Martin Walser: Heimatlob

Das Buch ist ein Büchlein. Außerdem hat es noch große Schrift und viele farbige Bilder, Aquarelle. Meine Kompetenz in Sachen Aquarelle besteht darin, dass ich sie noch eben auf den ersten Blick von Ölgemälden unterscheiden kann. Meine Kompetenz in Sachen Walser besteht darin, dass ich fünf Jahre lang keinen las, davor vierzehn fast am Stück. Immerhin bedauerte ich ihn in den vergangenen Jahren in großer Regelmäßigkeit, wenn ihn wieder einmal eine schreibende Frau in der Menopause der Altersgeilheit bezichtigt hatte oder wenn ihn ein schreibender Mann der fortdauernden Wiederholung seiner Plots zieh. In der Tat unterscheidet sich Walser von Grass, dem er vom Jahrgang her gleicht, darin, dass er sich nicht an irgendwelchen Bäumen belichten lässt des Protestes wegen, den er gegen Elbbrücken oder sonstige Sauereien anzumelden gedenkt, sondern Bücher schreibt. Walser ist von gesegneter Produktivität.

Dass Walser sich den Alemannen zurechnet und am Bodensee lebt, weiß man, falls man Hamlet nicht mit zwei m schreibt und Walsers Augenbrauen sind Legende. Ich fand ihn immer ausgesprochen klug. Das mag nicht das höchste Kompliment sein für einen, der schreibt, aber es unterscheidet ihn wohltuend von denen, die ich ausgesprochen dämlich finde. Es gibt mehr von diesen, als sich die Schulweisheit träumen lässt. Vielleicht ist er als Lyriker nicht ganz Stern erster Güte, was von seinem Jahrgangskollegen aus Lübeck ja auch sagbar wäre. Aber die Prosa, verzeihen Sie, Marcel Reich-Ranicki, dass ich dies Wort noch immer mit nur einem r schreibe, Sie hätten sich die Prrosa urheberrechtlich schützen lassen sollen, die Prosa also, die hat es mir doch überwiegend angetan. Denn kluge Köpfe haben die Arteigenschaft, bisweilen kluge Gedanken in einer Weise zu formulieren, dass man den Neid vorübergehend nicht mehr als Todsünde akzeptiert, sie lesend und genießend.

„Heimatlob“ enthält ein paar Gedichte, die hier, beiseite gesprochen, außen vor bleiben dürfen und einen längeren Text über Heinrich Seuse, der ziemlich weit hinten. Da ich als Ilmenauer zwar mit Überlingen insofern vertraut bin, als von dort eine der überaus zahlreichen Bildungseinrichungen hier siedelte, welche Arbeitslose, solange das florierte, zu Floristen ausbildete oder Schmuckpflasterern, dann ins Bewerbertraining wechselte und immer hoffen muss, dass die Arbeitslosigkeit nie der Vollbeschäftigung weiche, weil dann die Umschüler umgeschult werden müssten, wofür sehr viel weniger Akademien gebraucht würden, sonst aber keine Ahnung von Überlingen habe, war mir das mit dem Denkmal und dem Parkplatzangebot neu. Also wenn das Denkmal für Seuse dort nicht stände, wo es steht, dann hätte man in Überlingen vier Parkplätze mehr, was Walser nicht gut fände, ihn aber auch nicht an einen Baum getrieben hätte, sich anzuketten, bis die Pressefotografen wieder weg sind.

„Heimatlob“, nun sei es verraten, ist ein Bodensee-Buch. Was dazu führte, dass es in Reiseführern, welche zum Bodensee führen, an dem ich momentan ein wenig weile, wie weiland Heinrich Seuse, Erwähnung findet. Ich will nicht meinen, dass es ein Standard-Werk ist wie für Elektrotechniker der dicke grüne Philippow, aber als Buch eines Mannes, der ein anderes Buch „Liebeserklärungen“ genannt hat, auf andere Autoren bezogen, darf es als Liebeserklärung an den Bodensee schon in Tourismus-Büros ausgelegt werden. „Ich weiß nicht, ob ein Schriftsteller mit der Gegend, aus der er stammt, auch nichts zu tun haben könnte.“ So drückt Walser es aus, was ihn in diesem Buch umtreibt. „Dieser See bewirkt, glaube ich, nicht dies oder das. Wenn er etwas einprägt, dann den Wechsel. Die Nichteigenschaft.“ Also für mich etwa den Nebel über sich, wenn man Ende Oktober von Walzenhausen her hinabrollt, oben scheint die Sonne am blauen Himmel, dann verschwindet man sich selbst. Und unten ist der See See. 

„Ich liebe den See, weil es sich bei ihm um nichts Bestimmtes handelt. Wie schön wäre es, wenn man sich allem anpassen könnte. Auf nichts Eigenem bestehen. Nichts Bestimmtes sein.“ Das sind sie beispielsweise, die Gedanken des Martin Walser. Auch über Notwendigkeit gibt es welche im Büchlein und darüber, was die Alemannen für ein Volk sind, eines, welches es verpasste, einen Staat zu bilden, als dies historisch in war für Völker, die des Wanderns müde wurden. Man kann die Verbreitung dieses Volkes hören, wenn man es sprechen hört, vom Vorarlberg bis zum Elsass. „Das Schöne ist ja nichts als das Scheußliche in Hemd und Hosen. Wir antworten auf alles mit Bildern, um der Wirklichkeit ihren unmittelbaren Auftritt zu versalzen.“ Vielleicht kann sich das auch auf Altmänner-Phantasien bezogen denken lassen, wobei Walser, als er es schrieb, schon noch deutlich jünger war als heute. Hamlet in Feinripp-Unterhosen mit Eingriff vertrüge eine Einordnung ins Walsers Koordinatensystem.

Künstler sein bedeutet für den Walser des Buches, Wunden bewirtschaften, Verstellung ist das Wesen der Sache, weshalb nicht nur die Künstler seien, die meinen, das als Beruf betreiben zu müssen. Sondern du und ich und Tante Karla auch. Die sich immer verstellt, wenn Tante Marga fragt, wie es ihr geht. Man lehre das Elend singen als Künstler, sagt Martin Walser und wenn er von Heinrich Seuse schreibt, dann so: „Er hat Gott deutsch beigebracht. Er schreibt den ersten Seelen-Entwicklungsroman der deutschen Prosaliteratur.“ Und: „Auf Scheußliches antwortet er mit Schönheit.“ Das ist allerdings kein sehr modernes Programm, verkäuflicher ist die Antwort mit Scheußlichem auf Schönheit. Insofern ist ein Denkmal für Seuse, stehe es in Überlingen oder wo sonst, immer ein Denkmal gegen die Zeit. Welche unbeeindruckt vergeht. Und Entwicklungen mit sich führt, die manche Fortschritt nennen, was Walser goutiert. Er ist nicht gegen Fortschritt.

„Als das Ufer dann zu und verbaut war, kommt in die Länderverfassungen, daß der See allen zugänglich sein soll.“ Was ist das für eine feine Spitze. Es ist fast wie mit der Würde des Menschen, die sogar in die Bundesverfassung kam, als sie zu und verbaut war und anders als Seeufer nicht meterweise wieder zugänglich gemacht werden kann. Legen Sie mal eine Verfassungsbeschwerde ein, wenn Ihre Menschenwürde angetastet ist, weil ein aus Ostwestfalen kommender Chefredakteur einem aus Ostwestfalen kommenden Gesprächspartner mitteilt, Sie seien in der DDR „so etwas wie ein Schriftsteller“ gewesen. Selbst die recht friedlichen Alemannen am Bodensee hätten Eingriffe solcher Art in ihr seelisches Hoheitsgebiet mit einem Axthieb auf den harten Schädel des Redners rechtsunmittelbar beantwortet. „Wir liegen am Weg von Burgund nach Böhmen“, schreibt Walser. Und Böhmen liegt seit Shakespeare am Meer. „Die Sonne rollt, sobald sie den Säntis erreicht hat, haltlos in den Thurgau hinab. Und selbst die kleinen Goschenwellen drängen zum Ufer, als hätten sie Termine.“

Das Büchlein ist fast zu Ende bei diesem Satz: „Wir kauern in den Ruinen unserer Individualitätstheorie und lassen uns von staatlich ausgebildeten Fälschern bescheinigen, es seien Paläste.“ Es bliebe der See im Süden des Nordens, der Mittelmeer spielen kann bei Gelegenheit, als eine Art von Therapie: „Der Himmel über dem See zum Beispiel stimmt immer mit dem See überein. Man kann nicht sagen, der Himmel richte sich nach dem See oder der See richte sich nach dem Himmel.“ Ob man dies einen paradiesischen Zustand nennen soll, sagt Martin Walser nicht, Auch kein Wort darüber, dass das deutsche Bodenseevorland die Waffenschmiede Nummer 1 des drittgrößten Rüstungsexporteurs der Welt ist. Unterlassungssünden solcher Art kreidet man jedoch allenfalls Autoren an, die in der verflossenen DDR aufwuchsen. Da müssen Mauer und Stacheldraht und IM Susi allzeit präsent sein, wovon immer ein Text handelt. Ob ein „Heimatlob“ für den Scharmützelsee freilich jemals zum Insel Taschenbuch in Großdruck hätte werden können, ist fraglich. Ich lobe Walsers „Heimatlob“.


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