Wolfgang Joho: Die Hirtenflöte

Ob Wolfgang Joho (6. März 1908 bis 13. Februar 1991) „Die große Abrechnung“ gelesen hat, von Hermann Kant und Frank Wagner für das zwölfte Heft 1957 von NEUE DEUTSCHE LITERATUR geschrieben, weiß ich nicht. Und wenn ich es wüsste, wären mir die Gefühle unbekannt, mit denen er es gelesen hat. Der Aufsatz widmete sich Problemen der Darstellung des Krieges in der deutschen Gegenwartsliteratur, es wurden diverse Namen genannt aus Ost und West, kritisch die aus dem Westen, keineswegs durchweg unkritisch die aus dem Osten, ein Name aber war nicht darunter, der von Wolfgang Joho. Und so wundert es mich keineswegs, wenn Joho 1973 im Interview mit Klaus-Dieter Hähnel bei der Frage nach dem auffälligen Schweigen der DDR-Literaturwissenschaft zu ihm von einem für ihn erfreulichen Kuriosum spricht, bitterer lässt es sich kaum sagen, um dann sofort anzuschließen: „In meiner Novelle „Die Hirtenflöte“ von 1948 habe ich die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Erlebnis des zweiten Weltkrieges begonnen, lange bevor eine Fülle von Büchern mit dieser Thematik bei uns erschien...“.

Die Novelle, in der Ausgabe der Insel-Bücherei als Erzählung bezeichnet, zeigt den Autor Joho, dem oft genug ein pädagogischer Zug zugesprochen wurde in dem ziemlich sicheren Wissen, dass genau solche Züge dem Publikum zuwider sind, auf einem für einen Erstling erstaunlichen hohen erzählerischen Niveau. Allein mit dem Alter von da bereits 40 Jahren lässt sich das nicht erklären, in diesem Alter debütierte in der späteren DDR noch mancher Autor, manche Autorin mit deutlich schwächeren Texten. Außerdem hatte er das Manuskript wohl schon eine Weile in der Tasche, ehe er 1947 im Aufbau-Verlag bei dessen damaligem Chef Erich Wendt vorsprach und dort die Zusage für eine Veröffentlichung erhielt. Das Besondere ist die Disposition des Helden der Novelle, der, welch Zufall, den Namen Wendt trägt. Noch keine zwanzig Jahre alt ist er, schon eine Weile Soldat, reist in einem Transportzug durch Jugoslawien via Griechenland. Wolfgang Joho führt ihn weder als einer der politisch-ideologischen Wandlung harrenden Jungnazi vor noch als einen den Krieg von vornherein hassenden, aber dennoch in ihn gezwungenen Rekruten, dem die Realität Argumente für seine bereits vorhandenen Überzeugung liefert.

Wolfgang Johos Wendt erlebt das Soldatsein in Hitlers Invasionsarmee in jenen allgemeinen Zügen, die eben keine einfache Distanzierung für jene ermöglichen, die mit dem konkreten Erleben wenig oder nichts zu tun haben. Er lässt seinen Wendt desertieren und als Deserteur unter den Schüssen eines Exekutionskommandos sterben, ohne ihn vorher mit jenem Status der Bewusstheit auszustatten, der eine Entfaltung von wohlfeiler Ideologie ermöglicht hätte. Das ist für einen Autor mit Johos Biografie mehr als erstaunlich, denn Joho trat bereits 1929 der KPD bei. Als sein Wendt vom Standgericht gefragt wird, ob er Kommunist sei, muss er lächeln und denkt: „Ging es denn bei ihnen wirklich niemals ohne die großen Schlagworte und Begriffe?“ Das ist, scheint es, was als Geheimnis des Buches bezeichnet werden könnte, wenn man denn solch Vokabular mag. Ob freiwillig oder unter der Hand, Wolfgang Joho hat sich die großen Schlagworte und Begriffe verboten, er hat sich für eine Ebene der konkreten Allgemeinheit entschieden, die fortwirkende Aktualität ermöglicht.

Denn nicht nur in der Armee Hitlerdeutschlands leidet der Soldat unter Entpersönlichung, selbst die scheinbar völlig entgegengesetzte Armee des „Arbeiter- und Bauern-Staates“ DDR hat dieses Phänomen fortgesetzt bis zu ihrem Ende produziert. Indem Joho seinen Wendt eben nicht wie spätere Romane, Novellen und Erzählungen der DDR an die platte Konkretheit bindet, zeigt er, dass der Drang nach Befreiung, nach Freiheit der Person in Uniform nicht auf ein bestimmte Ordnung zu begrenzen ist. Und so könnte es durchaus sein, dass Wagner und Kant seinerzeit nicht etwa einfach vergesslich waren, sondern ein Büchlein mit Verschweigen bestraften, weil es nicht die Klassenposition in aller Überdeutlichkeit zelebrierte. Und dazu passt in der Novelle, dass der letztliche Auslöser der ungeplanten, wenn auch unterbewusst schon erwogenen Desertion die primitive Melodie einer Hirtenflöte nach einem Bad in einem Bach ist, nahe des Grabes eines anderen Soldaten, den eine einzelne Partisanenkugel mitten ins Herz traf.

Der Wendt der Novelle, der Erzähler hat ihm keinen Vornamen gegeben, hat das Empfinden, sein Soldatenleben sei nicht sein, es sei ein ihm fremdes Leben. Immer wieder wird die Fremdbestimmung benannt und erlitten. Soldatsein ist Leben ohne eigenen Willen. Ganz anders das Leben jener siebzehn Jahre alten Jarmila, die ihm eine für ihn rauschhafte Nacht schenkt, weil sie wahrscheinlich den Auftrag hat, Informationen über die Truppenbewegungen der Deutschen in Jugoslawien zu gewinnen und in Erfüllung ihres Auftrages eigene Gefühle entdeckt. Joho hat das alles auf den wenigen Seiten des schmalen Bandes mit viel Kunstwillen gebaut, es gibt eine Traumsequenz, es gibt kitschferne Beschreibungen und es gibt eben keinen Zeigefinger. Auch geht das Unternehmen des naiven Desertierens an seiner Naivität zu Ende. Es war, erweist der Erzähler, weniger eine politische Entscheidung mit Beispielwirkung als ein Akt der Selbstachtung eines jungen Soldaten, den eine Liebesnacht an sein fast verschüttetes Menschsein so sehr erinnerte, dass er in den vorigen Zustand nicht wieder zurückkehren mochte.

Kritikern gab Joho, der nach eigenem Bekunden selbst Hunderte von Rezensionen schrieb, den Rat, sie mögen „statt ein Buch nach dem zu beurteilen, was es nach ihren Vorstellungen hätte enthalten müssen, sich engagiert, kritisch, mutig und ohne Ansehen der Person mit dem auseinandersetzen,  was der Autor wirklich gewollt hat.“ Das klingt besser als es ist, denn der Wille des Autors liegt keineswegs mit seinem Text bereits automatisch deutlich erkennbar auf dem Präsentierteller, es wäre auch wenig wünschenswert, wenn der Autor Absichtserklärungen mitlieferte. Und dass verkündete Theoreme, fixierte Poetik mit der eigenen Autorenpraxis gar nicht selten so gut wie nichts zu tun haben, ist auch eine sattsam bekannte Tatsache. Bezogen auf „Die Hirtenflöte“ aber hat Joho dennoch vollkommen recht. Denn es wäre keineswegs überraschend, wenn die vermeintliche soziale Unkonkretheit der Novelle ohne Kriegsgreuel, ohne alte Kommunisten, ohne Rolle der Sowjetunion und was sich sonst so alles an Erwartung hätte herantragen lassen können, zu einem Verdikt geführt hätte.

Wer übrigens heute sich zu Wolfgang Joho in Nachschlagewerken der DDR orientiert, ist in wichtigen Punkten desinformiert. Die Lexika wie auch die wenigen zusammenfassenden Darstellungen verschweigen wohl nicht bestimmte Fakten, erklären sie aber nicht. Wer 1965 als Chefredakteur der NDL aufhörte wie Joho, tat das eben nicht, weil er gern wieder Freiberufler sein wollte, auch wenn die Riesenauflagen vieler Joho-Bücher das keineswegs zu einem wirtschaftlichen Risiko machten. Nein, Joho war ein Opfer der Politik des berüchtigten elften Plenums des ZK der SED 1965, er wurde im ganz klassischen Sinne geschasst, weil er nicht nur einen Vorabdruck aus Werner Bräunigs „Rummelplatz“ zugelassen, sondern das Buch anschließend auch noch verteidigt hatte. Heute wird „Rummelplatz“ zu den Hauptereignissen deutscher Literatur nach 45 gezählt, die SÜDDEUTSCHE stellte den Roman neben Grass, Walser und Böll. Es zeigt, wie wenig Geschichte einem glatten Schema folgt, wenn Joho selbst, als er sein Porträt des Erich Wendt für die Anthologie „Die erste Stunde“ (1969) verfasste, wichtige Fakten aus dem Lebens Wendts verschwieg. Denn weder die Verhaftung Wendts in der Sowjetunion 1936 noch der Ausschluss aus der KPD werden erwähnt und noch viel selbstverständlicher nicht, dass es Walther Ulbricht war, der Wendt die erste Frau Lotte ausspannte, während Wendt selbst die erste Frau von Herbert Wehner übernahm. Das hätte wohl die braven DDR-Bürger doch zu sehr geschockt.

„Nun merkte er zum ersten Mal, daß er über seine Jahre hinaus älter geworden war und daß es nur ein bestimmtes Maß gab, bis zu dem sich die Dinge widerspruchslos ertragen ließen.“ Bis zu dieser Erkenntnis führt Wolfgang Joho seinen Soldaten Wendt und weil das nicht nur damals so war, sondern auch noch Jahre später, musste er als alter Autor noch das Ende jener DDR erleben, für die sich der gebürtige Karlsruher in seinen mittleren Jahren entschieden hatte. Ganz zwanglos legt die Novelle, und das ist bis heute oder gerade heute wieder durchaus überraschend, eine sehr einfache Erklärung dafür nahe, warum etwa einer wie Erwin Strittmatter, nur vier Jahre jünger als Joho, mit seinem Krieg in Griechenland so umging, wie er es tat. Wenn es denn wirklich stimmt, wie Johos Wendt empfindet und viel spricht dafür, dass das Soldatenleben nicht sein eigenes Leben war, dann ist das vermeintliche Verschweigen gar kein Verschweigen, es ist eher eine zum Soldatenberuf gehörende spezifische Schizophrenie, die Überleben sichert. Die Fragen nach Legitimität und Moralität sind dann sehr wahrscheinlich falsch gestellt.


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