Georg Britting: Das Storchennest

Mein erster Satz zu Georg Britting sollte lauten: Irgendwann begegnet man ihm. Danach hätte sich der Rest wie von allein geschrieben. Ich kenne die Wirkung meiner ersten Sätze auf mich. Nur finden muss ich sie. Plötzlich aber finde ich das „man“ anmaßlich. Denn ich rede natürlich von mir. Fast alle, die „man“ sagen, reden von sich. Ich bin ihm irgendwann begegnet, ich, und schon stimmt auch das „irgendwann“ nicht mehr. Denn es war natürlich in den Anthologien, die Wulf Kirsten und Konrad Paul mit deutschsprachigen Erzählern füllten, die bis dahin in vielen Fällen nicht oder fast nicht für würdig befunden worden waren, von DDR-Lesern gelesen zu werden. Eine Geschichte hieß „Die schöne Handschuhverkäuferin“, eine andere „Der Eisläufer“, eine dritte „Donaufischer und Mädchenhändler“ (bei der hieß der Herausgeber Fritz Hofmann). Dann las ich ein Stuttgarter Reclam-Bändchen, dann stellte ich mir drei Bände von „Sämtliche Werke“ ins Regal, erschienen im Münchner Süddeutschen Verlag, und blätterte regelmäßig in Brittings frühen Theaterkritiken aus Regensburg. Der am 17. Februar 1891 in Regensburg geborene Georg Britting schrieb schon mit zwanzig, einundzwanzig Jahren verblüffend gute Sachen, so gute, dass mir sein fünfzigster Todestag am 27. April 2014 eine gute Gelegenheit schien, auf ihn zu deuten. Doch anderes drängte sich vor, auch die Einsicht, dass zu weckende Neugier auf ihn keine Stunde kennt.

„Das Storchennest“ ist eine fünfaktige Komödie von nur fünfzig Druckseiten Länge, kürzere Akte hat allenfalls noch Franz Xaver Kroetz, der deshalb seinen Inszenatoren befiehlt, die Pausen exakt einzuhalten. Als hielte sich irgendein Regisseur an das, was ein Autor kursiv drucken lässt. Britting hat den ersten Akt seiner Komödie auch als Einakter veröffentlicht, Titel „Der Mann im Mond. Ein Schattenspiel“. Es geht darin um einen Mann namens Sebald, der einem Totengräber den Wunsch anträgt, von ihm lebendig begraben zu werden. Der Totengräber lehnt das ab, selbstverständlich lehnt er das ab, was dazu führt, dass sich Sebald vor seinen Augen erschießt. Das mag man grotesk nennen, makaber, schwarz, es ist in die Schublade „Einakter des Expressionismus“ geschoben worden. Britting selber, der ganz junge noch, hat bei Betrachtung des Volksstücks „Magdalena“ von Ludwig Thoma, die „Archivare, Bibliothekare und Registratoren der Literatur“ bezichtigt, „langweilige Tröpfe“ zu sein, „die am liebsten jede dichterische Begabung ein für allemal klassifizieren möchten“. „Und wenn irgendein neues Erzeugnis nicht mehr in das Aktenfach passt, dann muss es eben auch nichts wert sein, denn zwei Fächer werden nicht zugestanden.“ Das muss deshalb so ausführlich zitiert werden, weil sich in hundert Jahren seither nichts geändert hat. Man liest und vergisst und lernt nicht und begreift nicht. Und kaum eine Schublade geht zu.

Es gibt im Schattenspiel, und im ersten Akt demzufolge auch, einen Straßenbahnschaffner, der Marx gelesen hat. Gelernt hat er dabei, was immer er las, bei Marx steht es jedenfalls nicht: „Der Sozialismus will, dass alle Menschen gleichen Anteil haben sollen an der Erde.“ Der Schaffner ist völlig begeistert und kann gar nicht verstehen, dass andere nicht spontan auch begeistert sind. Ein Kollege beispielsweise wird von ihm so agitiert: „Etwas Sozialistisches, einen Satz, der Ihnen die Welt umkehrt, um und um. … Etwas Sozialistisches, ein Wort, das Sie zersprengt, einen Satz, der Ihre Augen tanzen macht. … Jeder Mensch soll gleichen Anteil haben an allem dieser Erde. … Gleichen Anteil. Sie hören das Evangelium und zittern nicht? Sie hören das Wort und fallen nicht in die Knie?“ Der andere Straßenbahnschaffner antwortet, das alles schon im fünften Akt: „Ich esse am Sonntag Schweinebraten. … Das ist Zufriedenheit. Nur ein zufriedenes Herz macht glücklich.“ Was übrigens in etlichen Kroetz-Stücken auch gesagt sein könnte und nicht zwingend Zufall zu nennen wäre. Auch Trudel im Brautkleid will nicht zur Versammlung des Allgemeinen Sozialistenvereins, mit dem der Straßenbahnschaffner also allein bleibt. Nur Sebald, im ersten Akt, der sich erschoss, zeigte Interesse und horrendes Missverständnis. Er meinte, seinen jeweiligen Anteil möglichst sofort haben zu müssen. Von Trudel im Ballkleid bekommt er zehn Minuten.

Das wäre eine lustige Welt, wenn sie so aufgeteilt würde, fand wohl auch Georg Britting, der nach dem ersten Weltkrieg einem Arbeiter- und Soldaten-Rat angehörte, obwohl er Offizier und Kompanieführer gewesen war. Als er die kurzlebige Zeitschrift „Die Sichel“ führte, die dem Spätexpressionismus zugeordnet wird im Kreis der „langweiligen Tröpfe“, war auch ein gewisser Alexander Abusch, Gründer der Gruppe „Junges Franken“, später Stellvertreter und für kurze Zeit sogar Nachfolger von Johannes R. Becher als DDR-Kulturminister, ein Mitarbeiter. Das findet sich erstaunlicherweise weder bei Wikipedia noch in „Wer war wer in der DDR?“, dem großen zweibändigen Lexikon des Christoph-Links-Verlages. Abusch-Wirkungen auf Britting zu behaupten, wäre freilich dennoch ein Unfug. „Das Storchennest“ steht im Fünfakter für zweierlei: Für idyllisches Glück, wie es sich der reiche Alexander vorstellt, der die Ehefrau des Selbstmörders Sebald noch neben dessen Leiche um ihre Hand bittet. Dort, wo er ein Gut gekauft hat, hat ein Storchenpaar ein Nest gebaut. Er war in der „Faust“- Oper, bevor er Anna seine Aufwartung machte. „Ich hab mich gewundert, dass der Teufel Bass sang. Ich hielt den Teufel für einen Tenor.“ Solche Sätze haben genau die Verführungskraft, denen ich geballte Machtlosigkeit entgegen setze.

Als Georg Britting 1964 starb, widmete ihm Walter Abendroth einen knappen Nachruf in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Abendroth war von 1948 bis 1955 Feuilleton-Chef der ZEIT, die seine Aktivitäten zwischen 1933 und 1945 offenbar ähnlich großzügig übersah wie einst auch der SPIEGEL die etlicher seiner Mitarbeiter. Beide Blätter holten ihre Versäumnisse bekanntlich mit aller Härte nach, indem sie jagdbare DDR-Würdenträger in später Stellvertretung jagten und erlegten. Von diesem Abendroth war über Britting zu lesen: „Dieser urige, weltungewandte, breite Altbayer war keiner literarischen Richtung, keiner Clique, keiner noch so dehnbaren Tendenz verpflichtet und wohl das unakademischste Mitglied zweier Akademien.“ Und auch noch: „Die Dichtung Georg Brittings, gleichviel ob in Vers oder Prosa, verrät in jeder Zeile den bewussten Arbeiter am Wort. Kein Buchstabe, kein Komma findet sich in seinem Werke, die nicht selbstkritisch verantwortet wären.“ Keine Silbe über Inhalte des Britting-Werkes, als ob die Arbeit am Wort es wäre, die Menschen zu Büchern greifen lässt. Nicht einmal ein Hinweis darauf, was 1964 wohl opportun gewesen wäre, dass der im Lande verbliebene Dichter mehrfach den Unwillen der Nazi-Oberen erregte und nicht wie andere Wort- und Komma-Feiler aus Bayern um deren Gunst buhlte und deren völkischen Beifall eifrig und meist schlecht herbei schrieb.

Bühnenerfolge hat Georg Britting keine errungen zu Lebzeiten, daran wird sich wohl nun auch nichts mehr gutmachen lassen. Immerhin: das zweite, wofür das „Storchennest“ noch steht, soll keinesfalls vergessen werden. Der Totengräber bringt es zum Ausdruck: „Ein Storchennest, an eine Turmspitze geklebt. Ein warmes Nest. Und nicht zu weit fliegen und immer wieder zurück ins Nest. … Und nicht zu weit fliegen, sonst stößt man sich den Schnabel am Mond blutig. … Warum bloß der Mond so infam lächelt?“ Als seine Frau ihn ganz am Ende ins Bett ruft, erkundigt er sich, ob das „Nest“ auch schön warm sei. Aus einem realen Nest hat ein Landstreicher zwei Eier genommen und ausgetrunken, es war ein Storchennest, erfährt man im dritten Akt. Und damit auch, dass Britting einen durchaus schwarzstorchschwarzen Humor haben konnte, wenn er wollte. Sebalds Witwe Anna ist übrigens sehr rasch geneigt, dem Werben Alexanders nachzugeben, während Sebalds Schwester Lydia das weiß, was Anna leugnet und nicht wahrhaben will: „Er war lebendig begraben. Es war ein Toter unter uns.“ Da ist dann doch eine solide Portion Expressionismus in den Teig gerührt. Und dem Totengräber wird indirekt zugestimmt, der sagt: „Ich habe auf dem Weg hierher über meine Schuld nachgedacht. Da ist sie kleiner geworden.“ Was für ein wunderbares Rezept: Schuld kann durch Nachdenken kleiner werden, Nebenwirkungen siehe Packungsbeilage.

Es gibt noch einen Akt, der in einem Bordell spielt. Dort langweilen sich zunächst die Mädchen, zanken sich, es geht um ein Buch, das verschwunden zu sein scheint. Noch vor den ersten Kunden taucht Lydia auf, die hier Unterschlupf finden will und gar keine Ahnung hat, was in diesem Haus wirklich geschieht. Lydia verliert ihre Jungfernschaft und ihr Leben durch einen betrunkenen Matrosen, der nach Schnaps stank, als er den Salon betrat. Der Matrose rechtfertigt sich: „Besser als nach Zwiebeln wie ein Jud.“ Auf einen Antisemitismus bei Britting deutet das nicht, wäre vorsorglich anzumerken. Sein Nachrufer Abendroth wäre da eher dingfest zu machen. Lydia hatte sich eine Mitschuld an Sebalds Tod gegeben und daraus die spezifisch absurde Folgerung gezogen, künftig Liebe zu zeigen, wo immer es geht. „Hier darf man gut zu jedem sein?“ fragt sie im Bordell in unfassbarer Naivität. Man darf, aber die anderen sind zu keiner Gegenleistung verpflichtet. Im ersten Akt fielen Sebalds fast euphorische Worte: „Wer an den Satz vom gleichen Anteil glaubt, ist ein guter und vortrefflicher Mensch.“ Aus der Zahl der im Stück daran Glaubenden ließe sich die wenig ermutigende Folgerung ziehen, dass es sehr wenig gute Menschen gibt in dieser Welt. Julius Bab hat das gedruckte Stück als „dürftiges Machwerk“ verworfen, der Wiener Hans Frank, nachmals stellvertretender Volkstheater-Direktor, nannte es „eine echte Komödie“.


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