Thomas Brasch: Lovely Rita

Eigentlich hätte ich mir gern „Lieber Georg“ vorgenommen zu diesem 70. Geburtstag. Eigentlich ist das Wort eigentlich ein wenig verpönt. Silvio Blatter hat einmal geschrieben, nur Peter Bichsel dürfe es benutzen, Bichsel aber wird bald 80, da wäre es ratsam, die Nutzungsrechte vorsorglich zu erweitern. „Lieber Georg“ hätte mich jedoch zu tief in das weite Feld Georg Heym geführt, in dem es zwar schon einige Trampelpfade von mir gibt, auch zu Dichter Ernst Balcke natürlich, dem anderen Eiskunstläufer von Thomas Braschs Gnaden, aber dennoch. Dann wäre ich auch auf den Einschub zum NATO-Doppelbeschluss von 1979 gestoßen und das hätte mich, Braschs Rede- und Antwortweise in seinen Interviews aufgreifend, nicht interessiert. Ich habe die DDR-Zeiten noch zu gut im Gedächtnis, da das Öffnen jeder nicht pasteurisierten Hellbierflasche mit dem Weltfrieden verbunden wurde und einer wie Jochen Ziller meinte, Braschs Texte Friedenstexte nennen zu müssen, nur um sie den Offiziellen an den Genehmigungsschreibtischen appetitlicher zu machen.

Stattdessen lieber „Lovely Rita“. In der DDR-Ausgabe des Henschelverlages Kunst und Gesellschaft 1988 (Reihe dialog) für mich ein Erinnerungsstück. Es war der einzige und letzte dramatische Text, den ich anno 1990 las, bevor ich für Jahre in den Mühlen des Lokaljournalismus verschwand. Das Poesiealbum Nummer 89, an dem Hans-Dieter Schütt heute in NEUES DEUTSCHLAND spaltenlang jongliert, bis es ihm gelungen ist, kein Wort über eines der Stücke, einen der Filme, den mehr als tausendseitigen Lyrik-Band, der 2013 Furore machte, zu verlieren, das habe ich natürlich auch. Die Brisanz-Kombination von Einar Schleef als Grafiker, Bernd Jentzsch als Herausgeber und Eckart Krumbholz als Verkniffen-Texter ist mir 1975 nicht aufgefallen, ich las einfältig, wie ich war und deutete nicht Umschlag-Vignetten. Bei „Lovely Rita“ finde ich meine üblichen kleinen Bleistiftmarkierungen, sonst weder Erinnerungen noch Notizen. Am 15. März 1990 blieben drei Tage bis zur Volkskammerwahl am 18. März mit ihrem Sieg der Allianz für Deutschland, die sich damals noch nicht AfD nannte. An die BEATLES werde ich wohl dennoch gedacht haben, bei dem Stücktitel kaum vermeidlich, im Text selbst auch.

Ein Vierteljahrhundert später eine andere Konstellation: ich kann mir via Internet in Bruchteilen von Sekunden sowohl den Paul-McCartney-Text als auch verschiedene Übertragungen ins Deutsche anschauen. Die Geschichte einer Politesse, die dem guten Paul einen Strafzettel verpassen wollte und wie er davon hörte, dass die Politessen in den USA „Meter Maid“ genannt werden, hilft mir am Brasch-Text nicht einen Millimeter weiter. Ich habe beim Wiederlesen den unabweislichen Eindruck, als Adressat nicht gemeint sein zu können. Das 1974/75 entstandene Stück, abgedruckt in einer Fassung von 1978, erlebte seine Uraufführung am 7. März 1978 am Schillertheater seligen Angedenkens in Berlin (West). In meinem Archiv finde ich zwar ein Original-ZEIT-Gespräch mit Thomas Brasch von 1977 über sein neues Buch „Kargo“, von dem ich nur vermuten kann, wie es in meine Hände geriet, aber zu den frühen Aufführungen nichts. Fritz J. Raddatz sprach damals mit Brasch und musste sich mit etlichen seiner Thesen den sehr deutlichen Widerspruch des Übersiedlers aus dem Osten anhören.

Das ließe sich festhalten: der in der DDR ungeliebte und ungelittene Funktionärssohn Thomas Brasch - Vater Horst (23. Dezember 1922 bis 18. August 1989) soll nicht nur vorübergehend der Sippenhaft verfallen sein, als Sohn Thomas gegen den Einmarsch in die CSSR 1968 protestierte, er soll seinen Sohn auch selbst angezeigt haben, was Hans-Dieter Schütt aus seinem unerschöpflichen Nähkästchen präsentiert – versuchte gar nicht erst, in dieses oder jenes Schema zu passen. Bis auf eines, das er freilich selbst nicht reflektiert, darüber wird zu reden sein. 1977 jedenfalls ging die Rede noch vor „Kargo“ sehr viel mehr über „Vor den Vätern sterben die Söhne“. In „Lovely Rita“ heißt  es kurz vor Toresschluss: „Ach, aber ach, vor den Vätern sterben die Töchter.“ Es ließe sich ein Exkurs anschließen über die Ansichten, was Töchter vor Söhnen, Frauen vor Männern auszeichnet in der Sehweise von Thomas Brasch, man wäre jedoch etwas früh dran. Rita sagt auch „Blut ist ein besonderer Kirschsirup.“ Was wie ein eher einfallsarmer Verweis auf Goethes „Faust“ aussieht, verrät etwas vom Stück, worauf man einfach so nicht kommt, wenn man nicht einen Grundkurs in Braschs Sehweisen genommen hat.

Hier genau liegt der Punkt. Man könnte sich Thomas Brasch wie den verliebten Backfisch mit der Blüte in den Händen vorstellen: „Er liebt mich, er liebt mich nicht, er liebt mich, er liebt mich nicht...“. Nur der Text wäre anders: „Es interessiert mich, es interessiert mich nicht, es interessiert mich, es interessiert mich nicht...“. Das ellenlange und doch fragmentarische Interview, das Herausgeber und Nachwortautor Jochen Ziller am 2. und 11. Januar 1987 in Berlin-Karlshorst mit Brasch geführt hat, Ziller war am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin der Regisseur der DDR-Erstaufführung von „Mercedes“, wiederholt fast steißtrommlerisch genau diese Formulierungen. Wer aber die Welt, praktisch genug, für sich in eine duale verwandeln kann, an der  und von der etwas interessiert oder nicht, also dann fast folgerichtig auch langweilt, der pflegt eben an sich und in sich genau jenes Individuum, das in der Theorie, die Brasch vorträgt, ausgedient hat. Philosophisch reicht solch extreme Ich-Bezogenheit im Blick auf die Welt durchaus ran an den guten alten Solipsismus, was nicht schlimm wäre, aber nicht still verheimlicht werden sollte.

„Lovely Rita“, ich habe das Geständnis bis hier vor mir hergeschoben, war mir ein Buch mit einigen, wenn auch nicht unbedingt sieben Siegeln, bis, ja bis ich die überaus eingehende und in sich sehr kompakte und stringente Erklärung gelesen hatte, die dem genannten ausführlichen Gespräch zu entnehmen ist. Und da liegt ein Problem, von dem ich halbwegs tapfer annehme, es könnte nicht nur meines sein. Kunstwerke, deren Wirkung nur den Adressaten halbwegs im Sinne des Künstlers erreichen können, der vorher einen Intensivkurs in dessen Theorien genommen hat, sind ohne Wenn und Aber elitär und zwar in genau dem Sinne, dass sie nur mit einer verschwindend geringen Gruppe intellektueller Rezipienten rechnen können, wenn auch nicht immer automatisch oder bewusst wollen. Wer einfach so an die Lektüre herangeht, hat schon damit extreme Schwierigkeiten, dass er gar nicht recht weiß, was abläuft, es gibt keine die Szene wenigstens andeutungsweise erläuternde Beschreibung von Ort und Zeit. Dass dies dem Anliegen widersprechen würde, weiß man erst, wenn man Braschs Dramaturgie-Absichten kennt. Die wiederum erwachsen aus einer Sicht auf Theatergeschichte seit der Antike, die sehr apodiktisch vorgetragen wird.

Es ließe sich angesichts der bewundernswert ausgebauten, auch ausformulierten Sichtweisen, die Brasch anbietet, als hätte er nur auf die Stichworte gewartet, sagen: Wer so viel Geist in die Konstruktion von Stücken investiert, der redet auch gern darüber. Auch das aber ist vor allem ein Problem: die Stücke sind konstruiert, sie sollen einer bestimmten Idee, bestimmten Ideen zu Anschaulichkeit verhelfen. Wer aber wie Brasch alles wenig oder nicht interessant findet, was auch nur den Anhauch von Profanität hat, von einfacher Orts- und Zeitgebundenheit zeugen würde, dem sind nicht nur Archetypen vorbildlich, der sucht auch eigene, neue Archetypen zu erschaffen. Dass sich diese, gemessen an den von Brasch genannten wie Ödipus, Don Quixote oder Hamlet, sehr klein ausnehmen, sollte nicht überraschen. So ist Rita, die Schauspielerin des Stückes, Akteurin in einem tendenziell geschichtsfreien und zeitlosen Raum, etwas wie ein Mini-Archetypus, die Anachronismen des Textes, die ja gewollt sind, dienen gerade zur Demonstration dessen, und kein Wesen von Fleisch und Blut wie irgendeine bürgerliche Nora oder Hedda Gabler, wie irgendeine vorbürgerliche Ophelia. Was aber ist das NACH der Bürgerlichkeit??

Über die Aufnahme seines Werks im Westen klagt Brasch im Gespräch mit Jochen Ziller interessanterweise mit Hinweis auf die Debatten, die er erlebte: „Es ist tatsächlich immer wieder über Ästhetik diskutiert worden, und das war vorwiegend die Ästhetik des Schwarzweißfilms oder des Experiments.“ Über etwas anderes, möchte man sagen, wenn es nach den vielen Jahren nicht fast schon albern klänge, kann aber genau diese Konsumentenschicht, die allein überhaupt erreicht wird, gar nicht diskutieren. Denn auch sie sieht vom Profanen, vom Konkreten, vom Alltag, natürlich ab, weil das ja keine Kunst wäre, sondern Abbildtheorie, für sie fast gleichbedeutend mit Naturalismus. Der Künstler Brasch kann mithin die Geister, die er ruft, nicht bannen, er sieht sich ihnen ausgeliefert. Auch Günter Kunert hat seinerzeit das etwas verärgerte Credo abgegeben, er sei im Zweifel immer Inhaltist. Der Aufenthalt im Westen wird so für einen wie Brasch und das findet sich nun in diversen ihm geltenden Artikeln über die Jahre auch nach seinem Tod hin immer wieder neu formuliert, zu neuer Heimatlosigkeit. Sein Ideal wäre gewesen, bekannte er Jochen Ziller: „Wenn ich ein Stück schreiben könnte, so wie Bosch malt, dann, das glaub ich, das wäre dann das erste Stück, das mir hundertprozentig gefallen würde.“ Hieronymus Bosch als Vorbild für ein Stück passte zu seinen Theorien von Rand und Mitte, auch zur seltsamen und vermutlich frei erfundenen Mär von den Fischschwärmen, die einem geistesgestörten Leitfisch folgen. Thomas Brasch war theorieverliebt mit Neigung zu logischen Kapriolen.

Wer mit Stücken wie „Lovely Rita“ etwas anfangen will jenseits der längst und bis zum Erbrechen abgenutzten Provokativreize der erweiterten Heiner-Müller-Schule, dessen Leitfigur heute gar nicht überraschend am interessantesten in ihren Gesprächen ist und nicht mehr mit Blut, Urin und Sägespänen auf der Bühne, der muss sich solche Sätze verinnerlichen wie: „So glaube ich, daß es eine neue Art von Helden gibt, Helden in Anführung, Hauptfiguren eines Stückes. Das sind viel eher Demonstrationsobjekte für mich als ganzheitliche Menschen, die etwas wollen...“. Ist es tatsächlich nur eine Frage der siegreichen Bürgerlichkeit, wenn eben die ganzheitlichen Menschen auf der Bühne über die Jahrhunderte hinweg oder auch nur über 15 Jahre ununterbrochene Spielplanzugehörigkeit ein Publikum erreichen und bewegen, während die Demonstrationsobjekte schon vergessen sind, ehe das Publikum der Vorstellungen nach der Premiere, wenn keine Presse mehr kommt, überhaupt annähernd ahnt, was demonstriert werden sollte?

Von Rita sagt Thomas Brasch: „Sie entwirft sich eine Welt für sich, die für sie interessant wäre.“ Und auch, Figuren wie sie seien „in einer verstörenden Weise geschrieben.“ Abgesehen davon, dass das Modewort des gehobenen Feuilletons damit auf ein beträchtliches Alter zurückschauen kann, Brasch benutzt es mehrfach ganz selbstverständlich schon vor fast 30 Jahren, ist hier natürlich immer wieder das Problem benannt: „Es ist ja in dem Sinn viel eher ein Konstruktionsspiel in der Nachfolge vielleicht von Marivaux; es wird am Anfang auf einem Reißbrett ein Konflikt entworfen.“ Genau damit aber ist Brasch näher an den Forderungen des Systems seines Vaters, als er womöglich je glauben mochte. Denn auch die Kulturoberen der DDR, die Schöpfer des ästhetischen Theoriekanons neigten sehr stark zur Konstruktion von Konflikten am sozialistisch-realistischen Reißbrett. Wenn Brasch beabsichtigt, „Figuren vorzuführen, die keine Lösung vorzuschlagen haben, sondern eine Lösung suchen“, dann könnten dass eben auch Wunsch-Parteisekretäre sein, oder Baggerführerinnen, die auf dem Wege der Ich-Erkundung zu Aquarellmalerinnen oder Töpferkursleiterinnen werden.

Rita, die im Stücktext, naiv gelesen, sich mit einer Nagelschere den Puls aufsticht, später mit einer Stricknadel auf der Klobrille stehend eine Abtreibung vornimmt, zwischendurch ein paar weibliche Mithäftlinge verrät und einen Offizier erschießt, sagt einmal: „Arbeiten kann, wer keine Lust zum Leben hat. Für Leute mit Verstand gibt's nur zwei Möglichkeiten: Künstler oder Krimineller.“ Das anhaltende Interesse von Thomas Brasch an Kriminellen (siehe sein Mädchenmörder-Projekt) ist damit, wenn nicht ganz, so doch teilweise erklärt. Rita vom Reißbrett aber ist viel mehr. „Und deshalb, da sie ihr eigener Autor ist, ihre Geschichte entworfen hat, gleichzeitig ihr eigener Regisseur ist, nämlich allen Leuten sagt, was sie um sie herum zu tun haben, und ihr eigener Darsteller ist, erzählt sie eigentlich auch die Geschichte des Theaters in diesem Stück. Darüber hinaus ist sie noch ihr eigener Kritiker.“ Wer so entworfen wird, braucht keine Welt. Wozu auch?


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