Lorraine Hansberry: Eine Rosine in der Sonne

Größer könnte eine Überraschung kaum sein: die große, freiheitliche, vor Amerikahörigkeit in allen Sälen, auf allen Hochzeiten und in allen Akademien kaum zu überbietende Bundesrepublik Deutschland (alt) hat nie eine deutschsprachige Ausgabe der großen farbigen US-Dramatikerin Lorraine Hansberry auf den Markt gebracht, die 1959 als erste einen echten Broadway-Erfolg feiern konnte mit „A Raisin in the Sun“ („Eine Rosine in der Sonne“). Aus dem Stück (Der Titel ist einem Gedicht von Langston Hughes entnommen) wurde ein Film mit Sidney Poitier und ein Musical, ähnliche Mehrfachvermarktungen bei männlichen weißen Amerikanern waren und sind normalerweise nur mit Waffengewalt von deutschen Bühnen zu vertreiben. Und hier? Der Ost-Berliner Aufbau-Verlag packte das erste und erfolgreichste Hansberry-Drama in seine Anthologie „Amerikanische Dramen aus fünf Jahrzehnten“ (1968), an die Seite von Clifford Odets, Elmer Rice, Arthur Miller, James Baldwin, um nur die bekanntesten Namen zu nennen. Lorraine Hansberry war die einzige Frau im Buch. Sie war bereits am 12. Januar 1965 mit nicht einmal 35 Jahren gestorben, einem Krebsleiden erlegen, geboren am 19. Mai 1930 in Chicago. 1976 legte der Leipziger Reclam-Verlag eine vollständige Ausgabe aller Stücke von ihr vor, bescheidene drei Ost-Mark waren dafür zu zahlen. Die beiden einzigen Exemplare dieser Ausgabe, die, während ich dies schreibe, bei ZVAB angeboten werden, kosten 42 und 42,30 Euro plus Versandkosten. Wenn das keine verrückte Welt ist?!

Viel verrückter aber ist, dass „Eine Rosine in der Sonne“ ein starkes Stück ist, man müsste sich nicht einen aktualisierenden Fingerknöchel in der Nase abbrechen, um es auf eine Bühne zu bringen, denn weder das allgemeinste Problem des Rassismus, noch das Problem der Assimilation noch das Problem der weiteren Entwicklung in Afrika nach der staatlichen Unabhängigkeit, um nur drei zu nennen, die sanft ins Auge springen, wenn man den Text liest, müssen erst aufgebürstet werden. In Zeiten postmigrantischer Theaterexperimente wäre der Griff zu einer unverstellten Textbasis sogar insofern eine Herausforderung, als man angesichts von Blackfacing-Debatten alle schwarzen Rollen (es gibt nur eine weiße) von Weißen spielen lassen könnte. Das Stück hat freilich einen Nachteil: es argumentiert seit 1959 auf frappierende Weise gegen die damals hochmodische Verzweiflungsdramatik, es hat eine, nun ja, humanistische Botschaft, wie sie so oft noch nicht schöner formuliert wurde aus dem Munde der Mutter Lena Younger im Stück. Das ist dann alles wohl doch etwas viel, selbst wenn sich nur Martin Luther King einst in hohen Lobestönen über sie aussprach und man sogar annehmen könnte, dass seine berühmteste Rede-Passage vom Traum, den er hat, ausgerechnet von Lorraine Hansberry inspiriert wurde. Die offizielle DDR hätte sich sicher gefreut, wenn sie eine Kommunistin gewesen wäre, war sie aber nicht. Dennoch hatte sie die Ehre, in ihrer Heimat mit einem fertigen Fernsehspiel für NBC aus dem Programm genommen zu werden 1960, weil Gottes eigenes Land soviel Anti-Rassismus dann doch nicht unter seine wohlverstandene Freiheit subsumieren wollte.

Das Stück ist weder verstörend noch luzide und selbst fulminant würde ich es nicht nennen wollen, somit fehlen ihm drei Grundeigenschaften für eine lobende Erwähnung im feinen Print-Feuilleton. Der Satz ist natürlich pure Polemik, denn selbstverständlich ist das Stück fulminant, luzide und verstörend, nur die Vokabeln sind so abgelatscht, dass bessere Ressortleiter ihren Gebrauch für eine Weile verbieten sollten, womit ich mich wohl wiederhole, aber die fulminant Verstörten wiederholen sich auch von falschem Superlativ zu falschem Superlativ. Dummerweise schreibt die schwarze Autorin Lorraine Hansberry die Worte Negerviertel und Negerdialekt ohne Rücksicht auf unsere neudeutschen Sprachhemmungen und -bedenken. Ob sich deshalb eine Neuübersetzung lohnt, ist fraglich, schließlich hießen bestimmte Dinge in den USA selbst „Negro Movement“.  Schauen wir einfach auf die drei Akte, die im, mit Verlaub, Negerviertel in Chicago spielen. Die Familie Younger wohnt so beengt, dass man es nur mit der „Kommunalka“ des altsowjetischen Wohnungswesen vergleichen kann. Wer ins Bad will, muss früh aufstehen, es ist über den Flur und mit anderen Familien zu teilen, ob das auch für die Toilette gilt, hat die Dezenz der Autorin der Phantasie ihrer Leser überlassen.

Dem Hausstand steht Lena Younger vor, die Mama, deren Mann Walter Lee sich frühzeitig zu Tode gearbeitet hat. Sie hat einen Sohn, der auch Walter Lee heißt, eine Tochter, die Beneatha heißt, eine Schwiegertochter Ruth und einen Enkel Travis. Licht kommt nur aus einem kleinen Fenster zum Hof, die Pflanze, die Mama Lena hegt und pflegt, ist ein Unglücksgeschöpf wie die vergleichbaren Pflanzen bei und für Willy Loman in Arthur Millers „Death of a Salesman“ („Tod eines Handlungsreisenden“). Auch die hochfliegenden und grundlosen Träume dort nebst fast aller Realitätsblindheit sind näher bei dem Geschehen in Lorraine Hansberrys Stück, als man glauben sollte. Der DDR-Staatsbürgerkundelehrer wüsste, woran das liegt: weil es Klassen- und nicht Rassenfragen sind. Das darf man aber nicht weitersagen. Wo kämen wir denn hin, wenn Rassismus nichts mit der Hautfarbe zu tun hätte? Zumal ja die bösesten Rassisten die armen Weißen waren und nicht etwa die reichen. Und bei Lorraine Hansberry lesen wird zu unserer keinesfalls übertrieben geringen oder großen Überraschung: „Und die einzigen Leute in der Welt, die eingebildeter sind als reiche Weiße, sind reiche Schwarze.“ Es schließt sich eine der schönsten Stellen an, die sich im Text finden lassen.

Mama: „Du darfst Leute nicht ablehnen, bloß weil sie wohlhabend sind, Liebling.“ Beneatha: „Warum nicht? Es ist ebenso sinnvoll wie Leute ablehnen, bloß weil sie arm sind, und wie viele tun das.“ Beneatha ist ein sehr kluges Mädchen, das Medizin studieren will und sich immer wieder an etwas anderem ausprobiert zum Leidwesen der Familie. Insbesondere ist sie keineswegs gewillt, einen reichen jungen Mann zu heiraten, nur weil er reich ist, eher neigt sie im Verlauf des Geschehens zu einem Afrikaner aus Nigeria, der für sie einen wunderschönen afrikanischen Kosenamen erfunden hat. Sie kennt auch die Mutter Courage, was 1959 in einem Broadway-Stück schwarzamerikanischer Abkunft dann doch schon ganz schön ist, beinahe hätte ich: krass gesagt. Mutter Lena bekommt von einer Lebensversicherung einen Scheck über zehntausend Dollar, in den USA geht immer alles mit Scheck. Sohn Walter Lee hofft darauf, mit diesem Geld ein Geschäftsmann zu werden. Seine Geschäftsidee ist freilich etwas unamerikanisch aus Sicht der Offizialmoral: Liqueur Shop, Schnapsladen auf gut deutsch. Walter Lee will auch nicht einsehen, warum seine Schwester Beneatha, wenn sie es unbedingt mit Kranken zu tun haben will, nicht Krankenschwester wird oder noch besser einfach heiratet.

Als der sehnsüchtig erwartete Scheck endlich da ist, entscheidet Mama Lena souverän. Sie kauft ein Haus, damit alle der bedrängenden Enge entkommen können, denn Ruth erwartet inzwischen ein zweites Kind und will es angesichts der Not abtreiben. Sie leistet eine Anzahlung und will den Rest teilen: eine Reserve für das Medizinstudium ihrer Tochter, das andere für den Sohn. Das Dumme am Haus: Es liegt in einem rein weißen Viertel Chicagos. Und obwohl Mama Lena sich erinnert, dass es früher im Süden nur ein Ziel gab, nicht gelyncht zu werden und irgendwann in den Norden zu kommen, ist dieser Norden keineswegs so rassismusfrei, wie man erwarten sollte. Der Rassismus des Norden gibt sich kultivierter, sein Vertreter ist Mister Lindner, der durchaus einräumt, es könnte falsch sein, wenn die anderen Bewohner von Clybourne Park unter sich bleiben wollen, aber dazu hätten sie auf alle Fälle ein gutes Recht. Er deutet an, das Haus zu einem Aufpreis zurücknehmen zu wollen, falls die Youngers von ihrem Kauf zurücktreten würden. Die aber schmeißen ihn einfach raus. Für kurze Zeit sind alle fast unvernünftig optimistisch, das sich bis dahin ewig zankende Paar Walter Lee und Ruth geht sogar ins Kino, Beneatha gefällt sich in einem original nigerianischen Kleid. Für Oma Lena gibt es Geschenke.

Um so brutaler ist der Sturz aus allen Träumen, allen Illusionen. Walter Lee hat sich in dümmstmöglicher Weise übertölpeln lassen, sein Freund Willy Harris ist mit seinem Geld über alle Berge und es war nicht nur sein Geld, es war auch das Geld fürs Studium seiner Schwester. Hier wird deutlicher, dass Amerika ganz anders gestrickt ist als etwa die Mitte Europas. Der plötzliche Verlust, der scheinbar alles mit sich reißt, das Haus, das Studium, die Zukunft, führt keineswegs dazu, dass man auch nur eine Sekunde an Anzeige, Polizei, Suche nach dem flüchtigen Dieb und Betrüger denkt. Man verfällt in eine Sinnkrise. Insbesondere die eben noch so kluge, so schlagfertige Tochter Beneatha artikuliert plötzlich Sätze wie aus dem Handbuch des literarischen Weltuntergangs. Und genau hier hat Lorraine Hansberry wieder eine, mit Verlaub, Botschaft. Sie legt dem Nigerianer Joseph Asagai in den Mund: „Wahrheit? Wieso kommt es, daß ihr Verzweifelten immer glaubt, nur ihr hättet die Wahrheit.“ Von genau dieser Überzeugung lebte der gefeiertere Teil der westlichen Nachkriegsdramatik und deshalb, nur deshalb, sagt Asagai zu Beneatha: „Du sprichst wie ein französischer Intellektueller.“  Und: „So schnell, nach so einer kleinen Niederlage, betest du die Verzweiflung an.“ Man könnte das absichtliche Verbreitung von Optimismus nennen. Über den ist der feinere Kopf freilich erhaben.

Von Anfang bis Ende zeichnet sich Lorraine Hansberrys dramatischer Erstling durch demonstrative Vielschichtigkeit seiner Figuren aus. Fast umgehend demontiert sie sich anbahnende Antipathien wie Sympathien, der vermeintliche Dummkopf Walter Lee etwa hat höchst akzeptable Ansichten zwischenhin. Beneatha fragt nach dem, was nach der Unabhängigkeit in Afrika kommt und auch Joseph Asagai hat düstere Visionen, obwohl er sogar bereit scheint, in seine Heimat zurückzukehren, um an der Verbesserung des Lebens dort tatkräftig zu arbeiten, er lädt Beneatha ein, an seiner Seite mitzukommen. Die Probe auf alles aber hat sich die noch keine dreißig Jahre alte Autorin für den Schluss aufgehoben. Der atmet eine Weisheit, die man in diesem Alter einfach nicht vermuten würde. Mama Lena fragt ihre Tochter, wann ein Mensch Liebe braucht. Und sie antwortet: „... wenn er ganz unten ist und schon nicht mehr an sich selbst glauben kann, weil die Welt ihn so geschlagen hat. Wenn du anfängst, jemand Maß zu nehmen, nimm das richtige Maß, Kind, das richtige Maß.“ Das ist, wenn es das gäbe, ganz großes Pathos ohne jedes Pathos. Man könnte von humaner Substanz sprechen. Das allein reicht vollkommen aus für jedes Bedauern dieser Welt, dass diese früh Verstorbene auch an ihrem fünfzigsten Todestag vergessen bleibt.


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