Arthur Eloesser sieht "Kabale und Liebe"

Man muss weder besonders phantasievoll sein noch besonders kühn im Behaupten von nicht gerichtsfest gesicherten Tatsachen: Arthur Eloesser hätte, als Kritiker im Parkett sitzend, mehr als wahrscheinlich größte Mühe, mit einer heutigen Inszenierung von Schillers „Kabale und Liebe“ in einem beliebigen deutschen Theater etwas anzufangen. Dabei können wir durchaus froh sein, dass Lehrpläne unserer Schulen Schiller noch nicht aus ihren Programmen gestrichen haben, vor allem dieses eine Stück nicht: es wäre sonst wohl längst aus unseren Spielplänen verschwunden. Unsere Altvorderen, die noch die gesamte „Glocke“ hersagen konnten und zwar aus dem Stand bis ins durchaus fortgeschrittene Alter, fanden das weniger komisch, als wir es schon fanden, die wir mit der „Bürgschaft“ redliche Mühe hatten. Von den nächsten Generationen reden wird nicht: wem Auswendiglernen verleidet wurde, weil es nicht kreativ ist, lernt in der Regel gar nicht mehr richtig, kann das entstehende Vakuum mit Kreativität aber auch selten ausgleichen, weil selbige ihm leider fehlt. Vielleicht folgt ja einem Gesetz über die freie Wahl des eigenen Geschlechts bald, denn auch Dummheit ist diskriminierend, wenn man sie nicht spielt, ein Gesetz über die freie Wahl des eigenen Intelligenzquotienten. Es gilt noch immer eine alte Werberegel: Wenns schee macht!

Anders als sein Vorgänger bei der „Vossischen Zeitung“, Theodor Fontane, der zwischen dem 16. März 1871 und den 20. Juni 1889 sage und schreibe zwanzig Kritiken zu diesem einen Schiller drucken ließ, schrieb Eloesser (Stand heute) nur ein einziges Mal über „Kabale und Liebe“, seine Besprechung erschien am 14. April 1933 in der „Vossischen Zeitung“, womit nebenher schon einmal die verbreitete Behauptung, er habe seine langjährige Arbeit dort nach der so genannten Machtergreifung verloren und nur noch für rein jüdische Blätter schreiben können, als unzutreffend erwiesen ist. Arthur Eloesser hat das komplette Jahr 1933 und auch die ersten drei Monate 1934 noch in der Voss, wie sie von ihren Lesern genannt wurde, publiziert. Und zwar keineswegs etwa anonym, sondern unter seinem alten, seit Anfang des Jahrhunderts eingeführten Kürzel „A.E.“. Dass von neunzehn derzeit bekannten Schiller-Kritiken von seiner Hand nur eine dem dritten der Jugenddramen des späteren Klassikers gewidmet ist, hat vermutlich keine substantielle Ursache. Zum „Fiesco“ gibt es gar keine Kritik von Eloesser, auch zur „Braut von Messina“ nicht, dafür eine zum „Demetrius“. Das hängt zuerst natürlich von den Spielplänen ab, danach aber sofort von der Aufgabenverteilung innerhalb der jeweiligen Feuilleton-Redaktion, es gingen eben andere Kollegen.

Mit einer anderen Überschrift hätte ich es mir leichter machen können, denn seine einzige Kritik zu „Kabale und Liebe“, die ich kenne, hat eine Besonderheit: sie sagt zum bürgerlichen Trauerspiel selbst so wenig, dass es hier komplett zitiert werden kann: „Ich will damit nicht sagen, dass die Bühne auch alle die jungen und nicht mehr ganz jungen Menschen braucht, die sich am Nachmittag des Gründonnerstag im Dienst von Friedrich Schiller zusammengetan haben. Aber es war gut, dass sie gerade „Kabale und Liebe“ wählten, ein Stück der Jugend für die Jugend, das auch in dekorativer Hinsicht die bescheidensten Anforderungen stellt. Dass einige Kostüme aus dem Fundus des siebenjährigen Krieges, andere mehr aus dem Freiheitskriege stammten, wird kaum gestört haben; dafür war man mit geringem Aufwand bei den braven Millers zu Hause, bei dem bösen Präsidenten und bei der stolzen Lady Milford. Vor allem war man bei Schiller; er behauptete sich auch gegen Unzulänglichkeiten, die weniger starke Temperamente als das einzige, fast unbegreifliche seiner revolutionären Jugend leicht umgebracht hätten.“ Kein einziger Name: weder Regie noch Bühnenbild, weder Kostüm noch auch nur ein einzelner Darsteller (eine einzelne Darstellerin, soviel Zeit muss sein). Ist das mehr als nur die gedruckte Botschaft: Ich war dort?

Gespielt wurde in der Komödie am Kurfürstendamm, sie gehörte zu den Reinhardt-Bühnen, war berühmt unter anderem für eine Wendeltreppe im Haus (Architekt Oskar Kaufmann), die erste Premiere war „Diener zweiter Herren“ von Carlo Goldoni, unter den Gästen waren der heute längst vergessene Reichskanzler Wilhelm Marx und der etwas weniger vergessene Außenminister Gustav Stresemann. Als Arthur Eloesser dort „Kabale und Liebe“ sah, war das, obwohl nur wenige Jahre her, fast schon ferne Geschichte. Aus seinen knappen Zeilen spricht der eingeübte Blick: Kostüme passen nicht zueinander, Schauplatzwechsel sind durch die Bühneneinrichtung erleichtert. Beides am Gründonnerstag 1933 wohl eher der Not, sprich: der einsetzbaren Mittel geschuldet. Die Symptome der Not sind für uns längst übliche Merkmale heutiger Theaterpraxis geworden: man streicht Rollen, besetzt mehrere mit einem Schauspieler, einer Schauspielerin, man streicht das Bühnenbild, man streicht die Requisiten. Ob Kostüme zueinander passen, interessiert niemanden mehr, oft weiß man gar nicht, warum im Programmheft Bühne und Kostüm überhaupt genannt werden. Woran arbeiten heute Theaterwerkstätten? Wählen Theater heute die Stücke nach dem Ensemble oder gehen sie davon aus, dass jeder alles spielen kann, wenn die Regie es will?

Arthur Eloesser hat in seinen Äußerungen zu „Kabale und Liebe“ gerade all das besonders prägnant herausgehoben, was den Text spielbar macht. „Die Residenz, in der Kabale und Liebe spielt, ist ohne weiteres Stuttgart; die drei Häuser des Musikus Miller, des Präsidenten, der Lady Milford setzen eine Stadt zusammen, ihre Atmosphäre und ihre Gesinnung. Schiller war da besser zu Hause als in Genua, das er auf Theaterbrettern baute; es gibt auch in dem ganzen Stück keine überflüssige oder gleichgültige Figur. Jede trägt an der Handlung, als ob es von Lessing wäre, und jede ist menschlich vorstellbar, typisch bedeutend, bis zur Unverletzbarkeit bühnenfähig geblieben. Man kann im stillen Umgang mit dem Buche an der äußersten Schufterei des Sekretärs Wurm, an der äußersten Dummheit des Hofmarschalls Kalb, an dem unerschwinglichen Edelmut der Lady Milford zweifeln, und nicht weniger an der Glaubhaftigkeit der Intrige, der die Leichtgläubigkeit des Liebespaares zum allzu hilflosen Opfer fällt: diese Figuren brauchen die Bühnenluft, und sie bestehen in dem Sturmwind, in den sie des Dichters Temperament hineingefegt hat.“ Wie nebenher sind alle denkbaren Zweifel an der inneren Logik des Trauerspiels angesprochen, wie sie Schiller-Interpreten längst ausgesprochen haben, sie sprechen aber nicht gegen die Spielbarkeit, so Eloesser.

Er schreibt das im ersten Band seiner zweibändigen Literaturgeschichte, die Schiller mit guten Gründen viel Platz einräumt. „Kabale und Liebe“ kommt dort wie auch schon in seinem frühen Buch „Das Bürgerliche Drama. Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert“ sowohl explizit genannt als auch mehrfach innerhalb von gewichtigen Aussagen zu den Jugenddramen vor. „Durch Schillers Jugenddramen geht ein kindlich renommistischer Zug, der Wunschtraum von Macht im Guten wie im Bösen, von plötzlicher persönlicher Wirkung. Der junge Dichter handelt in der erträumten Großartigkeit seiner Helden, er schwelgt in Verbrechen, Politik, schwärmerischer Leidenschaft, immer der Eine, Gewaltige, der sich einer ganzen Welt entgegenwirft.“ So steht es im ersten Band „Bis zu Goethes Tod“. Nahezu wortgleich schon dreißig Jahre früher: „Durch Schillers Jugenddramen geht ein kindlicher, renommistischer Zug, die Sehnsucht nach Macht, die Vorstellung plötzlicher persönlicher Wirkung … Der junge Dichter fühlt sich in der erträumten Großartigkeit seiner Helden, er schwelgt in Verbrechen, Politik, schwärmerischer Leidenschaft, er ist immer der Eine, Gewaltige, der sich einer ganzen Welt entgegenwirft.“ Eloesser war sich seines Urteils in dieser Sache frühzeitig sehr sicher, übernahm auch deshalb die eigenen Formulierungen.

Mit der Aufführungsgeschichte ist der Kritiker ebenfalls vertraut: „Kein Dramatiker ist reicher aufgetreten als der Stuttgarter Flüchtling, der sich auf dem Schlachtfeld der Bühne eine Heimat erobern und die dramatische Krone davontragen wollte. Schon wenige Monate nach der kühlen Aufnahme des Fiesco am 15. April 1784 gewann er die zweite Entscheidungsschlacht mit „Kabale und Liebe“. Der Frankfurter Theaterdirektor Großmann, Freund von Frau Rat, die ihren Schiller vorurteilslos genug liebte, war den Mannheimern mit einer zaghaften Aufführung zuvorgekommen, die das Schicksal des Stückes noch im ungewissen ließ. Im republikanischen Frankfurt hatte man die Szene des Kammerdieners wahrscheinlich aus Rücksicht auf den Herzog Karl Eugen ausgelassen, womit dem noch in Stuttgart geborenen Rebellenstück eine wesentlich nährende Wurzel der Empfindung abgeschnitten wurde. Erst Iffland, der in der Mannheimer Aufführung mit dem Wurm geglänzt hatte, brachte mit seinem rührenden Kammerdiener die ewig ergreifende Szene in die Reichsstadt; aber auch dann war Schiller unter großen Schwierigkeiten noch genötigt, seinen Auftritt so umzuschreiben, dass die Soldatenverkäufe seines alten Herodes, wie er ihn nach seinem Tode nannte, in ihrer verbrecherischen Bedeutung nicht erkennbar wurde.“ Das ist festzuhalten.

Die Kammerdiener-Szene streichen heißt also, „eine wesentlich nährende Wurzel der Empfindung“ abzuschneiden. Man könnte als Agitator nach Bedarf guter oder schlechter alter Zeiten einen dramaturgischen Systemvergleich anstellen: Wann wurde wo unter welchen Umständen von welcher Regie der Kammerdiener gestrichen? (Ich erlaubte mir vor einigen Jahren den Spaß, Weimar zur „kammerdienerfreien Zone“ zu deklarieren.) Frankfurt am Main, die Vaterstadt Goethes, sah zwei Tage vor Mannheim keinen Kammerdiener. Schiller als Bühnenpraktiker war wohl fast unbegrenzt bereit, mit Eingriffen in den eigenen Text eine Aufführung zu sichern, den Kammerdiener stellte er nie zur Disposition. Und ausgerechnet jener Iffland, der ihm den in der eigentlichen Sache des bürgerlichen Trauerspiels falschen Titel „Kabale und Liebe“ aufgenötigt hatte, brillierte dann in Frankfurt mit dem Kammerdiener. Und Eloesser schließt diese beiden Sätze an: „Ein Werk wie Kabale und Liebe lässt Schillers spätere Haltung gegen die französische Umwälzung verstehen. Deutschland hat seine Revolution auf dem Theater gemacht, er selbst war der letzte Revolutionär.“ Und wenig später: „Unsere Bühne kennt keine stärkere, unwiderstehlichere Leistung als die Steigerung zum Schluss des zweiten Aktes.“ Ähnlich nur eine andere bei Schiller.

„Mit dieser großartigen Theaterwirkung lässt sich nur noch, nach der Befreiung Rollers, der Aufbruch der Räuber im zweiten Akt vergleichen“. Über Aktschlüsse bei Schiller ließe sich manches sagen, über seine finalen Pointen ebenfalls. Auch diese Effekte gehören auf die langen Verlustlisten heutiger Theaterpraxis: wo keine Aktschlüsse mehr kenntlich gemacht werden, ganz früher gab es Zwischenvorhänge, werden scheinbar genau diese zur Spielmasse inszenatorischen Eigensinns. Von Theaterwirkung, es muss kaum betont werden, spricht niemand, der diese nicht selbst erfahren, erlebt, gesehen hat und zwar auf alle Fälle mehr als einmal. Schon 1898 wusste Eloesser, was neu an „Kabale und Liebe“ innerhalb des Jugendwerks von Schiller war: „Die Gesellschaft ist nicht mehr ein Unrecht an sich, wie sie auch sei, Beleidigung der freien Menschlichkeit, sondern sie tritt hier nur in einer zeitlichen und örtlichen Korruption auf. Die Spitze aller Tendenzen ist hier nicht gegen die staatliche Verfassung an sich gerichtet sondern gegen ihre Entartung in dem verfaulten kleinstaatlichen Despotismus.“ 1930 ergänzte er: „Nachdem er den Dichter in sich kritisch und philosophisch gereinigt hat, werden die Dramen des Mannes aus Erlebnissen immer mehr zu gewollten Handlungen, zu theaterstrategischen Unternehmungen.“

„Allein seine Jugenddramen sind aus einem Stoff gebildet, den er nicht außerhalb seiner suchte, aus einem Lebensstoff, der in ihm gewachsen war. Mindestens die Räuber und Kabale und Liebe übertreffen seine späteren Werke durch eine pflanzenhafte Unbefangenheit von stark emporschießender Saftfülle, die sich in gewaltigen Explosionen entladen durfte.“ Dass Schiller seine frühen Werke später sehr distanziert sah, wusste Arthur Eloesser natürlich auch: „Schiller trat als der erste Redner auf der deutschen Bühne auf; er ist es auch geblieben. Aber der junge Dichter liebte seine ersten Erfolge nicht“. Ähnlich, aber aus anderen Gründen, hielt auch Goethe von seinen frühen Produktionen im Alter nicht mehr sehr viel. Vorläufer und Quellen, nachweisliche oder vermutbare, hat die Schiller-Philologie ausführlich gerade für „Kabale und Liebe“ immer wieder benannt und beschrieben. Dass auch Arthur Eloesser sich damit auskannte, belegt unter anderem eine Arbeit vom Beginn des Jahres 1905, als er sich in der „Vossischen Zeitung“ über „Schriften zur Schiller-Feier“ äußerte. Die tatsächliche Entstehungsgeschichte des Dramas war ihm weniger wichtig: „Für ihn war es nicht wesentlich, wo sein Arbeitstisch stand, wie es auch nicht wichtig ist, unter welchem Himmel und bei welchem Sonnenstandes seine Werke gewachsen sind.“

Bliebe zum Schluss noch ein letzter Blick auf die einzige überlieferte Eloesser-Kritik zu „Kabale und Liebe“ aus der ihr letztes komplettes Erscheinungsjahr durchlaufenden „Vossischen Zeitung“ (das erste Quartal 1934 wurde das letzte einer mehr als 200 Jahre währenden Zeitungsgeschichte). Der Einstieg in die kurze Kritik lässt ahnen, worum es dem Kritiker eigentlich ging: „Die unbeschäftigten Schauspieler sind von allen Künstlern am schlimmsten gestellt, da bei ihnen Erwerbslosigkeit und Arbeitslosigkeit durchaus zusammenfallen. Der Dichter kann am Dichten nicht verhindert werden, solange er noch einen Rest Papier und einen Bleistift hat; der Musiker kann sich liebevoll mit seinem Instrument unterhalten, kann mit ihm die Hörer und den Beifall für morgen oder übermorgen erträumen. Der Schauspieler ist auf Gemeinschaftsarbeit angewiesen, er braucht den realen Raum der Bühne, um sich überhaupt von seiner Vorhandenheit zu überzeugen.“ Schiller war, darf man wohl folgern, im April 1933 nicht das, was den Juden Arthur Eloesser am heftigsten umtrieb. Schauspieler, die jüdischer Herkunft waren, konnten bald schon nur noch am Theater des Jüdischen Kulturbundes auftreten, soweit sie nicht die Emigration wählten oder, was leider kein Einzelfall wurde, freiwillig aus dem Leben schieden. Was man so freiwillig nennt.


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