Günter Kunert: Zu Besuch in der Vergangenheit

„Mit dem Anfang beginnen: das schreibt sich leicht hin. Aber wo fängt der Anfang an? Untersucht man das einfachste Unternehmen, wo hebt es an, wo hört es auf, verwandelt es sich und verliert seine Einfachheit wie gottbehüte der Schmetterling den Flügelstaub oder der Mensch seine Naivität im Lauf seiner Erfahrungen.“ So beginnt Günter Kunerts Buch „Die Geburt der Sprichwörter“ (Wallstein Göttingen 2011). Und so das deutliche schmalere „Zu Besuch in der Vergangenheit“ (Verlag Thomas Reche, Passau 2002): „Das Sprichwort lügt. Richtig müsste es heißen: Aller Anfang ist leicht. Die Schwierigkeiten setzen erst später ein und häufen sich sodann. Jedenfalls beim Schreiben. Weil man beim Schreiben mehr und mehr die Naivität verliert. Die literarischen Kenntnisse erweitern sich. Schlimmer noch: Das Bewusstsein einer außerordentlich unnatürlichen Tätigkeit nimmt zu und sucht dessen mit einer, ich fürchte alibiartigen Reflexion Herr zu werden. Doch nichts hilft. Man ist auf einen Zug aufgesprungen, dessen Lokomotivführer längst ausgestiegen ist.“ Kunert hat, scheint es, eine gewisse Vorliebe für Reflexionen über Anfänge. Ich stelle ein Zitat aus der legendären „Sesamstraße“ dazu: „Du bis der Anfang, Anfang, du fängst an.“

Als ich „Zu Besuch in der Vergangenheit“ zuerst las, es war am 15. April 2004, las ich es als 45. Kunert-Titel seit dem 15. Juni 2003 (Auftakt „Der Sturz vom Sockel“, Hanser München 1992), weitere neun Titel folgten, so dass ich in rund einem Jahr 54 Bücher, schmale natürlich darunter, eines einzigen, meines lange unbestritten liebsten Autors, ins Lese-Register einschreiben durfte. Nie vorher und nie nachher kam ich auch nur in die Nähe einer so umfassenden Kenntnisnahme eines einzigen Dichters in so kurzer Zeit. Und genau deshalb, so sehe ich es heute, hatte ich mit diesem Band 37 der Reihe refugium gewisse Schwierigkeiten. Mein Exemplar trägt die Nummer 291 von 300 arabisch nummerierten Exemplaren und ist von Kunert selbst wie auch von Illustrator Kurt Löb signiert. Ich zitiere, ehe ich fortsetze, von der vorletzten Seite des Buches: „Längst weiß ich, dass die Daseinsberechtigung eines Dichters, eines Schriftstellers über sein Ableben hinaus, nicht durch Devotion bedingt wird, vielmehr durch den kritischen Umgang mit seiner Hinterlassenschaft.“ Wäre das so selbstverständlich, wie es klingt, hätte es Kunert nicht aufschreiben müssen, das Nachreden von Banalitäten war nicht seine Sache. Im Buch aber geht es, außer um Kunert selbst und seine Anfänge, seine Schreibanfänge natürlich, vor allem um Johannes R. Becher und Bertolt Brecht.

Das Gegenteil von Devotion ist nicht Demontage, auch wenn das öfter geglaubt wird: Manche werden derart häufig vom Sockel geholt und/oder entstaubt, dass man sich nur wundern kann, wie sie es zwischendurch jeweils wieder hinauf auf den Sockel und unter den Staub schafften. Und als Kunert 1997 seine Erinnerungen unter dem Titel „Erwachsenenspiele“ bei Hanser in München erscheinen ließ, zwei Jahre später folgte die ungekürzte Taschenbuchausgabe bei dtv München (Band 12672), gab es einige heftige Reaktionen, Klarstellungen und sogar Dementis, vor allem Hermann Kant war zwischenzeitlich die Empörung selbst bezüglich verschiedener Behauptungen. Mir fiel damals unter anderem auf, dass sprachlich-stilistische Brüche in den Erinnerungen den Verdacht aufkommen ließen, Kunert habe auf schriftliche Zuarbeiten zurückgegriffen, ohne das kenntlich zu machen. Meine Vermutung hatte sogar ein Gesicht: Marianne, deren Name dutzendfach in den Widmungen aller Bücher Kunerts erscheint, solange Marianne, die Gattin, lebte. Es wäre keine Schande, nicht einmal ehrenrührig. Die heftige Nicht-Reaktion Kunerts, als ich mich bei ihm danach zu erkundigen suchte, deutete ich mir damals als Bestätigung meines Verdachts.

Zwischen dem, was in „Zu Besuch in der Vergangenheit“ steht und vom Verlag seltsamerweise „Erzählung“ genannt wird, und Passagen der „Erwachsenenspiele“ gibt es sehr starke wörtliche Übereinstimmungen. Es wäre eine Aufgabe, der ich mich entziehe, Satz-für-Satz-Vergleiche zu unternehmen. Immerhin will ich anmerken, dass herkömmlich unter Erzählung eine Form fiktionaler Prosa verstanden wird, während es hier vollkommen klar um tatsächliche Ereignisse, historische Personen und nicht selten nachprüfbare Fakten geht. In den kurzen biografischen Notizen „Über den Autor“ wird die Autobiographie „Erwachsenenspiele“ wohl erwähnt, mit keinem Wort aber, dass „Zu Besuch in der Vergangenheit“ eine weithin wörtliche Übernahme darstellt. Mir geht es um die erzählten Anfänge des Dichters, um die Förderer Becher und Brecht, und in welchem Licht Kunert sie erscheinen lässt. Denn das umfangreiche Werk Günter Kunerts erlaubt es, mehrere Umgänge mit Becher und Brecht heranziehen zu können, zu unterschiedlichen Zeiten entstanden, für unterschiedliche Kontexte überhaupt erst geschrieben. Und da zeigen sich teilweise erheblich andere Akzente. Noch vorher wäre einiger teilweise krasser sachlicher Fehler zu gedenken.

Das beginnt bei einem falschen Namen, der an eine Art Freudschen Verschreibens denken lässt. Kunert erzählt, wie er den in der Ruine des Hotels „Adlon“ in Berlin kampierenden Brecht aufsucht und zunächst auf Theo Lingen trifft: „Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich war verblüfft. Über die etwas verzwickten Familienverhältnisse Brechts wusste ich nicht Bescheid. Lingen hatte, man hörte später davon, Brechts erste Frau, die Opernsängerin Jutta Zoff, geheiratet und sie somit vor der Deportation gerettet.“ Das ist fast wie beim Sender Jerewan. Brechts erste Frau war tatsächlich Schauspielerin und Opernsängerin, hieß allerdings keineswegs Jutta, sondern Marianne, just so, wie Kunerts Frau hieß: Marianne. Marianne Zoff (20. Juni 1893 – 22. November 1984) war ein volles halbes Jahrhundert mit Theo Lingen verheiratet, der sogar Brechts Tochter mit Marianne, bekannt als Hanne Hiob, adoptierte. Mit der Heirat schützte Lingen Zoff keineswegs vor der Deportation, denn 1928 wurde noch niemand deportiert. Später schützte seine Beliebtheit bei Goebbels Theo Lingen vor Repressionen wegen des nach den Rassegesetzen von 1935 geltenden Status seiner Frau als Halbjüdin. So weit, so schlecht. Als Kunert das aufschrieb, hätte er das besser wissen können.

Kurioserweise fehlt in „Erwachsenenspiele“ die Gattinnen-Geschichte, Kunert muss sie also aus unerfindlichen Gründen so falsch in seinen sonst fast kopierten Text nachträglich eingefügt haben. Übernommen ist die falsche Verwendung der Kürzel GI und IM aus dem Reservoir der Stasi-Abkürzungen. IM, man muss es bis heute in regelmäßigen Abständen immer wieder betonen, hieß eben nicht „Informeller Mitarbeiter“, sondern „Inoffizieller Mitarbeiter“ und „GI“ war kein „Geheimer Informant“, nur sachlich war es es, sprachlich aber war „GI“ ein „Geheimer Informator“, das konnte man 1997 wie fünf Jahre später an zahlreichen Stellen bequem und eindeutig nachlesen. „Informator“ war zudem kein spezieller Stasi-Begriff, in hauptamtlichen SED-Kreisleitungen etwa hießen Informatoren jene Mitarbeiter, die aus den einlaufenden Berichten der untersten Ebenen die Berichte für die höheren Ebenen destillierten, dabei meist schon verfälschend und beschönigend. Kunert meint, wiederum aus unerfindlichen Gründen, die Ersetzung von „GI“ durch „IM“ seinen Lesern erklären zu müssen mit dem Hinweis, „weil das Wort geheim belastet und nicht euphemistisch genug war.“ Das ist, mit Verlaub, purer Unfug, die Kürzel waren ja reine Interna.

Womit ein weiteres Ärgernis des Buchs bereits angedeutet ist: Kunert vermischt Zeit- und damit auch Wissensebenen. Wenn er zum Beispiel sein Bekanntwerden mit Johannes R. Becher schildert, erwähnt er übereinstimmend in „Erwachsenenspiele“ und in „Zu Besuch in der Vergangenheit“, dass Becher ihm ein begeistertes Telegramm schrieb, nachdem er Kenntnis von den Gedichten genommen hatte, die ihm Kunert an der Garderobe in die Hand drückte im Club in der Jägerstraße, wo Becher sein Büro hatte. Wie die Begeisterung formuliert war, enthält Kunert seinen Lesern vor. Er hätte schreiben können: das Formular ging mir verloren, wenn er es nicht mehr zur Verfügung hatte, sonst aber hätte er zitieren müssen. Dafür gibt er den Brief vom 20. Januar 1950 wieder, dem Folgetag nach dem Telegramm, der deutlich weniger euphorisch klingt. Immerhin sorgte Becher fast sofort dafür, dass Kunert seinen ersten Band „Wegschilder und Mauerinschriften“ vorbereiten konnte. Und auch für einige Vorab-Drucke einzelner Gedichte. In seine Darstellung bezieht Kunert Bechers Tagebuch 1950 „Auf andere Art so große Hoffnung“ ein, nicht nur legitim wegen der berühmten Stellen über Kunert. Freilich wäre ein Hinweis wichtig gewesen, wann das Tagebuch tatsächlich erschien, nämlich erst deutlich später. Es ist Lilly Becher gewidmet, 27. Januar 1951.

In „Erwachsenenspiele“ ist das deutlich korrekter erzählt, dort fehlt der Hinweis auf das ein Jahr später gedruckte Becher-Tagebuch nicht, im Verlag Thomas Reche aber häufen sich irritierende Fehler: der Titel des Tagebuches ist vollkommen unsinnig wiedergegeben, die Sätze über Kunert schrieb Becher gerade nicht 1951. In späteren Ausgaben hat es ein verlässliches Register, man kann genau sehen, wann Beche, was schrieb, kann überprüfen, was Kunert zu seinen Gunsten zitierte, was nicht, und wann die Erwähnungen schließlich aufhörten. Hätten Kunerts Verlage für seine Erinnerungen wenigstens ein Personenregister erstellen lassen, wäre die Suche nach Namen und Zusammenhängen deutlich leichter noch heute. Kunert ist es in beiden Fassungen der Geschichte wichtig, Becher abstoßend zu schildern, „ein Bulldoggengesicht mit Brille, unwirscher Miene“, später vergleicht er ihn ausgerechnet mit Friederike Kempner. Deren Name falsch angegeben wird: Kemper, statt Kempner. In „Erwachsenenspiele“ fehlt der Name, ist also eine nachträgliche, zusätzlich herabwürdigen sollende Ergänzung des Urtextes. Möglich, dass ihm beim Nachlesen der Becherschen Notate nachträglich und neu der Ärger hochkam darüber, die Becher ihn beschrieb.

Kunert musste, wenn man weiß, wie wichtig ihm sein damaliges Outfit mit den vielen aufgesetzten Taschen war, zutiefst beleidigt sein, wenn er las, wie sich Becher geradezu lustig machte darüber: „Begegnung mit Kunert. Schlecht gekleidet, beinahe grotesk schlecht, mit eckigen, verlegenen Bewegungen, verhungertes Vogelgesicht. Solch ein Jüngelchen, Bübchen, und solch ein Dichter.“ Das findet sich unter dem 24. Januar 1950, fünf Tage nur nach der allerersten Begegnung, sechs Wochen vor Kunerts 21. Geburtstag, der genau heute 70 Jahre zurück liegt. Jüngelchen mag noch angegangen sein, Bübchen aber einem, der nicht verriet, dass seine Lieblingsdichter Edgar Lee Masters und Carl Sandburg hießen, er hat ihnen später Porträtgedichte gewidmet. Seine Teilhabe an der Verfilmung von Bechers stark autobiographischem Roman „Abschied“ (ich hatte ihn als Schullektüre zu lesen) stellt Kunert als späte Dankabstattung an den schon zehn Jahre toten Becher dar. „Kein anderer, so wollte es die Witwe, als ich, der Grashüpfer als Bechers Protegé, als der von ihm entdeckte, aus der neuen Wirklichkeit stammende Dichter, sollte das Szenarium schreiben. Ahnungslos bestellte sie sich ein politisches Desaster.“ Und wieder Ärgernisse für den Kenner.

Aber nicht nur für den Kenner, auch für alle, die sich über dumme, wohl dem Verlag und seinen schlechten Korrektoren anzulastende Fehler ärgern. „Seine Witwe, wie jede Schriftstellerwitwe eine erynnienhafte Propagandistin des ererbten Werks, setzte durch, dass Bechers Roman „Abschied“ verfilmt werden sollte.“ Nun sind Erinnyen, so wird es korrekt geschrieben, rasende Furien, Rachegöttinnen, das Bild ist, mit Verlaub, schiefer als schief. Und findet sich, langsam darf das Erstaunen größer werden, nicht in „Erwachsenenspiele“, ist also abermals eine nachträgliche, dem Text wiederum schädliche Hinzufügung. Was ritt Kunert, als er „Zu Besuch in der Vergangenheit“ separat neu drucken ließ? Über die Angaben, worum es ihm Roman eigentlich geht, darf man streiten, ich meine, Kunert hat gravierende Dinge nicht benannt. Wie es im Film letztlich wurde, weiß ich nicht mehr, die Erinnerung an die splitternackte Heidemarie Wenzel, Kunert nennt den Namen der jungen Mimin nicht, die Lotte Ulbricht so in Aufregung versetzte, überlagert den schwarzweißen Rest in der Regie von Egon Günther. Damals waren DEFA-Nackte fast so selten wie im katholisch-prüden Westen. Warum aber kam Lily Becher zehn Jahre nach dem Tod ihres Gatten auf Kunert, der schon früh in erste Ungnaden fiel und angeblich keinen Kontakt mehr hatte?

Das würde heute interessieren und hätte wohl auch 1997 und 2002 schon interessieren können. Vielleicht nutzt ja ein MDR, ORB oder anderer Sender, den 75. Geburtstag Heidemarie Wenzels am 7. Juli, um sie den alt gewordenen Fans noch einmal in junger Nacktheit zu präsentieren, Wehmut zu stiften an gute alte schlechte Zeiten, da man einer Nacktszene wegen ins Kino ging, egal was für ein komischer Film das auch immer war. Weitere Ärgernisse im dünnen Buch mag ich nun schon fast nicht mehr erwähnen, die Formulierung etwa „einer meiner „Eckermänner“, ein Leutnant im Ministerium für Staatssicherheit“. Wer Eckermänner (Plural) bei der Stasi hatte, war schließlich umgekehrt der Multi-Goethe der Stasi, das klang bei Erich Loest schon ziemlich doof, ein Kunert durfte so etwas nicht nachschreiben. So klammere ich alles zu Brecht aus, zumal es ohnehin keine detaillierte Spezial-Darstellung ersetzen hätte können, schließe mit Kunert: „Was immer unseren Widerspruch hervorruft, weil wir uns stets auf der Höhe unserer kurzfristig limitierten Epoche für gescheiter und wissender halten, birgt die Relativität unseres eigenen Standpunktes – falls wir uns zu dieser Einsicht zu bequemen wagen. Auch solche, uns aufs Normalmaß reduzierende Einsicht, verdanken wir den Klassikern, und nicht bloß denen der Neuzeit.“ Ich fühle mich mitgemeint.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround