Götz R. Richter: Savvy, der Reis-Shopper

Wie verläuft sie, die Wiederbegegnung mit einem Buch, das vor knapp 50 Jahren mir ein großes und nachhaltiges Lesererlebnis wurde? Dass es und die beiden weiteren Titel der so genannten „Savvy-Trilogie“, also „Die Höhle der fliegenden Teufel“ und „Trommeln der Freiheit“ zum „festen Bestand unserer sozialistischen Kinderliteratur“ (Klaus-Dieter Schönewerk) gehörte, hat mich damals nicht beschäftigt, später auch nicht und heute schon gar nicht. Ob es Büchern überhaupt Wert verleiht, Bestandteil zu sein, wovon auch immer, will ich vorsorglich bezweifeln, es wächst daraus allerdings auch kein Problem, das längeren Nachdenkens wert wäre. Klaus-Dieter Schönewerk freilich zitiere ich mit voller Absicht. Denn ich vermute, dass sein Einsatz für Götz R. Richter zum 65. Geburtstag 1988 und gleich zweimal in NEUES DEUTSCHLAND 1989 etwas nach sich zog, was man im militärischen Beschönigungswortschatz Kollateralschaden nennt.

Nicht erst in der zunehmend schneller implodierenden DDR der letzten achtziger Jahre, auch vorher schon, musste mit Missachtung weiter Leserschichten rechnen, wen das ND lobte, erlebte Verkaufsförderung, wen es angriff oder auch nur kritisch bewertete. Und der Riesenartikel von Klaus-Dieter Schönewerk vom 21. Juli 1989 sowie sein Interview mit Richter  am 21. Oktober 1989 könnten durchaus letzte Gründe gewesen sein, warum danach einer der auflagenstärksten Autoren der DDR, den nie eine Kampagne puschte wie etwa bestimmte künstliche Pseudobestseller von Görlich oder Noll oder anderen (mindestens einmal auch Harry Thürk), in radikaler Vergessenheit versank. Man muss es sich noch einmal vor Augen führen, wie die Situation im Sommer und Herbst 1989 in der kleinen DDR war. Und dann lesen, wie vollkommen weltfremd, DDR-fremd, Richter-fremd dieser Literaturexperte des Zentralorgans seinen langen Dreispalter hinhaspelte, in dem nichts, aber auch gar nichts, was wichtig war, irgendeine auch nur marginale Rolle spielte.

Nicht einmal die Titel Richters, die genannt wurden, spielten substantiell eine Rolle, sie wurden halt genannt. Vor allem aber war Richter der Mann, an dem man eine Kampagne festmachen konnte, die Solidarität mit dem südafrikanischen ANC und Nelson Mandela. Michael Walter (BERLINER ZEITUNG, 2. August 1988) zitierte eine ungenannte Quelle, um Richter einen literarischen Internationalisten zu nennen, ich wusste schon damals nicht, wie man konstituiert sein muss, um so etwas möglicherweise als Lob zu empfinden. Im Juli 1989 war zu erfahren, das Götz R. Richter in seinem Verlag Neues Leben das Manuskript für das Buch „Die große Safari“ abgegeben hat, erschienen ist es offenbar nie, denn wenn die DDR-Verlage Ende 1989, Anfang 1990 einmal im Laufe ihrer Existenz wirklich schnell waren, dann beim Abschied von ihren bisherigen Projekten und Autoren, ich weiß ein etwa dreistrophiges Lied davon zu singen, den Mitteldeutschen Verlag betreffend. Und das große, das ganz große Werk, an dem Götz R. Richter bis zum Ende der DDR etwa zehn Jahre gearbeitet hatte, „Hans Eins oder das Tagebuch des Commandante Uma“ sollte es heißen, ist auch nie erschienen, falls es denn je vollendet wurde.

Nicht erklärlich ist mir, warum Götz R. Richter nicht den Weg ging, den sehr viele plötzlich ins Abseits gestellte DDR-Autoren gingen, den Weg in die Verlagsgründung, den Weg zu den berüchtigten Bezahl-Verlagen, die alles unbesehen zum Buch machen, wenn es ihnen nur profitabel vergütet wird. Auch in den zahlreichen Kleinverlagen taucht der Name nie auf und dort gibt es doch bis heute nicht wenige ehemalige Genossen, die im literarischen Schulterschluss wenigstens virtuell dem vorübergehend siegreichen Klassenfeind den dicken Daumen zeigen wollen, ich erinnere gern an Klaus Huhn, weil der meinen ehrenwerten Namen zum Pseudonym machte, was, wenn ich von seinen heutigen Werken lese, mir körperverletzungsähnliche Empfindungen verursacht. Für Götz R. Richter hat es in DDR-Zeiten immerhin zu einem Haus in Bad Saarow gereicht, andere Erfolgsautoren wie Wolfgang Schreyer, Brigitte Reimann merkt das einmal bitter an, obwohl sie mit Schreyer lange und gut befreundet war, brachten es auf zwei Häuser und zwei Autos.

Noch im Oktober 1989, das Richter-Interview erschien in der Wochenend-Ausgabe nach der Entmachtung Erich Honeckers im Politbüro des ZK der SED, kommt Realität in den Fragen zu dem Opus Magnum Richters so gut wie nicht vor. Freilich deutet Richter an, dass er wohl einiges vor allem vor sich selbst ausbreiten will, über Christa Wolfs „Kindheitsmuster“ hinausgehend und fast verschämt tauchen in der letzten Antwort auf die letzte Frage von Schönewerk die selbst damals nach Gorbatschow schon wieder fast abgenutzten Vokabeln vom alten und vom neuen Denken auf. Weckt das alles eher Neugier oder stößt es anhaltend, möglicherweise für immer, vom Autor Götz R. Richter, geboren am 1. August 1923 im sächsischen Kleinröhrsdorf, ab? Ich vermute letzteres und finde es bedauerlich. Denn einen wie ihn und sein Werk kennen, heißt, DDR mehr und besser verstehen, und das müssen wir, selbst wenn das untergegangene Kleinland uns nicht mehr war als Feindbild.

„Savvy, der Reis-Shopper“ hat den Schritt vom Neger zum Afrikaner oder gar zum afrogenen Volksangehörigen noch nicht gemacht. Würde das Buch heute neu aufgelegt, wäre es ein Opfer jener Denkgestörten, die meinen, ein neuer Schlauch mache neuen Wein und in Otfried Preußler hineinpfuschen oder sogar in Astrid Lindgren, was nichts ist als schamanischer Wahn, prärationales magisches Denken aus vorantiker Zeit. Savvy ist also bei Götz R. Richter ein Negerjunge, tut mir leid. Er hat keinen Vater mehr, keine Mutter, lebt mit Hund Hule bei Tante Pulke, die ihn schlägt. Er lebt in Krutown neben Monrovia, der Hauptstadt eines der frühesten afrikanischen Länder mit relativ viel westlicher Modernität, denn dort siedelten aus Amerika zurückkehrende ehemalige Sklaven und ihre Nachkommen und bildeten, was bei Richter keinerlei Rolle spielt, sehr rasch eine eigene schwarze Oberschicht, die sich wie eine weiße Oberschicht gegen die gern Eingeborene genannten Einheimischen benahm. Die erklärende marxistisch-sozialistische Zauberformel lautete für derartige Phänomene: Rassenfragen sind Klassenfragen.

Savvy gerät aus Neugier auf ein Schiff, kann es aber, anders als sein Freund, nicht wieder rechtzeitig verlassen. So gelangt er nach längerer Seefahrt voller Abenteuer, die mehr Erlebnisse sind als Abenteuer, an die angolanische Küste. Er findet auf dem Schiff einen weißen Freund in Tommy, er findet unter den Seeleuten Männer, die ihn mögen und ihm helfen und vor allem findet er in Tombo und Tanjogo Ersatzeltern, die seine Sehnsucht nach Krutown immer kleiner werden lassen. Was mir heute auffällt, ob damals auch, weiß ich nicht mehr, ist der wiederholte Hinweis darauf, dass der Mythos vom schmutzigen Neger und vom sauberen Weißen nicht vordergründig mit dem Schlagwort vom Rassismus erledigt wird, sondern durch die Schilderung der hygienischen und körperpflegerischen Gewohnheiten der Weißen und Schwarzen. Richters Savvy darf mehrfach erleben, dass eigentlich die Weißen die Dreckschweine sind, die sich wenig und nie richtig waschen. Alltagserfahrungen vermitteln dem Jungen die Erkenntnis, dass an der natürlichen Überlegenheit der Weißen deutlich weniger dran ist, als er zu glauben bereit war.

Heute fallen mir bestimmte Schwierigkeiten Richters mit der gewählten Erzählperspektive auf, die mir mit elf Jahren ganz sicher nicht auffielen. Denn wenn Savvy und Freund Tipsy gemeinsam allein unterwegs sind, lässt sich nicht gut schreiben, dass „man“ an der Stimme hörte, wer älter ist. Erinnerlich war mir sofort wieder die Geschichte mit der Schmierseife, die Savvy für essbar hält, bis er sie gekostet hat. Erinnerlich scheint mir auch, wie vorbildlich ich Savvys Kampf gegen unmännliche Tränen fand, Richter hat die Verhaltensmuster für kleine Jungen im Unterschied zu kleinen Mädchen damals noch fast rein traditionell vorgeführt, also alles mit Mut und mit Angst, mit Heimlichkeit und mit Demonstration. Was ich mit elf Jahren hinnahm, als müsse es so sein und mich heute erheblich nervt, ist das verdeutschte Pidgin-Englisch, in dem die Weißen mit den Schwarzen, aber kurioserweise auch die Schwarzen untereinander reden.

Ist diese verstümmelte Idiotensprache Ausdruck englisch-europäischer Überheblichkeit oder erhebt sie die schwache Fremdsprachenkenntnis der Afrikaner zur Norm wie die deutsche Rechtschreibreform die durchschnittliche Orthographieschwäche PISA-Deutschlands zu Dudendeutsch? Dass das Bier in Flaschen aus Germany kam in Krutown, war vor dem Mauerbau wohl noch ein lässlicher Hinweis, den Glauben der Afrikaner, dass eine Brille Intelligenz anzeigt, habe ich wohl vor fünfzig Jahren mehr genossen als heute, denn ich war ein frischer junger Brillenträger, der noch Trost brauchte, wenn ihn die kleinen Mädchen plötzlich bei passender Gelegenheit eine Brillenschlange nannten. Wenn Savvy seiner Stiefschwester eine Kröte ins Bett legt, die aber Tante Pulke, die ihn schlägt, obwohl sonst im Dorf selten geschlagen wird, fast zu Tode erschreckt, das habe ich einst genossen wie nur irgendeine geträumte Rache. Man muss nicht, so die Moral für mich, wirklich Rache üben, es reicht, wenn man sie sich vorstellt. Daraus erwächst übrigens bisweilen sogar gute Literatur.

Ob es in den fünfziger Jahren ganz ohne Hintergedanken war, wenn der kleine zehn Jahre alte Savvy, der Bananen, Mangos und Apfelsinen jeden Tag haben kann, ausgerechnet Erdbeeren so toll findet? Was heute ärgert, ist die Platzierung der Illustrationen von Kurt Zimmermann, die bisweilen eine Szene zeigen, die schon Seiten zuvor beschrieben war, zuweilen aber auch die Spannung nehmen, weil etwas zu sehen ist, worauf man erst noch gespannt wartet, ob es eintritt oder nicht. Ein Balsam für das teilen wollende Kind ist die Passage, in der Savvy sich für seine eigenen Bonbons entscheidet, weil er so viele noch nie im Leben vorher besaß. Dass sich Tommy und Savvy eine Hütte bauen, konnte ich gut verstehen, auch ich hatte eine Hütte im Hof und eine an einem geheimen Ort im Wald nahe Gehren, die nur mein bester Freund kannte außer mir. Es ist allerhand Landeskunde im Buch, auch die Gesetze der Weißen werden benannt wie beispielsweise das, nach dem ein Junge im Alter von zehn Jahren einen Arbeitgeber nachzuweisen hat.

Natürlich fehlt dem Buch nicht das Element der klassenkämpferischen Erziehung, das in Gestalt eines fremden Weißen auftaucht, der Tommys etwas blauäugigen Vater die Augen öffnet, wie hart und unerbittlich die Konkurrenz sein wird, wenn er seine Schwarzen besser bezahlt und behandelt, ihnen besseren Wohnraum zur Verfügung stellt. Es fehlt auch nicht ein Element, das in den fünfziger Jahren aktuelle Forderungen der Partei bediente, die sich für eine Zeit den Kampf gegen die Groschenheft-Literatur auf die Fahnen schrieb, weil sie in ihnen Jugendgefährdung vermutete. Das ist, wie wir heute wissen, keineswegs an den Sozialismus gebunden, die unsinnigsten Verbotsforderungen kommen immer wieder an die Öffentlichkeit, sobald sich nur der geringste vermeintliche oder tatsächliche Anlass dafür bietet. Savvys Freund Tommy jedenfalls erfährt, dass ein gewaltiger Unterschied herrscht zwischen den klassischen Abenteuerbüchern a la „Schatzinsel“ und „Lederstrumpf“ und eben den Heften, die auch Tommy und Savvy verlocken.

Tommy betätigt sich als Lehrer für Savvy, Savvy betätigt sich als Lehrer für die kleine Mokkli und alle lernen natürlich aus Erfahrung und mit Unterstützung der Eltern. Was mich heute verblüfft, ist die Tatsache, dass niemand auf die Idee kommt aus Savvys Umfeld, dessen Leuten in Krutown irgendeine Information über den Verbleib des immerhin einfach so verschwundenen Kindes zukommen zu lassen. “Ach, ich sagen Ihnen, dieses System ist es! Es ist falsch, krank, unmenschlich! Wenn man es bloß kaputtschlagen könnte! Das wäre gut!“ Das zu lesen, verblüfft mich nicht. Auch Kinderliteratur hatte die Systemfrage zu stellen. In den beiden letzten Kapiteln steigert Götz R. Richter mit sicherer Hand die Spannung so, dass man auf eine Fortsetzung mehr als nur neugierig wird. Es gibt eine heimliche Safari, den giftigen Biss einer Speischlange, Rettung in letzter Not, die Gefahr, dass Savvy von seinen neuen Eltern getrennt wird und das runde schöne Happy End. Savvy erfährt das Wunder der Schrift, als er einen Brief schreibt. „Einmal alle Neger arbeiten mit Kopf. Dann Neger nicht mehr arbeiten für weiße Mann. Dann Neger arbeiten für schwarze Mann.“ Das hat leider bis heute nicht geklappt. Ob die Verbrennung von Groschenheften wesentlich besser ist als die Verbrennung von Büchern, das mag ich heute doch eher heftig zu bezweifeln. Schon allein deshalb war es gut, dem guten alten kleinen Savvy neu zu begegnen.


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