Johanna Schopenhauer: An Rhein und Maas

Strenger genommen ist dies Buch für mich ein Ärgernis. Als gewesener DDR-Bürger bin ich allen Auswahlen gegenüber misstrauisch, gewohnt, die Auswahl und deren Kriterien nicht selbst überprüfen zu können. Nicht wenige DDR-Auswahlen gaben vor, das Beste der jeweiligen Verfasser/innen zu präsentieren, was automatisch einschloss, dass alle späteren Auswahlen bestenfalls noch das Zweit- und Drittbeste zwischen Buchdeckel brachten. Was abermals nicht überprüfbar war. Schaute man später bei passender Gelegenheit in die Originalsammlungen, war man nicht selten verblüfft und sprachlos, worauf da verzichtet worden war. Noch misstrauischer aber machte und macht mich, wenn ein Herausgeber mitteilt, er habe den Text „behutsam“ an heutige Lesegewohnheiten angepasst, ihn „modernisiert“. Ich wäre auf mühsame Textvergleiche angewiesen, um zu erkennen, was dieser dreiste Herausgeber unter modern versteht und will es gar nicht wirklich wissen. Zitiere ich also einen schönen Satz von Johanna Schopenhauer und habe eigentlich einen von Ernst-Edmund Keil, um beim hier in Rede stehenden Titel zu bleiben, dann wäre ich in einer Situation des Betrogenen, mindestens des Bevormundeten.

Für „An Rhein und Maas“ muss ich, ob ich mag oder nicht, erst einmal das Reihen-Credo dieser „Edition Mercator“ akzeptieren, das sich auf den Niederrhein beschränken will. Dennoch weisen von den am Ende des Bandes beworbenen Büchern der Reihe vier die Angabe „herausgegeben und eingeleitet“ vor, nur einer „bearbeitet und eingeleitet“. Viermal taucht der Name Günther Elbin auf, einmal Ernst-Edmund Keil. Just der aber hat Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“ auf 150 Seiten zusammen geschlachtet, meine Ausgabe umfasst dagegen stolze 742 Seiten (inklusive Personenverzeichnis). Würde man dies auf dem Verhandlungsparkett eine vertrauensbildende Maßnahme nennen? Nicht weniger als 31 der insgesamt nur 118 Seiten verwendet Keil für sein Vorwort. Dagegen wäre wenig zu sagen, nähme dieses Vorwort nicht fast alles vorweg, was dann im Text noch einmal in den Worten von Johanna Schopenhauer erscheint. Zudem endet das Vorwort auch noch mit einem wirklich unverzeihlichen Fehler, denn das 1987 erschienene Buch hat natürlich nichts mit einem bevorstehenden 150. Geburtstag der Schopenhauer zu tun, sondern mit dem 150. Todestag 1988, wenn man schon einen Vorabend braucht.

Was sollen wir von einem Vorwortautor halten, der ihre „unvergänglichen Reisebeschreibungen“ beschwört und dann von ihren „nicht weniger vergänglichen Jugenderinnerungen“ schreibt? Wenn ein Buch nicht mehr enthält als „Zeugnisse einer höchst liebenswerten Dame von Welt“, dann muss es vielleicht doch nicht zwingend auf den Markt. Und dass sie „an der Kultur der Weimarer Klassik und der Rhein-Romantik einen zwar bescheidenen, aber durchaus lebendigen und erinnernswerten Anteil hatte“, wird man so sagen können, wenn man auf Leser rechnet, die solchen Sätzen nicht nach lauschen und sie bedenken. War, als Johanna Schopenhauer mit Tochter Adele am 28. September 1806 in Weimar eintraf, tatsächlich noch Klassik? Herder tot, Schiller tot, die Debatten, was das denn nun eigentlich war und von wann bis wann, diese „Weimarer Klassik“, sind ja auch heute nicht tot, berühren aber bei näheren Nachdenken kaum, was wir an Johanna Schopenhauer haben oder nicht haben. Karl Ludwig Fernow, Anna Amalias Bibliothekar (19. November 1763 – 4. Dezember 1808) unterrichtete sie nicht nur im Italienischen, er ist letztlich der Grund, warum sie zu schreiben begann, ein Klassiker? Die Frage stellen, heißt ihre Absurdität begreifen.

Die bösartigste Herabwürdigung Johanna Schopenhauers, die ich kenne, stammt von Gerd Mattenklott (21. Januar 1942 – 3. Oktober 2009): „Uns ist die Vorstellung eines näheren Umgangs mit Johanna Schopenhauer, Bettina von Arnim oder Charlotte von Kalb abzüglich ihrer brieflichen Hinterlassenschaft erspart. Das war aber schon für die Zeitgenossen oft kaum anders. Nur brieflich waren sie im Grunde für vollzunehmen. In den Briefen stecken die Frauen wie in Quarantäne.“ Das steht in einem immerhin doch ehrgeizigen „suhrkamp taschenbuch“ mit dem Titel „Schreibende Frauen“, in dem Helma Sanders-Brahms öfter genannt wird als eben Johanna Schopenhauer. Wobei heute niemand mehr ernsthaft glaubt, dass unter dem Pflaster der Strand ist. Auch will die These, je langweiliger ein verwackelter schwarzweißer Hand-Kamera-Autorenfilm sei, um so wertvoller, heute kaum noch jemand unter die großer Erkenntnisse des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts reihen. Johanna Schopenhauer hat beispielsweise ihre Jugenderinnerungen mit einem Kapitel begonnen, das „Wahrheit ohne Dichtung“ heißt. Man muss kein Komparatistikstudium bei Gert Mattenklott absolviert haben, um zu ahnen, worauf das anspielt. Richtig: Goethe.

Mein seit reichlich drei Jahren im Netz stehender Text „Tee bei Johanna Schopenhauer“ enthält einiges zum Thema Goethe und Johanna Schopenhauer, das hier nicht wiederholt werden soll. Immerhin ist schon die Kapitel-Überschrift Polemik. Obwohl ihr Goethe viel gilt, sehr viel, fühlt sie sich von ihm bedrängt: „... auch ich habe manches aus meinen früheren Erlebnissen, das ich gern mitteilen möchte, doch Goethes Ausspruch klingt abschreckend genug, um wenigstens einiges Bedenken zu erregen.“ Goethe hatte es als Plage der bösen Zeit bezeichnet, dass jetzt (1806) jeder Narr seine eigene Geschichte habe. Was aus dem Munde Goethes natürlich klang wie: Jeder, der eine eigene Geschichte beansprucht, ist ein Narr (nur ich habe das Recht, schwingt dabei mit). Johanna Schopenhauer aber kommentiert: „Ein im Unmut ausgestoßenes Wort macht indessen noch kein Gesetz, auch kann man ein Buch, das nicht unterhält, leichter zuschlagen, als langweilige Schwätzer zur Tür hinausführen!“ Das sagt ja nicht mehr und nicht weniger als: Nicht jeder Satz von Goethe ist Gesetz. Den hartgesottenen Gotheanern muss das bis heute streng genommen täglich aufs Brot gerieben werden, schon wegen ihrer bekannten Belehrungsresistenz.

Es ist die so genannte zweite Rheinreise von 1828, deren Extrakt als Buch 1831 erschien und die letzte vollendete Reisebeschreibung Johanna Schopenhauers darstellt, Titel: „Ausflug an den Niederrhein und nach Belgien“. Die erste Rheinreise fiel ins Jahr 1816, das Jahr nach den beiden Goethe-Reisen dorthin, das Buch dazu hieß „Ausflucht an den Rhein“ und erschien 1818. Die Neuausgabe aus dem Jahr 1988 konnte ich bisher nirgends finden, dafür aber einen Titel „Ausflug nach Köln im Jahr 1828“, 1975 erschienen, der wohl das ergänzt, was in „An Rhein und Maas“ auf 27 Seiten mit sechs ganzseitigen Illustrationen streng ausgewählt erscheint. Johanna Schopenhauer reiste mit dem Dampfschiff von Bonn nach Köln. In ihren Jugenderinnerungen steht: „Mit verdreifachter und vervierfachter Schnelle gehen Leben und Reisen in Eilwägen und auf Dampfschiffen vorwärts, sogar die Stunden galoppieren.“ Sie schreibt das mit Blick auf Kindheit und Jugend und nennt den Namen Klopstock, den sie einst in ihrer Hamburger Zeit persönlich kennenlernte. Das freilich unterscheidet sie von späteren kulturkritischen Berufspessimisten, sie sah technische und selbst industrielle Entwicklungen dezidiert positiv.

„Im Pavillon saß eine Gesellschaft Engländer nach gewohnter Landessitte noch bei der Flasche, stritt über die Emanzipation der Irländer ...“. Sie kannte sie von ihrer großen Reise vom Anfang des Jahrhunderts sehr gut, diese Engländer, sie sprach sehr gut deren Sprache, was keineswegs der Normalfall für junge Mädchen und Frauen der Zeit war. Deshalb notiert sie vom Besuch in Aachen dann auch dies: „Aber Engländer gibt es in Aachen wie Sand am Meer, Engländer und englische Damen und englische Kinder, wohin man den Blick wendet. Freilich aber tragen diese ihr ungeselliges, abstoßendes Wesen hier ebenso zur Schau wie anderswo.“ Immerhin schwärmt Johanna Schopenhauer von der Grazie der englischen Pferde. Köln mache, fand sie, „keinen besonders freundlichen und erheiternden Eindruck“, die Stadt sei „eine seltsame Zusammensetzung von Schön und Hässlich, von Alt und Neu, wobei ersteres immer noch das Übergewicht behält, von beklemmender Düsterheit und freundlicher Helle.“ Sie staunte vor und im Dom, sie lauschte der Mundart: „... keinem wird es jemals gelingen, sie sich ganz anzueignen, und gäbe er sich auch die größte Mühe.“ Aus dem Munde von Frauen klang ihr das Idiom besonders angenehm.

Natürlich hat sie auch den wieder erstandenen Karneval erlebt: „Was aber diese Blätter unmöglich darstellen konnten, ist die unsägliche Lust, mit der jeder, selbst ohne zu dem eigentlichen Maskenzuge zu gehören, an dem Maskenscherze teilnimmt … Man muss es sehen, man muss es, von dem allgemeinen Strudel ergriffen, mit erleben, um nur daran zu glauben.“ In Aachen, wo es eben von Engländern wimmelt, registriert sie die Abwesenheit von Russen und Polen, die wie der hohe österreichische Adel die böhmischen Bäder bevorzugen. Wir wissen von den Verzückungen, in die Goethe geriet, wenn Wien dort anreiste und dem Eifer, mit dem er Verslein verfasste, um höchste Damenhuld zu erringen. Wenn dann Christiane mit eigener Kutsche kam, war alles zu spät. Der Elisenbrunnen in Aachen sieht heute noch aus wie auf dem Stich von Jean Nicolas Ponsart aus dem Jahr 1830. Ponsart war übrigens 1825 Bühnenbildner und Dekorationsmaler am Aachener Theater, dem ein eigener Abschnitt im Buch gewidmet ist. Auch hier hebt die Autorin das Technische der Bühnenmaschinerie heraus. Und lobt den französischen Foyers nachempfundenen Salon, in dem man bequem seinen Wagen oder Bedienten erwarten kann (oder beide).

Auf Aachen folgt im Buch Lüttich: „Die Meilen sind in Brabant weit länger als in Frankreich. Ein holsteinischer Bauer würde von ihnen sagen, der Fuchs hat sie gemessen und immer den Schwanz dazu gegeben.“ Johanna Schopenhauer ist von der Landschaft begeistert und von den Herden weidender Kühe. Immer wieder vermerkt sie Reinlichkeit, wem dies auffällt, hat sie andernorts sehr schmerzlich vermisst. Und sie erinnert sich an ihre erste Reise, sieht die Veränderungen sehr genau. „Die hässliche schwarze Vermummung der Frauen aus dem Bürgerstande ist verschwunden“, und: „England und die Schweiz ausgenommen, gibt es für Reisende kein teureres Land.“ Das hat sich glücklicherweise etwas geändert, dafür ist die schwarze Vermummung von Frauen zurückgekehrt. Die Brabanter Bauernmädchen aber konnten etwas, was man heute nur mit Afrika in Verbindung bringt, sie trugen ihre Lasten auf dem Kopf: „... sie schreiten mit großer Sicherheit und nicht ohne einige Anmut unter ihr her.“ Das Maastal ist für sie das Erlebnis der „Schönheit dieses bebautesten, lebensreichsten Landstrichs, den ich jemals gesehen“, sie kapituliert ohne alle Koketterie vor der Aufgabe, das alles angemessen zu beschreiben, man müsse es sehen.

Was ich von Tilleur lese, von Seraing, Jemeppe, vom Städtchen Huy, das führt mir Bilder vor Augen, dann kommt natürlich Dinant, alles kenne ich, alles habe ich mehrfach gesehen, wenn auch an die zweihundert Jahre später. Wieder ihr Satz: „So etwas lässt sich weder malen noch beschreiben. Man muss es sehen.“ Und dann: „Üppig rankende Hopfenpflanzungen, gleich hinter Namur und auch weiterhin, an beiden Ufern des Stromes, verkünden uns das Bierland“. Ich hole meinen ebenfalls üppigen Bildband aus dem Regal „Bierkultur an Rhein und Maas“ (Bouvier Verlag Bonn 1998) und gedenke der mehr als 600 Sorten belgischen Bieres, die ich im Lauf der Jahre verkostet habe. Die Frau in der Quarantäne ihrer Briefe? Was für ein rasanter Blödsinn! Auf dem Rückweg nach Namur sieht sie alles noch einmal: „Nie habe ich einen herrlicheren Abend erlebt.“ Das Buch mit dieser hinzunehmenden Textauswahl endet mit einem Appell: „Auch unsere deutschen Landschaftszeichner und Maler möchte ich ins Maastal schicken. … An der Maas bietet sich ihnen ein reiches, weites, bis jetzt noch fast unkultiviertes, herrliches Feld für ihre Kunst.“ Das kann man, so abrupt es erscheinen will, zum Schluss einfach so stehen lassen.


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