band von „Literatur der Deutschen Demokratischen Republik. Einzeldarstellungen“ dezent ausklammern. Klammern wir hier auch etwas aus, dann die missratene Bildlogik des Kleingedichts „Messerscharf ist die Wahrheit“. Und vielleicht die alberne Idee gleich mit, dass übergroße Türen in Häusern der Zukunft für den Eintritt von Welt sorgen, kleine Türen dagegen auf Kriecher deuten.
 
Der Dichter Günther Deicke, Jahrgang 1922, lieferte 1972 für den Aufbau-Band „Liebes- und andere Erklärungen. Schriftsteller über Schriftsteller“ einen Text mit dem Titel „Auftritt einer neuen Generation“. Er ist Volker Braun gewidmet und gehörte in den DDR-Jahren zu den am häufigsten bemühten, wenn es irgendjemandem um Braun ging. Zwar operiert Deicke mit einem untauglichen Generationsbegriff, das aber tun andere, Achtung Kalauer, seit Generationen auch. Man muss nur kurz versuchen, sich Paul Wiens und Günter Kunert sich als Angehörige einer Generation zu denken, wie Deicke es tut, um zu sehen, worin das Problem steckt. Deicke hat, und das sollte uns noch heute stutzig machen, mehr bleibende und gescheite Sätze über Braun zu Papier gebracht als die hochoffizielle Literaturgeschichtsschreibung der DDR in Summe. Weswegen man natürlich seine sonstigen Urteile über Deicke nicht umgehend zu revidieren hat. Und der schrieb: „Sein erster Gedichtband, „Provokation für mich“, war ein Paukenschlag: Majakowski zog in unsere junge Lyrik ein; Hölderlin hatte Karl Marx gelesen … da gab es Gedichte, die zogen daher wie Kolonnen zur Demonstration … diese Gedichte waren literarisch anspruchsvoll, ohne ästhetisch verstiegen zu sein“. Von Braun selbst gibt es im Band übrigens weder eine Liebes- noch eine andere Erklärung.


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