Erwin Strittmatter: Die blaue Nachtigall oder Der Anfang von etwas

Es gibt Hasen, die, wenn einer auf den Busch DDR klopft, sofort hervorgehüpft kommen. Sie stellen richtig, schießen niedliche kleine Pfeile in Richtung dessen, der vermeintlich an ihrem eigenen Bild rüttelt, schüttelt oder knüttelt. Das geht bis ins Vokabular. Ich spiele deshalb vorsichtshalber die Karawane, die weiter zieht, während die spät berufenen Affirmativ-Wuffis sich zum Kläffen aufwärmen. Als Strittmatters erste vier Nachtigall-Geschichten erschienen, just um die soll es hier gehen, lustwandelte ich mit einer in der Sowjetunion vom Fließband gerutschten Kalaschnikow auf dem Rücken auf vorgeschriebenen Trampelpfaden durch mecklenburgische Ökosysteme, die im Interesse der Erhaltung des Weltfriedens zu listig getarnten Munitionslagern veredelt worden waren. Ehe ich sie dann las, verging eine Weile meines Privatfriedens, den ich nach der Entlassung am 25. April 1973 genoss. Genossen nahmen mir meinen Studienplatz, weil ich mich während meines Friedensdienstes ideologisch zurück entwickelt hatte, meine Tätigkeit als Hilfsarbeiter erlaubte mir aufbauende Lektüre, und ich verhielt mich deshalb wie Strittmatters ONKEL PHILE in Geschichte Nummer 3, die SCHNEEWITTCHEN heißt.

Mit der freilich entscheidenden Einschränkung, dass ich meine Hilfsarbeit ernst nahm, niemand musste je und bis heute für mich meine Zeitungen austragen. Ich gehöre zu der leicht perversen Sorte Mensch, die das, was sie tut, versucht ordentlich zu tun. 38 Jahre nach meiner Erstlektüre bin ich, weil Strittmatters hundertster Geburtstag näher rückt, dem eigennützigen Impuls gefolgt, erst einmal dort wieder ein Bild zu gewinnen von ihm, woher man sich anständigerweise ein Bild von Schriftstellern und Dichtern holen sollte, aus ihren Werken. Ich habe zwar inzwischen gelernt, dass die europäische Kulturgeschichte neu geschrieben werden müsste, falls uns ein Papyrus in die Hände rollte, dem zweifelsfrei zu entnehmen wäre, dass HOMER ein Antisemit war und außerdem seine Mutter schlug, will aber, wenngleich schon eingeschüchtert und nur probehalber, behaupten, dass sich an ILIAS und ODYSSEE nichts ändern würde durch diesen Papyrus.

Ich zitiere: „Ich tanzte Charleston wie eine Vogelscheuche im Wind, und auch daran erinnere ich meine gleichaltrigen Genossen mit Augenzwinkern, denn auch wir unterwarfen uns Moden, die vom Westwind ins Land geweht wurden, aber damals waren wir machtlos – und jetzt? Weshalb machen wir keine Moden? Gekrauste Stirnen, erhobene Zeigefinger und der Typ des gnatz-deutschen Oberlehrers haben keine Chancen, Jugendmode zu werden, und damit die Lehrergewerkschaft nicht erzwingen muß, daß diese Geschichte gedruckt wird: Es gibt auch gute Oberlehrer.“ Das steht in der Titelgeschichte „Die blaue Nachtigall“, in der das erzählende Ich wohl ziemlich nah am Erzähler Strittmatter ist, was heute und künftig schon ein paar Fragen aufwerfen sollte, deren Stellen freilich nicht Eiferern ansteht, die mit Schaum vorm Großhirn zu denken pflegen. Für mich ist aus diesen paar Zeilen eine halbe Geschichtslektion zu gewinnen über die oben erwähnten Büsche und von Strittmatter wahrscheinlich sogar für die genannten Hasen ausdrücklich so und nicht anders geschrieben.

Erwin Strittmatter also erinnerte augenzwinkernd seine gleichaltrigen Genossen daran, dass auch früher etwas aus dem Westen kam. 1972, als das Buch erschien, spielte der Rundfunk der DDR erstmals DEEP PURPLE, ich erinnere mich noch meines urplötzlichen Starrwerdens während einer Schießplatzwache, wähnend, ein Kamerad hätte das verbotene Kofferradio zu allem auch noch auf einen verbotenen Sender gerichtet. Irrtum. Als Strittmatters Buch also erschien, war der vollkommene Wahnsinn der Jugendpolitik im Rundfunk bereits dem halben Wahnsinn gewichen, was manche bis heute gern einen Fortschritt nennen. Erwin Strittmatter war, als er das schrieb, entweder unfassbar naiv, oder er spielte, das ist nachweislich einer seiner Züge, den Naiven, auf alle Fälle ist es Hohn und Spott, die Frage zu stellen, warum WIR keine Moden machen. Wenn irgendetwas den kleinen Arbeiter- und Bauern-Staat auszeichnete, dann dies, dass die Ideologie waggonweise aus dem Osten, die Mode aber vom ersten bis zum letzten Tag immer aus dem Westen kam, Macht war als Kraut dagegen nicht gewachsen.

Es könnte freilich sein, dass Erwin Strittmatter, aus den Ideologie-Waggons gefüllt annahm, man könne Mode PLANEN und BEWUSST produzieren, schließlich zeichnet sich der schlechteste Baumeister vor der pfiffigsten Biene dadurch aus, dass er sein Werk VORHER im Kopf hat, hieß es damals, natürlich in Unkenntnis der Köpfe der Bienen. Dann aber kommt es knüppeldick: Der Erzähler meint, vor dem Typ des GNATZ-DEUTSCHEN Oberlehrers warnen zu müssen und sichert sich voll hinterhältigster Ironie scheinheilig gegen eine drohende Gefahr ab. Der nämlich, die Lehrer-Gewerkschaft könne den Druck einer Geschichte verhindern, in der Oberlehrer eine vorbildferne Rolle spielen. Für Leser, die nicht in der DDR sozialisiert wurden: So absurd, wie es klingt, konnte es in der DDR zugehen. Im Bedarfsfalle erfuhr dort tatsächlich eine Gewerkschaft vom INHALT eines Buches vor dessen Veröffentlichung. Denn die Zensoren, nennen wir sie milder die Buchaufsichtsführenden, bedienten sich fallweise der Stimme des Volkes, wenn die Stimme des Volkes benötigt wurde, um ein Verbot oder ein Totschweigen zu legitimieren. Unsere Werktätigen fragen sich, konnte das dann in den Zeitungen heißen, falls es für nötig gehalten wurde, dergleichen überhaupt verlauten zu lassen. Und wenn SCHON die Werktätigen fragen, dann kann es für die Partei der herrschenden Klasse nur heißen: Klasseninstinkt geht über klaren Verstand. Dass nicht einmal das Beispiel Oberlehrer bei Strittmatter aus der Luft gegriffen ist, erhellte viel viel später, als bekannt wurde, dass Margot Honecker höchstselbst angewiesen haben soll, dass in DDR-sozialistischer Kriminalkunst Lehrer nicht als Täter in Erscheinung treten dürfen.

Für den Strittmatter dieses ersten Bandes mit Nachtigall-Geschichten, es folgten später weitere, war es eine Forschungsaufgabe, die er sich stellte. Es ging ihm um den „Zustand von Poesie und Schwerelosigkeit in der Kindheit und in der Jugend, der uns so unwiederbringlich erscheint?“ Sein vorläufiges Forschungsergebnis war: diese Zustände währten immer kurz, waren eher Momente. Ihnen schreibend nahe zu kommen, bot dem 1912 Geborenen immer neue Möglichkeiten, in der eigenen Biographie zu gründeln und man kann heute, dies nur im Nebensatz erwähnt, mit allen aktuellen Kenntnissen der Strittmatter-Biographie sicher sagen, dass allein die auffällige Vielfalt des Figurierens von Autorenleben im Figurenleben höhergradige Selbst-Unsicherheit anzeigt, die neben allen möglichen Ursachen auch die haben könnte, aus einer SCHULD gewachsen zu sein. Zuwendung zu seinen Texten nach der Zuwendung zu seinen Akten könnte tatsächlich neue Aufschlüsse erbringen.

Für mich ist die Zusammenstellung dieser vier Geschichten unter anderem auch das Dokument einer Lösung des Dichters Strittmatter von den ärgsten Manierismen, die er sich in EIN DIENSTAG IM SEPTEMBER allzu unkontrolliert durchgehen ließ. Hier ist echte Poesie, echte Bildhaftigkeit, verwurzelte Nähe, nicht gespielte, wenngleich, alles andere wäre auch ein Wunder, bestimmte Züge, die Marotten nahe kommen, immer zu Strittmatter gehören wie seine Liebe zum Pferd. „Als ich noch ein Pferderäuber war“ ist mir die liebste Geschichte, sie ist ohne jede Einschränkung Genuss-Lektüre. Man erfährt, das Strittmatter sich gern als gemeiner Mann sieht, der allerdings mit Brecht vertraut ist (und mit anderen, das blitzt sicher absichtsvoll gegen die Selbststilisierung immer wieder einmal durch), man lutscht wunderfeine Worte wie „herzheiß“ oder „mückig“, „dennmals“ geht in die Welt hinaus. Darf man einem, der schreibt: „Der Spitz ersparte sich das ewige Anheben eines Hinterbeines, und trippelte auf drei Beinen von Baum zu Baum“ nicht FAST ALLES verzeihen? Der als Kind weinte, als das Pferd sich umdrehte, weil es wohl ahnte, dass es zum Abdecker gebracht wird?

„Schneewittchen“ ist die Heldengeschichte einer Frau, auch wenn im Text selbst überwiegend von dem die Rede ist, der sie letztlich unter die Erde brachte vorzeitig, von diesem Onkel Phile, den ich nur mit sehr sehr viel Mühe als eigentlich sympathisch sehen kann, als das literaturnotorische schwarze Schaf einer Dorfidyll-Familie. Man könnte ihn auch einen asozialen stinkenden Faulpelz nennen, der eine Frau ausnutzt, ja ausbeutet, wie nur der schlimmste Bahnhofslude seine so genannten Bordsteinschwalben. Dass Strittmatter ihm mit vertrackter Erinnerungsliebe begegnet, könnte mit einem Zug des Onkels zu tun haben, den man auch mit großer Mühe kaum negativ sehen kann: Er ist ein fanatischer Leser, der Gegenwart und Zukunft aufs Spiel setzt, wenn er nur lesen kann. So einer kann, deute ich Strittmatter, nie ein ganz schlechter Mensch sein. Auch hier übrigens gibt es Sätze, die dem DDR-Leser, und wohl nur ihm, wie Leuchtsignale erscheinen konnten: „... ... weil es Ekel beim Menschen heraufbeschwört, wenn man ihn immer wieder mit den gleichen Abstraktionen zu füttern versucht.“

Strittmatters eigener Ekel in dieser Hinsicht dokumentiert sich noch in den erwähnten Manierismen, fast phobisch meidet er Allgemeinbegriffe, wo immer es geht, der Nachweis ist leicht zu führen. Und wenn er dann doch einmal etwas wie FREIHEIT in den Blick nimmt, immer noch aus „Schneewittchen“, dann ist das alles andere als eine Phrase aus dem marxistisch-leninistischen Argumentier-Baukasten: „Vielleicht besteht unsere Freiheit, die wir mit dem Menschsein erhalten, darin, daß wir unsere geistige Entwicklung, denn nur sie zählt, aufs ganze gesehen, ein wenig zu beschleunigen vermögen.“ In der Titelgeschichte „Die blaue Nachtigall“ hält er für sich fest: „... ich spürte schon damals, daß nicht wichtig ist, wie etwas benamst wird, sondern ob es mit seinem Dasein große Gefühle in einem auslöst, die einem leben helfen.“ Darüber kann man nachdenken. Darüber kann man sogar lange nachdenken. Und ich verspreche, auf Strittmatter zurückzukommen.


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