Brigitte Reimann: Das grüne Licht der Steppen

Am 20. Februar 1973 schrieb ich einen langen Brief nach Halle, er hat etwas von Katzenjammer. Dass es der Tag war, an dem Brigitte Reimann starb, keine vierzig Jahre alt, wusste ich natürlich nicht. Und wenn ich es gewusst hätte, wäre es kaum in den Brief geraten. Ich kannte zu diesem Zeitpunkt nur zwei Bücher von ihr: „Die Frau am Pranger“ und „Ankunft im Alltag“, beide im Mai gelesen zufälligerweise, das erste 1968, das zweite 1971 in der Abiturzeit. Später gab es einen IM „Fischer“, der mir nicht nur wiederholt ein Gespräch über Erich Loest aufnötigen wollte, an dessen Schaffen ich kein Interesse zeigte, soweit es nicht seine unter Pseudonym verfassten Kriminalromane betraf. Er erkundigte sich auch in regelmäßigen Abständen, ob ich nicht endlich „Franziska Linkerhand“ gelesen hätte und ich hatte nicht. Meine früh ausgeprägte Abneigung gegen Bücher in aller Munde hatte nicht zuerst mit den Büchern, wohl aber mit den Mündern zu tun.

1965 aber, als das „Tagebuch einer Sibirienreise“ zuerst erschien, war ich zwölf Jahre alt. Mich interessierte Ungarn, nicht Sibirien. Der Buchclub 65 begann gerade, die sozialistische Alternative zu Bertelsmann im Westen zu spielen, die Clubregel besagte, dass man eine bestimmte Zahl sowjetischer Titel nehmen musste, um Zugriff auf den Rest zur Wahl zu bekommen. Noch heute stehen etliche Bücher in meinen Regalen, die das Club-Logo auf dem Rücken tragen und viele von ihnen habe ich auch tatsächlich gelesen. 1964, als Brigitte Reimann von heute auf morgen jene Sibirienreise angetragen bekam, stand mir Reiseliteratur schon durchaus nah. Ich las „In Firn und Fels der Siebentausender“ von D. M. Satulowski, fast 500 Seiten stark, interessierte mich für Afrika, die antike Sagenwelt und auch schon für einen jungen Mann mit Vornamen Friedrich, der als „Rebell auf der Karlsschule“ zum Jugendliteraturhelden avancierte. Dessen erste nennenswerte Reise ihn nach Bauerbach bei Meiningen führte.

Brigitte Reimann reiste in einer Delegation des Zentralrates der Freien Deutschen Jugend (FDJ), an der Spitze der damalige oberste FDJ-Chef Horst Schumann, der sein schreibendes Delegationsmitglied um fast 21 Jahre überlebte. Ihre nächste Bezugsperson während der Reise war Kurt Turba (1929 bis 2007), der zehn Jahre lang Chefredakteur der Studentenzeitung „Forum“ war, darunter rund acht Jahre, ohne im Impressum als solcher genannt zu sein, eine von vielen kuriosen DDR-Geschichten. An ihn lehnte sich Brigitte Reimann auch ganz buchstäblich an, bei ihm weinte sie sich aus, ihn bewunderte sie, vor ihm hatte sie Versagensängste und das Bedürfnis, zu ihm aufzuschauen. Er hat sie auch, noch während der Reise, gegen Anwürfe verteidigt, sie sei nicht parteilich genug, wobei sich das Urteil am Umstand festmachte, dass sie nicht enthemmt soff wie offenbar andere Mitreisende, vor allem die Funktionäre.

Die Taschenbuch-Ausgabe des Aufbau-Verlages ergänzt das alte Reisetagebuch durch Auszüge aus „Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1964 – 1970“ (ebenfalls Aufbau). Unter dem 17. Juli 1964 heißt es dort: „Eine ganze Anzahl von der Delegation mag ich nicht leiden. Sie sind beschränkt und ordinär und verlieren jede Würde, wenn sie trinken. Sie machen aus jedem Fest einen deutschen Bierabend, reißen Zoten und singen dumme Lieder. Und sowas im Zentralrat!“ Sie selbst lebte eben in Scheidung von ihrem zweiten Mann Siegfried Pitschmann, den ich viel später noch kurz kennen lernte im Miniverbändchen Suhl der Schriftsteller der DDR, auch er trank, auch sie trank, wie wir inzwischen wissen und verfilmt gesehen haben. Das russische Trinken aber, von ganzen DSF-Generationen beschönigt und verharmlost, war noch etwas anderes. Dort soff man sich um den Verstand, man soff sich tot, man soff Landwirtschaft und Wirtschaft in letale Dauerkrisen. Geschichten von sowjetischen Wodka-Orgien haben mich nach 1980 lange überlegen lassen, ob das halbe Pflichtjahr dort auf dem Weg zur B-Promotion ein zu hoher Preis sein könnte. Bis zur Entscheidung darüber ist es aus anderen Gründen nicht gekommen.

Brigitte Reimann hat ein euphorisches Sowjetunion-Buch geschrieben, Der Titel „Das grüne Licht der Steppen“ klingt poetischer, als das Buch ist. Wer auf der Suche ist nach demonstrativ Ungeschminktem, wird kaum fündig. Allerdings zeigen die beigegebenen Auszüge aus dem privaten Tagebuch keine nennenswerten Differenzen in den Kernaussagen. Das veröffentlichte Tagebuch ist so wenig ein Dokument gelebter Selbstzensur wie das zunächst unveröffentlichte die Sammlung der Apokryphen darstellt. Die 1933 geborene, also während der Reise 30 Jahre alte schon bekannte Autorin, hatte noch alle Hoffnungen, alle Überzeugungen, wenn man so will, alle Illusionen. Sie neigte dazu, ihr Verhältnis zur Welt fast kokett rollenweiblich zu personalisieren. Wohl klagt sie über das übervoll gepackte Reiseprogramm, bemerkt, wie wenig Zeit zu Muße und Betrachtung, gar zu eigener Erkundung bleibt. Der Gedanke, das volle Programm habe gerade genau dies zum Ziel, kommt ihr nicht.

Sicher war 1964 die Deutsch-Sowjetische Freundschaft noch nicht so unerträglich ritualisiert wie später, die gespielte Oberfläche des unendlichen Enthusiasmus im Fernen Osten schien noch das Wesen zu widerspiegeln, aber schon damals fiel der Beobachterin auf, wie wenig innerhalb der allgemeinen Betriebsamkeit, der konvulsivischen Geschäftigkeit von Gastmählern, Kulturprogrammen, Heldenvorführungen, Gigantomanie-Demonstrationen tatsächliche produktive Arbeit vorkam. Sie durfte mit einer Maschinenpistole schießen und mit einer Makarow, sie saß in Präsidien und überall jubelten Pioniere und Komsomolzen, die offenbar freie Verfügungsmasse der kommandierenden Funktionäre waren, die Autorin hat darauf keinen halben Gedanken verschwendet. Dies ist ihr nicht anzukreiden. Denn sie hat sich auf die Reise gar nicht vorbereiten können, so kurzfristig, wie sie zur Teilnahme quasi befohlen wurde. Sie hat Flugängste überwunden und mehr an einem Tag gegessen als zu Hause in einer Woche. 1963 war eine große Missernte in der Sowjetunion, eine von vielen in deren Geschichte. Die Gäste aus der DDR sollten davon nichts bemerken. Das war noch 1987 so, als ich Moskau, Minsk und Brest erlebte, nur sahen wir, weil das Programm Freizeit enthielt, das ganze Drama der finalen sowjetischen Mangel-und Misswirtschaft in jedem einzelnen Lebensmittelladen, in jedem sonstigen Geschäft mit Waren des täglichen Bedarfs. Diese Wirtschaft führte eben nicht, wie die naiven Helden der Großbauten in Sibirien, denen Brigitte Reimann begegnete, es glauben wollten, geradewegs und schnell in den Kommunismus, gar in Bratsk oder Nowosibirsk noch eher als in Moskau.

Viel Russland- und Sowjetunion-Kenntnis hat Brigitte Reimann aus Literatur bezogen. Im Reisebuch sind nicht nur die ganz großen Namen präsent, sondern auch etliche, die heute schon der Erklärung bedürften. Also neben Dostojewski und Tolstoi auch Arbusow und Axjonow, Kusnezow, Majakowski, Ehrenburg, die Achmatowa, Pasternak, wiederholt Pasternak, das ist für 1964 schon nicht so selbstverständlich, Krylow, Pogodin, Granin, Gladkow, Gontschar. Ihr fällt auf, dass man in den Weiten Sibiriens mit ausländischer Literatur unverkrampfter umgeht. Sie freut sich, wenn ihr junge Leute begegnen, die ihren jüngsten Roman „Die Geschwister“ schon gelesen haben. Aus der DDR nennt sie nur einen einzigen Namen, den von Erwin Strittmatter. Und sie vergleicht ihren Aufbauhelden Martschuk an Schönheit mit Grass und Nasser, und zwar allen Ernstes und ohne alle Ironie.

Auf der anderen Seite ist es heute kaum nachvollziehbar, wie erschütternd naiv sie behauptet: „Nach menschlichem Ermessen sind Unfälle nicht mehr möglich, bei denen die Mitarbeiter einer Bestrahlung ausgesetzt sind.“ Das zur sowjetischen Atomwirtschaft, die nach dem Glauben der jungen Gelehrten, denen sie begegnet, Öl und Kohle schon bald überflüssig machen wird. Auch nicht der geringste Gedanke an Beeinträchtigung von Natur und Umwelt angesichts der radikalen Eingriffe durch die extensive Wirtschaftsentwicklung kommt je vor im Buch. Dafür die seltsame Überzeugung, Bürokratie werde sich von selbst auflösen, der „neue Mensch“ vermehrt auftreten durch reine Vorbildwirkung seiner ersten Exemplare. Brigitte Reimann beobachtet vermeintlich vollkommen selbstlose, vollkommen uneigennützige, uneitle, einzig der Zukunft dienende junge Menschen, die ständig gute Laune haben, singen, trinken, Gitarre spielen und wenn sie einmal aus der Rolle fallen, was doch nicht gänzlich geleugnet werden kann, dann in linksextremer Aggression gegen halbstarke Transistorradiohörer.

Blinde Propaganda, das ist über jeden Zweifel sicher, hat Brigitte Reimann weder beabsichtigt noch zu Papier gebracht. „Wenn man näher hinsieht, besteht das große Abenteuer – in Bratsk wie in Schwarze Pumpe – aus Alltag und Arbeit, Sonnenbrand und Frostbeulen, Normen und Verbesserungsvorschlägen und jenem stolzen Blick zurück...“ Das ist ohne Pathos gesagt, auch ohne kokettes Understatement. Manchmal klingt es wie Pfeifen im Keller: „Die sozialistische Ordnung ist keine Versicherung gegen persönliche Tragödien, aber man ist nicht so schrecklich allein.“ Oder: „Ich gestehe Skepsis gegenüber fleischgewordenen Legenden und den verschwenderischen Titeln eines Helden und neuen Menschen...“. Am heutigen vierzigsten Todestag von Brigitte Reimann will mir scheinen, als habe ihr frühes Sterben ihr Leben wie ihr Werk mit dem Odium spezifischer DDR-Klassizität umhaucht, in dem viel Wunschdenken mitdampft und das in aller Naivität.


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