Arthur Eloesser: Henri Becque

Von den Bemühungen Arthur Eloessers um den Franzosen Henry Becque (28. April 1837 – 12. April 1899) hat die DDR-Romanistik keinerlei Notiz genommen. Diese Aussage ist weniger seltsam, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn zu den Merkwürdigkeiten der deutschen Becque-Rezeption gehört, dass die beiden einzigen gedruckten Ausgaben von Werken aus seiner Hand eben in der DDR erschienen sind, im Insel-Verlag Leipzig und zwar in dessen berühmter Reihe Insel-Bücherei. Zuerst gab es 1967 die vieraktige Komödie „Die Raben“ (als Nr. 166) mit einem Nachwort der Übersetzerin Karin Rohde, drei Jahre später, 1970, die dreiaktige Komödie „Die Pariserin“ (als Nr. 951) mit einem Nachwort von Rita Schober. Die Grand Dame der DDR-Romanistik hat überhaupt keine einzige deutschsprachige Literaturstelle zu Becque benutzt. Will man das nicht zu ihren Ungunsten als philologische Laxheit auslegen (ihr Hauptgeschäft war Zola), so ist es auf jeden Fall Beleg für die überaus mäßige Informiertheit in Sachen Eloesser in der DDR. Auf ihn hätte Rita Schober auch auf dem Weg zur Zola-Literatur stoßen können, wäre „Literarische Porträts aus dem modernen Frankreich“ (S. Fischer Berlin 1904) ihr in die Hände gefallen.

Eloesser hat dort Zola immerhin 37 Druckseiten gewidmet, dreizehn mehr als Henry Becque, der dafür den Band eröffnen durfte. Obwohl er in der Reihenfolge der Erstpublikationen erst an dritter Stelle erscheint, nach „Onkel Sarcey“ (im Buch als „Francisque Sarcey“ das neunte Porträt) und „Edmond Rostand“ (im Buch gleichnamig das achte Porträt). Es bleibt Spekulation, ob Max Nordau (29. Juli 1849 – 23. Januar 1923) mit „Zeitgenössische Franzosen. Literaturgeschichtliche Essays“, seinem bei Ernst Hofmann & Co. Berlin 1901 erschienenen Buch, Anreger für Eloesser war oder ob einfach zwei Männer die im Kern gleiche Idee hatten. Es gibt nicht wenige Übereinstimmungen bei der Auswahl der Autoren, Henry Becque fehlt allerdings bei Nordau. Immerhin war nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/1871 geistige Annäherung zwischen beiden Ländern, mit aufgeschlossener Neugier für den jeweils anderen vorsichtig beginnend, weder selbstverständlich noch gar überflüssig. Dass Arthur Eloesser, der nach Abschluss seines Studiums und dem vergeblichen Versuch, eine akademische Laufbahn in Berlin einzuschlagen, länger in Frankreich und vor allem in Paris lebte, machte ihn kompetent gerade in diesem Umfeld. Hinzu kommt: Wer zur ältesten deutschen Moliere-Übersetzung promoviert, muss gleich doppelt sprachsensibel sein.

Als Eloesser sich zu Beginn des neuen Jahrhunderts daran machte, seine literarischen Porträts zu Papier zu bringen, stand er in festen Diensten der Vossischen Zeitung, angestellt vor allem als Theaterkritiker, doch von Beginn an immer auch für andere Ressorts tätig. Die Porträts wurden zuerst in den Sonntagsbeilagen gedruckt, nicht selten in zwei oder gar drei Teilen, was die für Autoren immer angenehme Möglichkeit bot, nicht ständig auf die Zeilenvorgabe schielen zu müssen. Wobei der Anblick der damaligen Zeitungsseiten regelmäßig die Frage aufwirft, ob damals heute selbstverständliche Regeln völlig unbekannt waren oder einfach nur ignoriert wurden: Wenn ein Text innerhalb der Zeitung geteilt war, stand selten am Ende des ersten Teiles, auf welcher Seite der Rest zu finden sei. Bilder fehlten lange vollständig, nur die Anzeigenseiten boten sich nicht als reine Bleiwüsten. Wenn nur drei Druckzeilen verblieben, dann wurde der Text nicht so eingekürzt, dass alles auf einer Seite stand, die drei Zeilen kamen eben auf einer anderen Seite, waren dort wiederum auch nicht als das Ende des Texte von der oder jener Seite gekennzeichnet. Die Beilage für Sonntag bot dagegen den fast ungeheuerlichen Komfort eines Inhaltsverzeichnisses auf der Aufschlagseite oben links, kleingedruckt. Arthur Eloesser war bis 1913 an 46 Sonntagen präsent.

Am 14. Oktober 1900 eröffnete er die französische Reihe mit „Onkel Sarcey“, dem Porträt des weiland berühmtesten Kritikers in Frankreich, der auch im Leben von Henri Becque eine wichtige Rolle spielte. Am 2., 9. und 16. März 1902 stellte Eloesser Edmond Rostand in drei Fortsetzungen vor, im Januar 1903 (4. und 11.) folgte dann schon Henri Becque. Dieses Porträt eröffnet 1904 schließlich das Buch, das der S. Fischer Verlag herausbrachte, dort stehen die beiden anderen eben genannten Texte an achter und neunter Stelle, sie beenden den Teil „Theater“, dem noch sechs Porträts von Romanautoren folgen und den die Abhandlung „Hellenen und Lateiner“ abschließt. Was der Autor zu Henri Becque vorzutragen wusste, war, ohne dass dafür eine Quellenbasis benannt werden kann, offenbar authentisch und frisch, teilweise sicher sogar aus erster Hand. Es ist nicht auszuschließen, dass Eloesser in seiner Pariser Zeit Becque sogar einmal begegnet ist. Die beiden wichtigsten Stücke hat er sehr wahrscheinlich in Paris selbst gesehen, der Porträttext enthält freilich keine Reminiszenz eines solchen Bühnenerlebnisses. So bleibt die Theaterkritik zu „Die Pariserin“ (Parisienne), am 23. November 1909 in der Morgenausgabe der Vossischen Zeitung als Einspalter zu lesen, die bei derzeitigem Wissensstand einzige gedruckte Becque-Kritik.

Nimmt man heute alles zusammen, was eine wahrlich nie sprudelnde Becque-Rezeption in deutscher Sprache zusammengetragen hat, es gibt immerhin zwei Dissertationen, die bisweilen sogar im Antiquariatshandel auftauchen, dann scheint der Franzose in mehr als nur einer Hinsicht eher ein Fall für den Psychiater oder die moderne Selbsthilfegruppe als ein Fall für die Geschichte der Literatur in Frankreich. Becque war, gemessen an seinen Ansprüchen, nahezu ungewöhnlich erfolglos. Was ihn aber vollkommen anders als manch andere Autoren ähnlicher Erfahrungslage nicht in Selbstzweifel trieb, nicht zu nie enden wollender Unzufriedenheit mit eigenen Werken. Er gab aller Welt, insbesondere aber zwei bis drei Lieblingsfeinden alle Schuld, ließ keine Gelegenheit aus, das auch öffentlich zu machen. Und der Hauptfeind hieß Sarcey, Francisque Sarcey in Eloessers Buch, Onkel Sarcey in der Sonntagsbeilage. Sarcey (8. Oktober 1827 – 16. Mai 1899), zehn Jahre älter als Becque, überlebte diesen um einen reichlichen Monat. Beide waren für den Porträtisten Eloesser damit Gegenwart, wobei auffällt, dass sein Sarcey-Porträt den Namen Becque kein einziges Mal aufruft. Man könnte daraus folgern, dass Sarcey Becque in seinem Kritikerleben nicht annähernd so ernst und wichtig genommen hat wie Becque ihn als die Quelle aller Übel.

Zur „Parisienne“ gab Arthur Eloesser seinen Lesern in der Vossischen Zeitung 1909 diesen Hintergrund: „Diese Komödie hat eine merkwürdige Geschichte, sie ist nicht mehr das, was sie war oder in Becques Sinn sein sollte: sie hat sich gegen die ursprüngliche Intention des Dichters gekehrt. Ihr verbitterter Schöpfer, der größte literarische Pechvogel seiner Zeit, wollte an der Pariserin dramatische Rache nehmen, die ihn wahrscheinlich betrogen hatte wie sein ganzes Leben, wie jede seiner Hoffnungen. La donna e mobile war ihm durchaus nicht genug; er wollte das Weib als verlogen, frech und unempfindlich denunzieren. Aber die französischen Schauspielerinnen scheinen sich gegen Becque verschworen zu haben; sie geben seiner Pariserin, was er ihr nicht gönnen wollte, Grazie, Liebenswürdigkeit und sogar etwas flatternde Empfindung. Die Réjane tat es und die Despréz tut es auch.“ Réjane, eigentlich Gabrielle Charlotte Réju (6. Juni 1856 – 14. Juni 1920), war eine schon früh gefeierte französische Schauspielerin, leitete von 1905 bis 1918 ihr eigenes Theater, das Theatre Réjane. Als sie im Dezember 1905 in Berlin gastierte, erlebte sie der Kritiker Eloesser gleich viermal hintereinander im Berliner Theater, als Clotilde in der „Parisienne“ gastierte sie damals allerdings nicht. Eloesser muss sie demnach noch in Paris gesehen haben.

Im Berliner Theater an der Charlottenstraße sah er Suzanne Després (16. Dezember 1875 – 1. Juli 1951) als Clotilde. „Die Despréz hat nicht so viel Kobolde in ihrem Dienst wie die Réjane, sie ist einfacher, herzlicher, wie sie dem Publikum immer das ganze Gesicht zeigt, auf dem kein Falsch wohnt. Dadurch wird die Komödie noch weicher, fast zu einer Rechtfertigung der Frau, die zwischen gleich dummen Männern, vertrauensseligen, misstrauischen oder brutalen, nicht anders kann als täuschen. Aber das Stück hat so viel Qualität, dass es auch in dieser Auslegung an seinem diskreten Witz, an seiner geistigen Helligkeit nichts verliert. Die Despréz, die nicht viel Spiel hat, die statt der kultivierten Nuance die gewinnende Einfachheit ihrer Persönlichkeit einsetzt, gibt das Herz und die Herzhaftigkeit dazu.“ Eloesser scheute sich nicht, vom „ feinsten französischen Lustspiel der letzten Jahrzehnte“ zu schreiben und es gegen die „Bernsteiniaden“ abzusetzen, die Theaterwerke von Henri Bernstein (20. Juni 1876 – 27. November 1953) also. In seinem Porträt aus dem Jahr 1903 beschäftigt sich Eloesser natürlich mit dem Problem der Erfolglosigkeit Becques, die dieser hauptsächlich den ablehnende Aussagen von „Onkel Sarcey“(so nannte ihn das Pariser Publikum, er war eine Institution wie nur selten ein Kritiker) anlastete, dem die Theater folgten.

Hier schreibt Eloesser, dass die Réjane die „Parisienne“ auch in Deutschland spielte, er kann es also im französischen Original in Paris und in Berlin gesehen haben, lange bevor er selbst eine Kritik dazu zu schreiben beauftragt war. Angeblich war Becque die Komödie, verglichen „Die Raben“, nicht mehr als der Versuch, dem Publikum zu beweisen, er könne auch das. „Wie immer ist Becque mit seiner beharrlichen Logik noch gründlicher vorgegangen, er hat die kleinen Verständigungen mit dem Publikum durchaus verschmäht … so dass sich in diesem äußerst spröden, geschlossenen Kunstwerk keine Stelle aufweisen lässt, in der er sich als Moralist und Satiriker direkt an die Zuschauer wendet. … die Figuren schwimmen fortwährend in Komik, weil sie ganz natürlich und unbewusst mit moralischen Begriffen arbeiten, die ihren unmoralischen Handlungen ins Gesicht schlagen.“ Er verschmähte also absichtlich genau das, was anderen Autoren wie Maurice Donnay (12. Oktober 1859 – 31. März 1945) oder Henri Lavedan (9. April 1859 – 4. September 1940) zum Erfolg verhalf, zumindest ein wesentlicher Erfolgsfaktor war. Dass beide mehr als zwanzig Jahre jünger waren als er selbst, wird Becque wenigstens uneingestanden ebenfalls gewurmt haben. Als er mit nicht ganz 62 Lebensjahren starb, hatten beide eben die Hälfte ihres langen Lebens hinter sich.

Rita Schober sah für ihre DDR-Leser die „Parisienne“ so: „Im Grunde behandelt dieses Stück die alte Geschichte vom gehörnten Ehemann … beruht die komische Wirkung bei Becque auf der Verkehrung der normalen Verhältnisse und Beziehungen. Du Mesnil ist von einer geradezu entwaffnenden Nachsicht, fast das Muster eines bequemen, liebevollen Gatten. Und Clotilde ist ihm auch auf ihre Weise ehrlich zugetan. Wenn er Sorgen hat, versucht sie ihn zu trösten, und wenn er beruflich nicht weiterkommt, nimmt sie mit ihren Mitteln die Sache in die Hand. Und ein erneuter kleiner Ehebruch spielt dabei keine Rolle. Im Grunde begeht sie ihn fast ihrem Mann zuliebe, besser gesagt, ihrer sozialen Stellung und Geltung zuliebe. Und so wird hinter dem alten, anscheinend nur im privaten Bezirk spielenden Thema eine von den intimen zwischenmenschlichen Beziehungen her angesetzte Gesellschaftskritik sichtbar, die sich gegen die Reüssierungspraktiken in den Verwaltungsapparaten, die Scheinmoral der sogenannten ehrbaren Bürger, gegen ihre Spießigkeit und Hohlheit richtet.“ Henri Becque hätte somit getan, was reihenweise anderer Autoren vor ihm, neben ihm und nach ihm auch immer wieder taten. Die DDR verlangte Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen des Kapitalismus, um bürgerliche Literatur zum Erbe zu machen.

Zwei Werke Becques schafften es immerhin in einen DDR-Verlag, doch nach 1970 war damit auch schon wieder Schluss. Von Inszenierungen auf einer DDR-Bühne weiß ich bis eben nichts, in Westberlin sah immerhin Friedrich Luft „Die Pariserin“ im Theater am Kurfürstendamm. Seine Kritik stand am 24. Dezember 1958 in der Zeitung, da stand noch keine Mauer, auch Ost-Berliner hätten also sehen können, was den Kritiker zu diesem Fazit drängte: „Dieser Abend ist auf seine seltene Art eine kleine Wonne, großstädtisch, hurtig, künstlerisch perfekt angerichtet und voller kluger Albernheit. Der Beifall war enorm.“ Für Arthur Eloesser stellt sich das Stück noch anders dar: „Es war deshalb eine große Ungerechtigkeit, dass Becque seine Clotilde „Die Pariserin“ nannte, als ob sie diesen Typus repräsentierte. … Becque hat sich da von seinem methodischen Hass bis zu psychologischen Unmöglichkeiten hinreißen lassen, … Die „Parisienne“ ist ein grausames Werk in ihrer harten Abgeschlossenheit und Unerbittlichkeit, aber doch menschlich“. Man beleidigt nicht ungestraft die Pariserin, könnte man sicher auch sagen. Becque tat es, nur gab es dazumal noch keine feministischen Boykott-Aufrufe und die Theater engagierten keine Zensur-Firmen, die an der Geschäftsidee Correctness ihr Auskommen zu finden hoffen und es jetzt bald finden werden.

„Becque hat nicht zu den durch diesen Glanz Verführten gehört, er hatte vielleicht nicht genug Sinnlichkeit, um sich bezaubern zu lassen … jedenfalls fehlt es ihm an der Sympathie für den Formenschatz einer alten überfeinerten Kultur“. Er ist „an ursprünglichem Talent allen gleichzeitigen Dramatikern überlegen … Wenn er als rücksichtsloser Neuerer, als starrköpfiger Revolutionär aufzutreten schien, so lag es vielleicht daran, dass er verspätet auf eine Welt kam, von der er abgestoßen wurde … Sein Stil ist von einer altfränkischen Reinheit, die allen Sprachneuerungen, allen modernen Kaprizen und Eigenwilligkeiten fremd ist“. Eloesser sieht ihn eher bei Moliere oder, mit den „Raben“ bei Diderot. Und vergleicht ihn, lange bevor er sich selbst als Herausgeber seiner Werke betätigt, mit Otto Ludwig: „Ihm fehlte wie unserem unglücklichen Dichter Otto Ludwig die Fähigkeit abzuschließen … In seinen letzten Lebensjahren galt seine unausgesetzte Anstrengung einer großen Komödie „Polichinelles“, die er mit vorausgenommenem Siegesbewusstsein als das Werk aller Werke verkündete … Aber er hat sich und anderen dieses tragische Unvermögen nie eingestanden“. Und so wurde Becque wohl immer wieder einmal als Kandidat für die Académie francaise gehandelt, wie man heute sagt, nur gewählt wurde er nie.

Zu „Die Raben“ schrieb Karin Rohde in ihrem Nachwort 1967: „... bei der Premiere am 14. September 1882 geriet das Publikum so in Entrüstung, dass nur die unerschrockene Darstellerin der Blanche durch ihr ergreifendes Spiel einen Theaterskandal verhinderte.“ Arthur Eloesser in seinem Porträt: „In den „Raben“ erzählt er das Unglück einer Familie, die, ihres Oberhauptes beraubt, in die Hände von habsüchtigen Freunden und betrügerischen Gesetzesauslegern fällt, und er hat mit den unschuldigen Opfern Mitleid; er will die Gewissen aufrütteln, … aber er hat kein Mitleid mit dem Publikum, das fünf Akte hindurch den monotonen Zug aller Leiden und Qualen mitansehen muss“. Abermals diese Aussage: keine Rücksicht gegen das Publikum. Das müsste Becque für manche und manchen geradezu zum großen Vorbild für heutiges Theaterschaffen machen, auch wenn es gar nicht so gemeint ist, als hätte der Dramatiker sich beim Publikum einzuschleimen. Eloesser glaubt, Becque sei trotz seines Talents „nicht imstande ..., dem Ganzen durch die Künste der Verkürzung und Steigerung eine gefällige Figur zu geben, … wichtiges und unwichtiges erledigt er mit der gleichen langsamen Umständlichkeit … so scheint dieses Stück ein besser gebildeter, aber noch sehr träger Körper, der sich nicht fortbewegen kann, weil ihm die Füße fehlen.“

„Becque, der eine ähnliche Katastrophe in seiner eigenen Familie erlebt hat, setzt in seiner monotonen Wut fortwährend Schwarz gegen Weiß, … alle diese Lumpen sind so brutal wie Tartuffe erst nach seiner Entlarvung. In diesem traurigen Stück ist es fast komisch zu sehen, mit welcher grimmigen Konsequenz Becque seine Lektion erteilt und wie er jedem Mitglied der Familie seine Portion Unglück zuweist“. Arthur Eloesser folgt in einer Hinsicht Henri Becque, die gern dem Naturalismus zugeschlagen wurde, sich selbst aber keineswegs als Naturalismus verstand. „Der Naturalismus dieses Dramas ist eben nur scheinbar, die Beobachtung nur zutreffend, so lange die Familie in ihrem Idyll des Friedens und der Behaglichkeit verharrt. Nach der Katastrophe versteifen sich die einzelnen Figuren so auf ihre Hauptzüge, … dass man sich in die alte Charakterkomödie zurückversetzt glaubt“. Eine Aussage des Herrn Teissier, des schlimmsten der Raben, die der Familien Vigneron ihr Vermögen abgaunern, sei hier zitiert: „Wenn man nicht mehr mit den Leuten reden wollte, mein Freund, weil man ein paar Beleidigungen mit ihnen ausgetauscht hat, könnte man mit niemandem verkehren.“ Im alten Frankreich wussten selbst die großen Gauner noch, was Diplomatie ist, das Wissen ist westeuropäischen Politikern und Diplomaten verloren gegangen.

Noch ehe Arthur Eloesser seinen Lesern die einzelnen Werke Becques vorstellte, versuchte er ihn allgemein zu charakterisieren. „Die Leser der Nekrologe, die den Dichter nicht persönlich gekannt hatten, waren erstaunt, von dem Ableben eines alten Herrn zu lesen, der im Publikum als junger Anfänger galt, als der wichtigste und zugleich querköpfigste Vertreter der naturalistischen Schule auf dem Theater.“ Gemeint sind die Nachrufe von 1899. „… er verlangte von der Dramatik statt der Jongleurkunst der Intrigue eine einfache, verständliche Handlung, statt der Puppen, die sie an ihren Fäden bewegt, Menschen, die sich ihrem Charakter gemäß benehmen … dass das Theater sich nur nach den Gesetzen seiner besonderen Optik zum Spiegel der Welt hergibt. … Den Versuchen der Goncourts und Zolas, den im Roman bewährten Naturalismus auch auf die Bühne zu verpflanzen, hat er sogar ziemlich feindselig gegenübergestanden“. Becque lebte in einer Dachkammer, weiß der Porträtist, „deren Einrichtung aus einem Bett, einer Pritsche, einem Stuhl und einem Spazierstock bestand, von der er aber das grüne Laubmeer der Champs Elysées überblicken konnte“. „So wurde er zu einer grotesken Figur, die zu einer lächerlichen geworden wäre, wenn man seine geniale Bosheit nicht gefürchtet und seine rücksichtslose Aufrichtigkeit nicht geachtet hätte.“

Im Pariser öffentlichen Leben, im Leben der Salons, soll Henri Becque am Ende seines keineswegs langen Lebens durchaus gern gesehen worden sein. Wohl bestehen, wie Arthur Eloesser resümiert, seine „Erinnerungen eines Dramatikers“ fast nur aus Ausfällen gegen alle seine Feinde, er sei ein „Virtuose des Hasses“ gewesen. Wer aber hört solche Ausfälle nicht gern, wenn sie ihn nicht selbst betreffen. Da war Paris eben auch nur ein Dorf. „Seine Erinnerungen und Polemiken enthalten fast keine prinzipiellen Auseinandersetzungen über schwebende dramaturgische Fragen … sie zeigen uns einen armen Teufel … einen Fanatiker der eigenen Sache, der für sich selbst zum Mittelpunkt der Welt wird, … wie eine herbe und starke Originalität fast immer die Opposition der Trägheit und Furchtsamkeit gegen sich wach ruft, aber es ist auch kein Zweifel, dass er an Verfolgungswahn, und was damit bei Künstlern meist identisch ist, an Größenwahn gelitten hat.“ Paul Wiegler hat in seiner 1914 erschienenen „Geschichte der Weltliteratur. Dichtung fremder Völker“ Henri Becque die „begrabene Hoffnung des neuen Dramas“ genannt. Mit „dem misanthropischen Wuchererschauspiel „Les Corbeaux“ und in der ungalanten „Parisienne“ seien ihm aber Werke von Dauer gelungen. Dem hätte Arthur Eloesser sicher nicht widersprochen, auch wenn er es anders gesagt hätte.


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