Erwin Strittmatter: Paul und die Dame Daniel

Leider weiß ich nicht, was auf dem Klappentext des Schutzumschlages zu lesen und zu sehen war, denn mein Exemplar, vor 1979 für fünf Mark in einem Berliner Antiquariat erworben, hatte keinen Umschlag mehr. Dafür waren und sind einige der Illustrationen von Hans Baltzer akribisch und mit viel Druck auf das wahrlich nicht sehr stabile Papier nachgezogen worden, vermutlich von einem Verklemmten, den die Zeichnung der Petra im Schlüpfer, sich oben ohne etwas über den Kopf ziehend, so sehr animierte, dass er es auch ohne Buch immer sehen können wollte. Das Buch trägt den Untertitel „Eine Liebesgeschichte“ und erschien 1956 im Verlag Das Neue Berlin.

Wenn es denn stimmt, was Annette Leo in ihrer Strittmatter-Biografie behauptet, dass nämlich Strittmatter 1951 einen Generalvertrag mit dem Aufbau-Verlag abschloss, dann wäre es interessant zu erfahren, warum schon wenige Jahre später und nur für dieses eine Buch, der Generalvertrag seine Gültigkeit nicht einforderte. Da Annette Leo die Liebesgeschichte „Paul und die Dame Daniel“ aber gar nicht kennt, jedenfalls erwähnt sie sie an keiner einzigen Stelle ihres umfänglichen Buches, nicht einmal im Werkverzeichnis, kann sie die Frage danach weder stellen noch beantworten. In den in diesem Jahr erstmals veröffentlichten Tagebuchauszügen Strittmatters unter dem Titel „Nachrichten aus meinem Leben“ (Aufbau-Verlag) taucht die Liebesgeschichte ein einziges Mal auf, unter dem Datum des 29. Dezember 1955. Herausgeberin Almut Giesecke hält eine irgendwie geartete Anmerkung ihrerseits zu diesem somit fast verschwiegenen Buch für überflüssig, nennt im Apparat lediglich Verlag und Erscheinungsjahr.

Wäre also eine sensationsverdächtige Wiederentdeckung zu vermelden aus dem von zahlreichen seltsamen Flugobjekten durchsausten Strittmatter-Kosmos? Natürlich nicht. Diese Liebesgeschichte verdient in heutiger Artikulation vielleicht am ehesten das Prädikat SCHRÄG. Denn der Bestarbeiter Paul, der mit der Straßenbahnschaffnerin Petra lebt und ein Kind hat und im Berlin der frühesten DDR-Jahre in unmittelbarer Nachbarschaft zur Stalinallee mit ihren „Schlössern“ Erdarbeiten verrichtet, plaudert vor sich hin, dass einem heutigen Leser zunächst die Schweißperlen auf die Stirn treten möchten, nicht zu denken an heutige Leserinnen. Dieser seltsame proletarische Macho, der aus seinem Graben heraus eines Tages die Dame Daniel wahrnimmt und eine Liebesgeschichte beginnt, die sich nahezu ausschließlich in seinem Kopf abspielt, redet sich um jede Sympathie. Dann aber, und hier liegt die Tücke des Werkes, wird fast von Seite zu Seite mehr klar: Hier kann es sich nur um eine besonders hinterhältig gedachte Satire handeln.

Es sollte deshalb kurz die Nase aus dem Buch genommen werden: Wenn Strittmatter im Tagebuch von Ende 1955 den Beginn von Korrektur und Reinschrift festhält, erfahren wir somit nicht nur, dass das Buch, das vorher nirgends eine Rolle spielte, jetzt nahezu fertig ist. „Evchen arbeitete vor. Wir besprechen ihre Korrekturvorschläge und nach erzielter Einstimmigkeit schreibe ich Absatz für Absatz ins Reine. Eine gute Methode, bei der wir uns schöpferisch aneinander entzünden.“ Wir können auch davon ausgehen, dass Eva Strittmatter, die zum diesem Zeitpunkt zwar schon länger eine gemeinsame Wohnung mit Strittmatter in der Stalinallee 107 hatte, aber noch Eva Braun hieß, das Werk goutierte in all seinen Wunderlichkeiten. Strittmatter war, als das Buch 1956 auf den Markt kam, zweifacher Nationalpreisträger. Man durfte also, ohne ihn zu überfordern, auf Gewichtiges hoffen. Er aber lieferte ein Buch fürs literarische Kuriositätenkabinett.

Das Buch entstand ziemlich sicher nach Stalins Tod und dem 17. Juni 1953 und auf alle Fälle vor dem 20. Parteitag der KPdSU, der erstmals parteiamtlich die Verbrechen des eben noch „Vater der Völker“ genannten und auch von allzu vielen DDR-Autoren kritiklos gelobten Mannes scheinöffentlich machte in jener Geheimrede Chruschtschows, die natürlich auch Strittmatter las, als sie kursierte in Kreisen mit Zugang zu Geheimreden. In dem Buch vom verliebten Bestarbeiter, der meint, mit Schlips und Kragen und einem neuen Zollstock in der oberen Brusttasche seiner neuen Arbeitsbluse eine bürgerliche Uhrmacherin beeindrucken zu können, die täglich an seinem Graben vorbeistöckelt, ist von Politik eher beiläufig die Rede. Interessant ist, dass die ironische Brechung im Erzählen zusätzlich gebrochen wird durch die Illustrationen Hans Baltzers. Der hält es nicht für nötig, den Helden gleich aussehen zu lassen auf verschiedenen Zeichnungen und er hält es ebenso nicht für nötig, wenigstens den Erzähler nicht wie eine Witzfigur darzustellen.

In der nicht zuletzt von der frühen Eva Braun massiv vertretenen offiziösen DDR-Literatur-Doktrin spielte der positive Held, der Arbeiter als Verkörperer des Fortschritts, als Träger des Klassenbewusstseins, als Inhaber des legendären Klasseninstinktes, der ihn die richtigen Entscheidungen treffen lässt, auf die Intellektuelle selbst nach langem Nachdenken nur kommen, wenn sie ihren kleinbürgerlichen Schatten überspringen, eine tragende Rolle. Bei Strittmatter ist Paul zwar Bestarbeiter, aber das dient ihm vor allem dazu, vor sich selbst und gegenüber den Behörden, was er leider vermasselt, den Anspruch auf eine bessere Wohnung zu begründen. Wie tückisch die Ironie ist, die Strittmatter anwendet, erhellt an dieser Stelle besonders, denn Paul strebt nicht etwa nach einer größeren Wohnung wie jeder beliebige Spießer, sondern nach einer mit höheren Zimmern! Das würde einem Bestarbeiter angemessen sein. Paul macht sich über einen früheren Freund seiner Frau Petra lustig, weil der immerzu Bücher las, während in Pauls Haushalt sich lediglich jene fünf Bücher befinden, die es als Hochzeitsgeschenke gab. Der andere wollte sogar studieren, was Paul aufs höchste erheitert. Sein Geld, mit der Schaufel in der Hand verdient am Grunde von Baugräben in Berlin, reicht allemal, so heißt im Text, mit einer Dame einen Abend im Café „Budapest“ zu verbringen.

Kaum hat Pauls Grabenblick die Dame Daniel geortet, verabschiedet er sich innerlich von Frau und Tochter (hier muss man aus heutiger Biografie-Kenntnis nun doch wenigstens kurz an den Autor selbst denken, der im Verlassen von Frauen und Söhnen wenig rühmliche Eigenerfahrungen gemacht hatte, dem keine Hauptfrau ohne Nebenfrau und selten eine Nebenfrau ohne zusätzliche Nebenfrau unterlief, glaubt man den Darlegungen bei Annette Leo). Wie leicht Paul das in seinem eigenen Denken fällt, ist frappierend, wie wenig ihm offenbar das Kind bedeutet, ist noch frappierender. Wie albern und dümmlich er seine eigene Frau provoziert, wie er die Verhältnisse wissentlich umkehrt, wie er das als Vorwurf an sie formuliert, was er selbst an ihr begeht, das alles ist starker Toback und tatsächlich nur erträglich unter der Annahme, es handele sich um vertrackte und letztlich doch nicht sonderlich gelungene Satire. Denn was sonst wollte Strittmatter erzählen?

Im hinteren Teil des Buches, es umfasst nur 148 Seiten und ist insgesamt aus der Rückschau des Folgejahres erzählt, macht der Ich-Erzähler Paul die angebetete Dame Daniel zu einer Betrügerin. Sie betreibt ihre Uhrmacherei als ahnungslose Gattin des im Krieg gefallenen Meisters einfach weiter, sie bedient sich dabei eines Mannes, dem der Erzähler äußerliche Attribute eines Westberliner Bill-Haley-Imitators anheftet und, das ist dann wohl der berühmte Tropfen zu viel, der alles umkippen lässt, die Dame hat auch eigenartige Überzeugungen, vorsichtig formuliert. Sie spricht vom Krieg, den Hitler „leider“ verloren hat, sie spricht von Männern, die es leider nicht mehr gibt, weil die Besten im Krieg gefallen sind. Sie empfindet die Frage nach ihrem Beruf als Zumutung, sie sei schließlich verheiratet gewesen. Somit ist Paul plötzlich ein Desillusionierter und rasant schnell entdeckt er seine Straßenbahnschaffnerin wieder.

Mit dem Erfolg im Rücken, der darin besteht, dass die Dame Daniel ihren Laden aufgeben muss, Strittmatter lässt sie weich landen in der Uhrenabteilung der „Staatlichen Handelsorganisation“ in der Stalinallee, entdeckt der Bestarbeiter weitere Sünden gegen das Proletariat. Blumenhändler wagen es doch tatsächlich, bestimmte Sträuße, die das Bauarbeiterauge als gleich ansieht, zu unterschiedlichen Preisen zu verkaufen. Was Markt wäre, wenn es ihn denn gegeben hätte, grenzt für den Bestarbeiter an Wirtschaftskriminalität und so denunziert er das Geschehen bei Handwerkskammer und Gewerbeaufsicht, er MELDET, heißt das in seiner Sicht. Nur ganz am Ende auf der vorletzten Seite, steht ein Satz, der heute feuilletonamtlich VERSTÖREND genannt werden soll: „Draußen in der herben Luft kroch meine Seele mühsam auf ein Podest. Ich fand Trost bei dem Gedanken, daß Frau Daniel nun keinen Kunden mehr betrügen konnte.“ Hat da möglicherweise Paul doch so etwas wie ein schlechtes Gewissen? Ob Erwin Strittmatter je Trost beim Blick auf dieses erstaunliche Buch fand, wenn es ihm wieder einmal in die Hände geriet? Diese am heutigen 100. Geburtstag gestellte Frage allein macht klar, das Annette Leos Buch gar nicht DIE Biografie sein kann, wie der Untertitel behauptet. Es bleibt zu viel, das nach Antwort ruft. Es bleibt fast mehr, zu dem die Fragen erst formuliert werden müssen.


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