Franz Fühmann: Das Wintermärchen

Also: Es spielt ein riesiges rot und blau kariertes Taschentuch eine Rolle. Es steckt in der Tasche eines alten Schäfers, der es wie andere Leute auch herauszieht und hineinschnaubt, wenn es sein muss. Das Schnauben bewirkt erstaunliche Dinge. Kronen rollen von Königsköpfen und der Thron hüpft bei Gelegenheit wie ein Froschjunges. Franz Fühmann, der sich das ausgedacht hat, hat sich weniger ausgedacht, als man denken könnte. Er hat einfach William Shakespeare hergenommen, dessen späte Komödie „Das Wintermärchen“ gelesen und sich gedacht: Daraus könnte man ein Märchen für Kinder machen, wobei die Märchen für Kinder und die Märchen für Erwachsene sich ja gar nicht so fürcherlich voneinander unterscheiden.

Dass beim alten Shakespeare sich alles zwischen den beiden Reichen Sizilien und Böhmen abspielt, hat Fühmann irgendwie gestört. Und das kann nicht nur daran gelegen haben, dass Shakespeare Böhmen ans Meer verlegte. Das wiederum gefiel Fühmann eigentlich und deshalb schrieb er sogar eine längere Erzählung mit genau diesem Titel „Böhmen am Meer“. In der er allerdings von sich selbst spricht und den alten Shakespeare nur so heranzieht, assoziativ und per Motto. In seinem Märchen für Kinder aber verwandeln sich Sizilien und Böhmen in Südland und Nordland, es sind Königreiche, weil in Märchen Republiken einfach nicht annähernd so gut passen. Denn welche Republik hat schon einen Mundschenk, der Mordaufträge entgegen nimmt und dann dreist nicht ausführt? Bei Königen dagegen, da geht es so her.

Franz Fühmann ist ein Autor mit Ambitionen besonderer Art. Er beginnt so: „Es waren einmal zwei Könige, die liebten einander wie Brüder, obwohl ihre Reiche weit voneinander entfernt lagen.“ Das ist für Kinder schon fast zu viel. Denn schon dass Brüder einander lieben, ist alles andere als selbstverständlich, diese Brüder aber lieben sich, OBWOHL ihre Reiche weit auseinander liegen. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen wie ein königliches Lutschbonbon. Weil es eben einschließt, dass benachbarte Reiche für mehr Liebesvolumen prädestiniert seien, was sich wahrscheinlich auch mit akribischster Feldforschung kaum wird erweisen lassen in der so genannten Realität.

Die beiden Könige also lieben sich nicht nur wie die Liebesweltmeister, sie besuchen sich auch andauernd, wobei es so scheint, als käme der Nordkönig lieber in den Süden als umgekehrt der Südkönig in den Norden. Was möglicherweise mit den Temperaturen und den Schafen zu tun hat, denn im Norden ist es auch im Märchen kälter als im Süden und die Bräuche sind nördlicher. Bei Shakespeare und also auch bei Fühmann gerät der ausgedehnte Staatsbesuch ins Tragische, als der Nordkönig nach Hause strebt, weil auch der schönste Ausflug keiner mehr wäre, wenn er nicht endete. Warum nun der Nordkönig unbedingt noch genau eine Woche bleiben soll, obwohl er doch schon deutlich länger da war, das ist das Geheimnis des Wintermärchens, das ungelüftet bleibt. Während jedoch der Südkönig mit seinen Überredungskünsten für die eine Woche scheitert, schafft es Hermione, seine Gattin, fast im Handumdrehen.

Nun aber ist es, als hätte den Südkönig Leontes der Schlag getroffen. Er wird dadurch freilich nicht gelähmt, sondern in Hyperaktivität versetzt. Er ist von jetzt auf gleich eifersüchtig wie ein Rasender, in seiner Eifersucht blind und beratungsresistent wie ein alter Lokalredakteur nach 35 Dienstjahren an der Feuerwehrfestfront. Er wähnt sich von Gattin und Bruderkönig im Leben bedroht und weil das der sicherste Weg scheint, will er Polyx, den um die Länge seines Namens durch Fühmann beraubten Nordkönig, seinerseits ermorden lassen. Der Auftragskiller aber frönt seltsamen Ansichten: „... und eben weil er seinen König so liebte, beschloß er, nicht nach dessen Befehl zu handeln.“ Könige lieben solche Überzeugungen nie, auch wenn es ihnen gut bekäme und weil der gedungene Mundschenk Camillo das wiederum sich lebhaft vorstellen kann, flüchtet er bei Nacht und ohne Nebel mit dem Nordkönig nach Norden. Fluchtschiffe stehen zu diesem Zwecke, wie es der Märchenzufall so will, startklar unter Segeln.

Fühmann, der Märchenmann, war, als er schrieb, ein DDR-Schriftsteller. In diesem kleinen Land, das sich selbst ein Leseland zu sein dünkte, manche erinnern sich, gab es die Sondergewohnheit, nicht nur das gedruckte Schwarze zu lesen, welches, alter Witz, die Buchstaben waren und die aus ihnen gebildeten Wörter, man las auch zwischen den Zeilen. Es soll Leser gegeben haben damals, also vor märchenhaft langer Zeit, die nur zwischen den Zeilen lasen und falls da nichts stand oder nichts, was den Mundzumundpropagandisten auf Weitersagepfade trieb, war das Schwarze wie gar nicht vorhanden. Fühmann wusste wie alle, die schrieben, dass und wie das funktionierte und man wundert sich bis heute, ob die Zensoren tatsächlich bisweilen Humor hatten oder dämlicher waren, als die Geheimpolizei erlaubte.

Im Wintermärchen behauptet also Onkel Fühmann für alle Kinder: „Wehe den Königen, die nur nach ihrer Willkür handeln und speichelleckerische Räte um sich scharen!“ Sarah Kirsch wusste fast zeitgleich, wie allein man ist, wenn man den Königen schreibt. Fühmann legte das seiner Paulina in den Mund, die er zu einer sehr mutigen Frau macht, mutiger noch als bei Shakespeare. „Von all diesen Männern war keiner Manns genug, dem König die Wahrheit ins Gesicht zu sagen und die Unschuld der Königin zu bezeugen.“ Es sollen solche Männer bisweilen ganze Politbüros gebildet haben in kleinen und größeren Ländern, die ihren König Generalsekretär oder Staatsratsvorsitzender nannten. Und dort waren es leider nicht sofort Frauen, die den Mut aufbrachten, aber vielleicht glaubten Märchenerzähler wie Franz Fühmann, mit solchen Märchen solche Frauen zu erwecken für bessere Zeiten?

Wenn hinreichend lange hinreichend scheußliche Verhältnisse herrschen, verwandeln sich auch die feigsten Feiglinge. Deshalb erzählt Fühmann eigens vom Schicksal der Räte: „Kein Wunder, daß sie das verdroß und daß nach zwanzig Jahren solchen Hungerlebens sogar sie, die feigsten aller Männer, aufzumucken begannen.“ Dergleichen könnte man als Darlegung der Theorie des Historischen Materialismus am praktischen Beispiel verstehen. Die feigen Räte gehen nämlich normalerweise ihren privaten Vergnügungen nach, wenn sie der König nicht braucht fürs Beifallklatschen oder Abschiedswinken auf königlichen Flugplätzen. Diese hier müssen jedoch mit ihrem König trauern und fasten. Was sie nach nur zwanzig Jahren beinahe in Revolutionäre verwandelt, man kennt das. Zwischendurch ist nämlich in beiden Reichen dies und das geschehen, was hier natürlich nicht haarklein wiederholt werden darf.

Denn sonst wäre der Hinweis auf eine ziemlich neue Ausgabe des Wintermärchens im Rostocker Hinstorff-Verlag, der schon früher, als Fühmann noch lebte, sein Verlag war, ja ziemlich überflüssig. Diese neue Ausgabe versah eine in Thüringen lebende Illustratorin, die in Darmstadt geboren wurde und im Internet zwei verschiedene Alter hat, mit Bildern. Sie heißt Jacky Gleich. Hingewiesen sei auf meinen Text HINTERHÄNGER FÜR SHAKESPEARE in LOKAL-SPLITTER. Hingewiesen sei auf die Premiere des Wintermärchen von Shakespeare am Weimarer Nationaltheater am 22. September, über die ich berichten werde.


Joomla 2.5 Templates von SiteGround