Walter Hasenclever: Die Menschen
Friedrich Michael, den ich nun wirklich bei jeder sich bietenden Gelegenheit zitiere, erzählt im „Börsenblatt für den deutschen Buchhandel“, Ausgabe vom 23. Mai 1967: „Die zweite Anekdote, oft erzählt, berichtet vom Dichterleben aus der Frühzeit des Expressionismus, als Franz Werfel und Walter Hasenclever in Leipzig zusammen wohnten. Werfel schlief gern weit in den Tag hinein, worauf ihn die Wirtin weckte: „Herr Werfel, aufstehn! Der Herr Hasenclever hat schon `n halben Akt fertch!“ „Literarische Stammtische Leipzigs“ hieß der Michael-Text, man kann über selbige auch gut bei Hans Natonek nachlesen. Hier aber suggeriert die Anekdote einen morgendlichen Fleiß Hasenclevers, den man anstaunen soll. Die Leipziger Wohngemeinschaft datiert von 1912 an, neben Werfel gehörte auch noch Kurt Pinthus dazu, ein Foto vom Winter 1911/12 zeigt die drei Freunde gemeinsam mit Kurt Wolff, dem Verleger. Heute verblüffend, wie alt die jungen Männer aussahen, die 20, 21, 22 Jahre alt waren, alle mit Krawatte, alle mit Hut, köstlich, die Wohnung lag übrigens in der Haydnstraße. Das Schauspiel „Die Menschen“ war sicher nicht das Maß für den halben Akt.
Und das nicht nur, weil es später erst entstand, sondern weil alle fünf Akte zusammen in einer heutigen Ausgabe nicht mehr als zwanzig Druckseiten umfassen, was im Schnitt vier Druckseiten pro Akt bedeutet, ein halber Akt wären demnach zwei Seiten. Das kann man schon mal schreiben, während Franz Werfel noch schläft, da bleibt sogar Energie übrig. „Die Menschen“ folgte auf „Antigone“, für die Hasenclever den Kleist-Preis erhielt. Das war 1917. (Vgl. dazu mein Text auf: http://www.eckhard-ullrich.de/buecher-buecher/1842-walter-hasenclever-antigone, zuerst hier veröffentlicht am 22. Juni 2015.) „Die Menschen“ sind eine Zumutung für jeden Leser, sie waren eine Zumutung für jedes Theater. Und dennoch sind sie aufgeführt worden. Die Uraufführung gab es am 15. Mai 1920 in Prag an den Kammerspielen des dortigen deutschsprachigen Theaters. Die Regie führte Hans Demetz, Vater des berühmten Germanisten Peter Demetz, der in diesem Jahr seinen 98. Geburtstag feiert (am 21. Oktober), wenn er es denn bis dahin schafft. Hans Demetz (1894 bis 1983) war Dramaturg am genannten Theater, später Theaterdirektor in Brünn und Wien.
An der Uraufführung beteiligt waren Schauspielerinnen und Schauspieler, von denen die absolute Mehrzahl nicht in die Theatergeschichte eingegangen ist. Unter den Männern sagt mir der Name Oskar Sima etwas, erst seit 1919 am Prager Theater, später in Wien und seit 1921 bis zu seinem Tod 1969 in unzähligen Filmen präsent. Bekannteste Frau für mich die als Gast auftretende Rahel Sanzara, sie spielte das namenlose Mädchen. Sie war ab 1921 in Darmstadt engagiert und sollte 1926 den Kleist-Preis für ihren Roman „Das verlorene Kind“ bekommen, lehnte den Preis aber ab. 1933 gehörte sie zu denen, deren Bücher auf dem Scheiterhaufen landeten. Von ihr traf es nur den genannten Roman und zwar irrtümlich, wie vermutet wird, weil man hinter ihrem Pseudonym, sie hieß eigentlich Johanna Bleschke, eine Jüdin vermutete. Beteiligt war in zwei Rollen ein Gustav Ullrich, einmal als ein Arbeiter, einmal als Herr in Schwarz. Nicht weniger als zehn Frauenrollen mussten besetzt werden, Unmengen Statisten waren gefordert, vor allem aber verlangte Hasenclever einen von Regie und Bühne praktisch kaum zu leistenden Szenenwechsel fast im Minutentakt.
Was erwartet man, wäre ein denkbare Vorabfrage, wenn man einen Stücktitel „Die Menschen“ zur Kenntnis nimmt in einem Spielplan oder auf einem Theaterplakat? Assoziiert man: Der Mensch, wie stolz das klingt! Oder: Seit ich die Menschen kenne, liebe ich die Tiere? Expressionismus, den schon eingedacht, war etwas mit O-Mensch-Pathos, geht es also um den Menschen im Plural, also eine arg abstrakte Größe, die eher als Gegenstand von Kulturanthropologie taugt oder verwandten Disziplinen? Abstrakte Größen geben auf Bühnen in aller Regel eine schlechte Figur ab, weil sie gar keine Figur haben. Sonst wären sie nämlich keine abstrakten Größen. Man könnte sich Typen denken: der Geizige, der Revolutionär, die Hure, das Mädchen, einiges davon gibt es, und meist tatsächlich ohne personalisierenden Namen, tatsächlich bei Hasenclever und bis heute. Hier aber ist die Schwierigkeit die der Voraussetzungen, die der Autor macht, die aber weder die Leser seines Textes noch eventuelle Besucher seines Dramas in einem Theater kennen. Das ergab die ziemlich einmalige Situation, dass eine eigene Inhaltsangabe Hasenclevers zu „Die Menschen“ die Lektüre der fünf Akte mit ihren insgesamt 24 Szenen streng und genau genommen völlig überflüssig macht.
Vorher lohnt ein Blick in das, was die Beteiligten gern Forschung nennen. Da gibt es beispielsweise eine Dissertation, gedruckt in „Europäische Hochschulschriften“ im Verlag Peter Lang, der Titel „Walter Hasenclevers mystische Periode. Die Dramen der Jahre 1917 – 1925)“, Verfasser ist Bernhard F. Reiter, der 1996 an der Freien Universität Berlin mit dieser Arbeit promoviert wurde. Ziemlich klein gedruckt füllt alles etwas mehr als 300 Seiten, eine solche Arbeit hätte allein des Umfangs wegen an der Humboldt-Universität zu Berlin zu meinen Zeiten gar nicht eingereicht werden dürfen: es galt die Obergrenze von 120 Seiten plus Apparat. Aber germanistische Arbeiten leiden traditionell an Adipositas, es schützt sie im Allgemeinen vor Lektüre, wenn auch noch hinreichend viele Fußnoten zugeordnet sind. Gegliedert ist die Arbeit in sechs Teile, die in Frage kommenden Stücke Hasenclevers aus der genannten Zeit liegen der Gliederung nicht zugrunde. Wer also wissen will, was der Autor zu „Die Menschen“ meint und schreibt, der muss sämtliche 300 Seiten lesen auf Gedeih und Verderb, denn ein helfendes Werkregister hat das Buch leider nicht.
Dafür findet er Arbeitsergebnisse von bewundernswerter Akribie. Im vierten Teil etwa, Abschnitt 15 der durchlaufenden Zählung, Unterabschnitt 2, lautet das Thema „Der Vogel als Allegorie der Seele“. In „Die Menschen“ gibt es eine einzige Stelle mit Vögeln, sie steht im Regietext, falls man den so nennen will: „über den Dächern Vogelflug“. Der Autor hat weitere Vogelstellen aus anderen Hasenclever-Texten zusammengesucht. Dann ein kleines Fazit: „Die Vogelallegorie prononciert mit Deutlichkeit eine synkretistische Vorstellung des Autors aus Elementen unterschiedlicher Kulturen.“ Man könnte ohne viel Mut auch sagen: der Autor mixt allerlei eklektisch zusammen, was ihm aus unterschiedlichen Kulturen mehr oder minder zufällig in die Hände kam. Ob irgendein Leser an der Stelle mit dem Vogelzug auch nur eine Nanosekunde innehält, ist fraglich, vielleicht aber denkt er sofort an die Bühne und deren unlösbare Aufgabe, einen anderen als vielleicht flüchtig gemalten Vogelzug über die Dächer zu bringen, der wegen der Raschheit der Szenenfolge infolge ihrer Kürze Sekunden später schon keine Rolle mehr spielt und umgehend vergessen werden kann. Für immer.
In einem als „Biographische Notiz“ gekennzeichneten Text aus dem Jahr 1922, gedruckt erstmals 1924, gab Walter Hasenclever seinem Fünfakter „Die Menschen“ diese Einordnung: „Ich lehnte es ab, in der verunglückten Revolution eine Rolle zu spielen und wandte mich geistigen Problemen zu.
1918 erschien als bewusstes Zeichen dieser Umkehr das Schauspiel „Die Menschen“, in dem der Versuch gemacht wird, eine neue Dimension und Sprache auf der Bühne zu erfinden.“ Hier wäre die entscheidende Frage an den Autor die, ob diese Absicht vor der Niederschrift gefasst wurde oder als Fazit des geschriebenen Textes zu gelten hat. Wer nämlich in der Absicht, eine neue Sprache für die Bühne zu finden, beginnt, hat schon verloren: Theater ist Kommunikation, jede Kommunikation aber setzt einen gemeinsamen Zeichenvorrat der Beteiligten voraus. Wenn der Autor denn wirklich eine neue Sprache erfinden sollte, (meist kommt nicht mehr als Kleinschreibung oder weggelassene Satzzeichen heraus oder ein Überangebot an expressionistischen Ausrufezeichen), dann sitzt das Parkett ratlos und versteht kein Wort, erweitert: kein Symbol, denn Sprache kann ja auch Licht-Sprache sein, oder Einspiel-Sprache von Filmchen, was halt so gerade gängig ist am Neu-Markt.
Politik also wollte Hasenclever ausklammern für sich. Und damit auch alles andere, was nicht als geistiges Problem gelten konnte. Noch ehe ich dazu in nähere Einzelheiten gehe, will ich aus der Forschung noch Horst Denkler aufrufen. Er ist Autor eines Buches mit dem Titel „Drama des Expressionismus“ gewesen, auch Autor des einschlägigen Übersichtskapitels in dem Sammelband „Expressionismus als Literatur“, den ich gelegentlich schon zitierte. Denkler hat eine Typologie des expressionistischen Dramas entworfen und jedem Typ einige Stücke der Zeit zugeordnet. „Die Menschen“ kommen wiederholt vor im vierten Kapitel „Filmverwandte Wandlungsdramen“. Das ist Typ II, nach Typ I „Bühnengerechte Handlungsdramen“, und vor den Typen III und IV, „Opernahe Wandlungsdramen“ und „Einpolige Wandlungsdramen“. Allein schon die Zuordnung zu II schließt aus, dass es sich bei „Die Menschen“ um ein „bühnengerechtes Handlungsdrama“ handelt. Oder, gleich tapfer gefolgert noch vor jeder Detailanalyse: das Stück hat keine Handlung und es ist nicht bühnengerecht. Tatsächlich ist damit alles wirklich Wichtige über „Die Menschen“ bereits gesagt.
Nun kann man sich den Aussagen Denklers in seinem Buch im Detail zuwenden und wird auf ein erstaunliches Phänomen stoßen: Er sagt zur nicht vorhandenen Handlung eigentlich auch nichts, es hält sich alles im Abstrakten, im Allgemeinen. Ich hatte von Mal zu Mal das Gefühl, er sei heilfroh gewesen, wenn er nach kurzem Verweilen bei Hasenclever zu den anderen Beispielstücken seines Typs II übergehen konnte, wo noch etwas mehr Fleisch an den Knochen neuer Bühnendimension zu identifizieren war. Immerhin ist eins zu fixieren: August Strindbergs „Ein Traumspiel“ war nicht nur für diesen Hasenclever epochemachend, Wirkungen August Stramms sind noch dann zu vermuten, wenn Hasenclever selbst diesen Einfluss mit Verweis auf seine schrittweise immer radikaleren Kürzungen im eigenen Text leugnet. Was bleibt, ist fast durchgehend ein Nicht-Dialog, einzelne Worte werden gesprochen, gerufen, syntaktisch vollständige Sätze, selbst solche aus nur drei oder vier Worten, sind die absolute Ausnahme. Es gibt ganz und gar stumme Szenen und immer wieder werden geschehende Dinge beschrieben, die aller Logik hohnsprechen. Logik ist außer Kraft.
Denkler dazu: „Hasenclever lässt stattdessen in 24 kurzen Szenen, in denen das Bild zum Symbol, der Dialog zur stichwortartigen Formelsprache, die Handlung zum Akt, zur Nummer, zur Pointe geronnen sind, die vielfältig verflochtenen Schicksale der zu Typen vereinzelten Menschen ablaufen, die von dem stets Mitte bleibenden Alexander ausgelöst, gelenkt oder auch nur beobachtet werden. Die rasche Abfolge des vielsträngigen und einer Figur zugeordneten Geschehens, angelegt in der Effekte, Klischees, Sensationen, Kitsch keineswegs scheuenden Fabel, gibt den Einfluss des Films auf die Struktur des Textes deutlich zu erkennen.“ Der Text der fünf Akte bestätigt diesen Befund meines Erachtens nicht, schon die Rede von Figuren ist zu viel des Guten. Dass Alexander stets in der Mitte bleibt, muss man gutwillig formulieren, tatsächlich ist er nur in mehr Szenen vorhanden als alle anderen. Es gibt auch keinen wirklichen Zusammenhang zwischen der Präsenz einer Figur und dem Umstand, dass ihr der Autor einen Namen gab. Die Lissi des Textes darf fast nie reden, dafür haben die namenslosen Huren des Personenverzeichnisses im Text selbst plötzlich sogar alle drei einen Namen. Von einer Fabel zu reden, ist reine Beschönigung.
Doch hören wir Walter Hasenclever selbst: „Was geht in diesem Schauspiel vor? Ein Ermordeter steigt aus dem Grabe, ein Mensch in des Wortes tiefster Bedeutung, ein Unerlöster, Unvollkommener, ein Debet im großen Schuldbuch der Welt. Wäre sein Leben vollendet gewesen, er hätte am Messer nicht sterben können; seine Schuld war, dass er sterben konnte; er geht beladen mit seinem Haupte, das ihm der Mörder überreicht, zur Sühne an des Mörders Stelle durch die Welt, ein Doppelgänger, bis er die ewige Ruhe findet. „Ich habe getötet“, beginnt das Schauspiel, „Ich liebe!!“, so endet es.“ Geht man davon aus, dass Schriftsteller meinen, was sie sagen, dann wird hier behauptet, dass Ermordete Menschen in des Wortes tiefster Bedeutung sind, insbesondere, wenn sie aus dem Grab steigen, was im Wesentlichen freilich nur in Zombie-Filmen geschieht. Wer sein Leben vollendet, steht da, hätte am Messer nicht sterben können: gar nicht sterben, nur am Messer nicht, wohl aber an Krebs oder einem Schuss aus einer Pistole? Der Mörder muss seinem Opfer nach dem Mord den Kopf abgeschnitten haben, sonst könnte das Opfer ihn ja nicht in einem Sack herumtragen in der Welt. Womit erkennt aber der kopflose Alexander seinen eigenen Kopf?
„Dies Schauspiel hat keine Absicht, es sei denn, die Welt der Lebenden und der Toten zu verbinden. Von der Voraussetzung ausgehend, dass Leben und Sterben jedes Menschen ebenso unverständlich ist wie die ganze Welt, liegt dem Verfasser nichts an der Meinung, der Zuschauer müsse am Ende der Aufführung die Vorgänge auf der Bühne verstanden haben … Die Welt vollzieht sich in jedem Betrachter anders. Der Sinn der Kunst ist nicht, Übereinstimmung hervorzurufen, sondern zu erschüttern.“ Auch das hat Hasenclever geschrieben zu seinem Stück und wieder fragt sich der leider der Logik des Alltags nicht entrinnen könnende Leser: Was ist die Welt der Lebenden, was die der Toten: verbinden sich im Spiel die Toten auf der Bühne mit den Lebenden im Parkett oder die Toten unten mit den Lebenden oben? Die Welt vollzieht sich, es sei, man ist bekennender Hardcore-Fichteaner, vollkommen unabhängig von jedem Betrachter, sie vollzieht sich sogar dann immer weiter, wenn der letzte Betrachter gestorben ist oder nie auf die Welt kam. Hier ist man in den Urgründen der Philosophie, die in Walter Hasenclevers Kopf irgendwie in Wirrnis gerieten.
Alexander also, der Ermordete, sühnt in diesem Nicht-Stück die Tat seines Mörders, Erlösung heißt das Zauberwort, er steigt am Ende wieder in sein Grab zurück, nachdem er eben noch zum Tode verurteilt wurde wegen Mordes (an sich selbst). Im Weltbild Hasenclevers ist dieses Rein-Raus auf dem Friedhof kein großer Beinbruch, denn er hat sich fernöstlichen Theorien der Wiedergeburt verschrieben und unter deren Bedingungen ist das eine Leben hienieden freilich nur von sekundärer Bedeutung: was immer einen von der Erde bringt, man kommt wieder und sei es als Wurm, man kann allerdings auch als Paradiesvogel über den Wassern schweben. Dramatiker mit solchem Basis-Weltbild sollten sich der Bühne fernhalten und, wenn es gar nicht anders geht, nur Lese-Dramen verfassen, dort können Tote in der Gruft, ohne Kopf und versuchsweise sogar ohne Beine, Trampolin springen, ohne dass irgendein Regisseur gehalten ist, das irgendwie in irgendein Bühnenbild zu bringen. Leider ist mir keine zeitgenössische Kritik vor Augen gekommen, die ahnen lässt, was am 15. Mai 1920 in Prag tatsächlich auf der Bühne der Kammerspiele geschah. Immerhin ist eines zwingend zu bedenken: der Filmeinfluss war damals ausschließlich Stummfilm-Einfluss.
Der heftigste Kritiker Hasenclevers, soweit es „Die Menschen“ betraf, war Bernhard Diebold, ein gestandener Theaterkritiker, der in seinem berühmten Buch „Anarchie im Drama“ schon in der ersten Ausgabe und aktualisierend erweitert noch in der vierten von 1928 auf das Stück zu sprechen kam. Man muss seinen Aussagen und Wertungen kaum etwas hinzu fügen. „Natürlich: Die Gesellschaft ist für ihre Verbrecher verantwortlich. Die strikte Annahme jedoch, dass der Mörder nur durch die Sünden der Gesellschaft zum Mörder wird, befreit aber in einer so kurios verdrehten Weltordnung ausgerechnet die Verbrecher von der persönlichen Verantwortung für ihre Taten. Und der Herr Mörder breitet die Arme aus und behauptet: „Ich liebe!!“. Die Mode verlangt etwas Bekennerisches. Wenn du nicht Hasenclever wärest, möchtest du Alexander sein? Ob morden oder lieben – Mystik macht alles gleich. Wir aber protestieren gegen die sittliche Stellvertretung der Mörder durch Schein-Heilige und Erlöser-Simulanten. Uns fehlt dazu die Voraussetzung: religiöser Mythus und wirklich demütige Herzen.“ Auf diese Voraussetzungen baut Hasenclever in der Tat.
Weiter Diebold: „Die über zwanzig Szenchen bilden einen raffiniert zusammengestellten Schlagwörter-Katalog, dessen assoziative Verbindung durch die Bilderserie geleistet wird. Mit Auslassung der Spielanweisungen, die das beredteste Zeugnis von des Dichters innerem Verstummen ablegen, brächte man den Text dieser neunzig Seiten, in fortlaufende Rede gesetzt, vielleicht auf vier bis fünf Blätter. Das Kino macht Schule. Bald werden wir die völlige Pantomime erleben müssen unter dem Vorwand, das Wort vermöge doch nicht innere Gestalt zu formen.“ Und: „Was empört, ist weit weniger die gefährliche Erlöser-Romantik (da das Stück zum Glück von keinem Publikum verstanden wird) als dass hier vom Geiste einer Liebesmission auch nicht ein Hauch verspürt wird. Sondern Theater! – mit geschmäcklerischem Raffinement auf die Kinostufe hinstilisiert.“ Abschließend: „Ein lallendes Kino. Die ganze Speisekarte der modernen Dramatik: Sexual-, Sozial- und Ideal-Probleme. Alles in Bühnensegmenten, nach Sorges Bettler-Kaffeehaus vom Scheinwerfer bestrahlt und „visionär“ wieder vom Dunkel verschlungen. Und auch kaum denkbar ohne Georg Kaisers Vorarbeit. Kosmos im Telegraphenstil, Kunstfilm von zwanzig Kilometern Länge. Amerika-Gastspiel“. Des Georg Kaisers neue Kleider, möchte man kalauern.
Als die Stadt Aachen, wo seit 1996 die Walter-Hasenclever-Gesellschaft ihren Sitz hat, ein Jahrbuch herausgegeben und, vor allem, auch ein Walter-Hasenclever-Literaturpreis vergeben wird, 1990 anlässlich des 100. Geburtstages eine Ausstellung veranstaltete im Suermondt-Ludwig-Museum, erschien auch ein sehr schönes Begleitbuch mit vielen Dokumenten, mit Fotos und vor allem Detail-Informationen, das bis heute sehr zu empfehlen ist. Zu „Die Menschen“ schrieb darin der Mit-Herausgeber Dieter Schmitz: „Bei Zuschauern und Kritikern stößt Hasenclever auf Unverständnis und Ablehnung. Dem Publikum, befangen in seiner christlichen Ethik und einem abendländischen Rationalismus, bleibt der Zugang zu diesem Stück verwehrt. Hasenclevers verstärkte Hinwendung zu fernöstlichem Gedankengut, Mystik und Okkultismus, der sich hier abzeichnet, ist für die meisten Zeitgenossen nicht nachvollziehbar. Der Zugang zum Stück „Die Menschen“ ist zusätzlich erschwert durch seine äußere Form, durch einen Minimalismus an Sprache und eine scheinbare Zusammenhanglosigkeit der rasch wechselnden Szenen.“
„Erst wenn man Einblick in die Lebensphilosophie Hasenclevers gewinnt, erschließt sich der tiefere Sinn des Werks. Hasenclever teilt die Grundlehren des Buddhismus: Er glaubt an die Wiedergeburt und die Leidhaftigkeit des Daseins, an die Verbundenheit unserer Welt mit dem Reich der Toten und die grundsätzliche Unfähigkeit des Menschen, das Leben zu begreifen. Sein Schauspiel verfolgt daher gar nicht erst die Absicht, vom Zuschauer restlos verstanden zu werden. Es bleibt undurchschaubar wie das Leben selbst: durch den Intellekt nicht zu erfassen und nur durch Einfühlung nachempfindbar.“ Nimmt man das so ernst, wie es Schmitz hier beschreibt, heißt es nichts anderes als: Walter Hasenclever ist mit „Die Menschen“ weiter von jedem wirklichen Publikum, einem lesenden wie auch einem ins Theater gehenden, entfernt als je zuvor und je danach, wo er sich ziemlich bald zu einem der besten deutschsprachigen Komödienschreiber entwickelte und verwandelte. Christoph Brauer, Nachwortautor und Mit-Bearbeiter des Bandes II.1 der Ausgabe „Sämtliche Werke“ (Hase & Koehler Mainz), „Stücke bis 1924“, zitiert einen Brief an den Verleger Kurt Wolff zu den „Menschen“: „Antigone und Sohn sind Scheiße dagegen.“
Dagegen ist nicht mehr zu sagen als: Schön, wenn sich Autoren an sich selbst begeistern können. Noch schöner, wenn sie mit dem weiteren Weg ihres eigenen Schaffens ihr altes Urteil ad absurdum führen. In der zeitgenössischen Kritik, aus der Brauer ein paar Brocken mitteilt, gab es offenbar wie immer und überall jene, die des Kaisers neue Kleider lobten, Camill Hoffmann war es in diesem Falle und andere, wie der schon zitierte Diebold, die kindgemäß riefen: Der Kaiser ist ja nackt. Das „Neue Wiener Journal“ teilte seinen Lesern nach der Prager Uraufführung mit, es wurde „bei offener Szene aufs wütendste für und wider gestritten und stellenweise musste das Spiel aussetzen, da sich die Schauspieler im Gelächter und Gezänk des Publikums nicht verständlich machen konnten.“ Man mag bei dieser Beschreibung an die berühmte (und einzige) Darstellung der Reaktionen des Mannheimer Publikums auf Schillers „Die Räuber“ denken, rollende Augen und Schnappatmung der Damen. Der Unterschied ist evident: „Die Räuber“ werden fast 250 Jahre später immer noch erfolgreich gespielt, „Die Menschen“ liefern allenfalls eine nervende Fallstudie, wie es auf dem Theater auf keinen Fall geht. Auch das freilich kann Wert haben. Für wenige.