Helga Königsdorf: Aus dem Dilemma eine Chance machen

Wer in den Wendezeiten Zeitungen aufschlug, stieß quer durch die Presselandschaft, vor allem natürlich die der Noch-DDR, so oft auf den Namen Helga Königsdorf, dass der Eindruck entstehen konnte, hier mache sich seitens der Autorin ein selten extremes Geltungsbedürfnis, seitens der Redaktionen, hier mache sich eine ärgerliche Gedankenlosigkeit bei der Wahl der Ansprechpartner für Meinungslieferungen breit. Der Eindruck fand sofort seine Grenze beim Lesen der Königsdorf-Texte. Sie hatte nicht nur etwas zu sagen, sie hatte sehr viel zu sagen, sie quoll buchstäblich über von zu Sagendem und, von Anfang an, belieferte sie weder billige noch leicht gehobene Erwartungshaltungen. Sie muss der SED, dann der PDS wie ein Höllenfeuer unter die Röcke gefahren sein, nicht obwohl, sondern weil sie noch selbst Mitglied war und eine Weile trotzig blieb.

Manche der Wahrheiten, die Helga Königsdorf 1989, 1990, 1991 über die DDR und ihren Sozialismus, den manche seinerzeit gern den Sozialismus in den Farben der DDR nannten, obwohl gar keine Farben da waren, zu Papier brachte, sind noch heute bei den Adressaten ihre Kundtaten nicht wirklich angekommen. Noch immer schwafelt sich da etwas zurecht, noch immer wird da geglaubt, wenn dies oder jenes an dieser oder jener Stelle anders und so weiter gelaufen, getan, verordnet worden wäre, wäre aus dem ganzen Salat doch noch etwas geworden. Nein, es wäre nicht, es wäre nie und nimmer und peinlicherweise für alle Gesellschaftswissenschaftler (fast alle) hat die klaren Sätze dazu eine Mathematikerin aufgeschrieben und gern wiederholt, die als Physikstudentin anfing. Ich erinnere mich eher spielerischer Extrapolationen aus meiner Philosophiestudentenzeit, da wir, das Hegelsche Spiralentwicklungsmodell auf unsere Geschichte anwandten und messerscharf folgerten: Wenn der Kapitalismus die Negation des Feudalismus ist und der Sozialismus die Negation des Kapitalismus, dann ist der Sozialismus die Rückkehr des Feudalismus auf höherer Ebene. Da musste man nicht einmal irgend etwas analysieren.

Dass es so war, hat Helga Königsdorf in ihren Artikeln, ihren Reden immer wieder ganz unaufgeregt behauptet. Und noch nicht einmal dann, als die Enthüllungsorgie der mit DDR-Quirl verrührten Glasnost-Bewegung die flächendeckende Leidenschaft der kleinen, mittleren und großen Partei-Chargen für die Jagd öffentlich machte, die feudalste aller feudalen Verrichtungen, wurde irgendjemand ernsthaft stutzig. Der Vorzug dieser vielen für den Tag geschriebenen Texte, es fehlt ihnen jede Aufgeregtheit, es fehlt ihnen der individualisierte Schuldzuweisungsgestus, schon gar der, der eigenes Verwickeltsein hätte wegtherapieren sollen. Nur im allerersten Text des Bändchens, das der Luchterhand Literaturverlag Ende 1990 herausbrachte, findet sich eine doch sehr ärgerliche Blickverkürzung. „Wir waren privilegiert“, schreibt Helga Königsdorf, und bezieht dann das Privilegiertsein nur auf das unentfremdete Arbeiten. O nein, der Schriftsteller, selbst der ganz kleine in der hintersten Provinz, der seit den fünfziger Jahren nichts mehr in Druck gegeben hatte, konnte Ende der 80er immer noch breit in den Verbandssitzungen fläzen und von seinen Zirkelleiter-Honoraren auskömmlich, wenn auch sehr bescheiden, leben.

In ihrem Erinnerungsbuch „Landschaft in wechselndem Licht“ findet sich ein ironischer Rückblick: „Ich schrieb für alle Zeitungen, von der Prawda bis zur Frankfurter Allgemeinen, bis sie es merkten und die meisten gar nicht mehr druckten. Nur das Neue Deutschland nahm fast alles.“ Im Luchterhandbuch sind neben drei Reden als Quellen in dieser Reihenfolge angegeben: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Neues Deutschland, Berliner Zeitung, Die Weltbühne, Das Argument, Die Zeit, Merian, Freitag. Construktiv. Prawda ist keine dabei, aber immerhin. Der nächste Satz nach dem eben zitierten aber lautete im Buch von 2002: „Wenn ich die Artikel von damals wieder lese, staune ich, wieviel ich vorausgesehen habe.“ Das ist keine späte Autorinnen-Eitelkeit, sondern die einfache Wahrheit. Helga Königsdorf hat vorausgesehen, wobei man tunlichst aus dem den Band abschließenden Text „Die Wahrheit über Troja“ den ersten Satz, der auch ein wenig an Christa Wolf adressiert ist, dazu setzen sollte: „In Wahrheit hat Kassandra nie etwas vorausgesehen. Sie sprach nur aus, was alle wußten.“ Dem sollte man nicht sofort widersprechen.

In jenem Interview, das Helga Königsdorf Günter Gaus in dessen berühmter Reihe „Zur Person“ gab, ging es auch um den Band „Aus dem Dilemma eine Chance machen“. Gaus: „Was drückt sich in diesem Titel aus? Bezieht er sich allein auf die damalige Umbruchsituation oder könnte er als Motto über Ihrem ganzen Leben stehen, als Ausdruck einer Entschlossenheit, aus so gut wie allem, jedenfalls aus den Schwierigkeiten, noch den Ansporn zum Besseren zu nehmen?“ Königsdorf: „Das haben Sie ganz schön gesagt. ... Erfolg heißt für mich in erster Linie, mit Niederlagen fertig zu werden.“ Es wäre aus den Texten zu filtern, was sie wann und wie im Detail als Niederlage begriff, es darf hier darauf verzichtet werden. Wichtiger könnte das Vorausgesehene sein. „Eine demokratische Regelung würde eine gefährliche Kurzfristigkeit im Entscheidungsverhalten bewirken.“ heißt es etwa in „Countdown für Hase und Igel“. Ebenda: „Deshalb sollte der Technologiebereich, der zur Zeit eher verteufelt als geachtet wird, entmystifiziert werden, und Leistungen sollten wieder mit Namen und Gesichtern verbunden werden.“

„Die Einteilung eines Volkes in Opfer und Täter ist unmöglich. Jeder ist irgendwie Opfer und auch Täter.“ („Identität auf der Waage“) Gerade diese schlichte Feststellung exponiert ein durchgängiges Kennzeichen Königsdorfscher Kernaussagen: Sie scheut den Vorwurf vermeintlicher Trivialität nicht, sie versucht nicht einmal ansatzweise, scheinbare Dürftigkeit des Gedankens durch pompöse Formulierung zu kaschieren. In einer Zeit, da ein kleiner dicker Langzeitminister mit Vornamen Norbert glaubte sagen zu dürfen „Marx ist tot und Jesus lebt“, soll nicht ausgerechnet einer Mathematik-Professorin Vereinfachung vorgeworfen werden. Die Geschichte jener kleinen DDR ist voller Namen, die erst Täter, dann Opfer waren (und umgekehrt) und interessant ist dabei vor allem, welchen Teil des Lebens die Meinungshoheit später dezent kleinredet. „Welche gefährliche Lust zur Intoleranz als Kompensation des Verlustes an eigenem Selbstwertgefühl entstehen kann.“

Helga Königsdorf hat über Würde und Identität, über Heimat am Beispiel ihres Geburtsgebiets Thüringen geschrieben. „Wir lebten gefährlich und doch mit Netz.“ „Wir Deutschen sollten unsere Wissenschaftler achten und sie nicht zu zweifelhaften Zauberlehrlingen degradieren.“ „Die fatalste Parallele zur Vergangenheit wäre, wenn er jetzt zweitklassige Wissenschaftler mit „blütenreiner“ Weste aus der alten Bundesrepublik als Vorgesetzte bekäme.“ „Er“ war der Wissenschaftler der DDR, der als Reisekader Evaluierungsreife erworben hatte, ohne es zu ahnen. Man könnte heute mit dem Sarkasmus der Königsdorf meinen: Wenn wenigstens nur die Zweitklassigen gekommen wären, es kamen aber auch die Reihen 4 bis 6. Und sie leiten noch immer und sitzen vor. Und wenn sie es nur bis zum Chefredakteur gebracht haben. „Und einer, der etwas lernt, ist kein Wendehals.“ Das werden die alten Genossen mit all ihrem Stolz auf ihre fortgesetzte Unbelehrbarkeit nie begreifen. Ihnen ist jeder Tag Erinnerung an einstige DDR-Gerechtigkeit. „Der Eindruck größerer Gerechtigkeit entstand nur, weil es wegen der mangelnden Funktionsfähigkeit relativ wenig zu verteilen gab.“ („Countdown für Hase und Igel“)

„Wir werden uns eine gemeinsame Geschichte zulegen müssen.“ Ganz lapidar steht das in „Deutschland, wo der Pfeffer wächst“. Das heißt beispielsweise auch, dass wir in einer ostdeutschen Zeitung nicht lesen wollen, wie vollkommen unreflektiert und selbstverständlich importierte Chefredakteure ihre ihnen unbenommene Vergangenheit im Westen als unser aller Vergangenheit ausbreiten ohne auch nur zu ahnen, dass es hier so nicht gesagt werden darf, weil es anders war. In einer Gegend, in der es keine „Persilscheine“ gab, war auch Ernst von Salomon kein Bestseller, dafür aber vielleicht Makarenkos „Der Weg ins Leben“. Wer 1947 bei Flachwasser auf dem Weg in die Freiheit durch die Werra schwamm, sollte immer und immer vorsichtig sein beim Behaupten, wie es da 40 Jahre lang gewesen sein muss, weil es nicht anderes gewesen sein konnte. Helga Königsdorf ist nicht zuletzt deshalb nützliche Lektüre. Auch wenn sie in ihren späteren Erinnerungen ihre, sie nennt es: Überaktivität, mit den Medikamenten gegen ihre Parkinson-Erkrankung erklärt.

„Wir sind weltsüchtig und werden nach anfänglicher Unsicherheit furchtbare Touristen sein.“ Verriet sie ihren Hörern in Frankfurt am Main im Juni 1990 im Rahmen der damaligen Römerberg-Gespräche. Und auch: „Der Sozialismus mit seiner vorgetäuschten Gemütlichkeit hat uns hospitalisiert.“ In „Merian“ gestand sie, ebenfalls Juni 1990, freimütig: „Es ist viel leichter, mich wieder an Thüringen zu gewöhnen als an das große Deutschland.“ Im Mai 1990 in „Die Zeit“: „Wenn man später wissen will, wie es gewesen ist, in dieser DDR, wird man es vor allem aus ihrer Literatur erfahren.“ Und sie ergänzte sofort: „Oder besser, man wird erfahren, wie es auch gewesen ist.“ Dieser Satz war schon vor 23 Jahren weiter als jede heutige Debatte auf der Ebene der Fragestellung, ob jemand behaupten darf, es sei nicht alles schlecht gewesen in dieser oder jener Diktatur. Und wenn es nur die Thüringer Klöße gewesen sein sollten, die in der DDR gut waren, dann war eben doch nicht alles schlecht. Das Schlusswort sei Helga Königsdorf gegönnt und zwar nicht nur wegen ihres heutigen Geburtstags: „Wie wenig wir doch gelernt haben, gut mit uns selbst umzugehen. Vielleicht war das die größte Schuld der Vergangenheit: die Mißachtung, die Demütigung des einzelnen so weit zu treiben, daß man sie verinnerlichte. Daß man sich selbst nichts wert war, außerhalb eines höheren kollektiven Ziels...“ Das habe ich mir am 24. Februar 1990 aus der „Berliner Zeitung“ ausgeschnitten. Damals klebte ich Zeitungstexte noch auf, es war Blatt 12 im Klebearchiv Helga Königsdorf. Es stand auf Seite 9 der Zeitung, im Buch ist es die Seite 21.


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