Gustav Freytag: Die Journalisten

Die berühmteste, kompakteste und vielleicht auch substantiellste Schrift, in der die Gegenstände Politik und Journalismus verknüpft sind, ist ein Vortrag mit dem Titel „Politik als Beruf“, 1919 im Oktober im Druck erschienen, ihr Autor Max Weber. Auf den knapp 60 Druckseiten des Textes (in meiner Ausgabe) fällt der eine oder andere Name: Trotzkij, Macchiavelli, Li Hung Tshang, Kleon, Perikles, Chamberlain, Gladstone, Andrew Jackson, Bebel, Georg Simmel, Fichte, selbst Dostojewskij. Ein Name fällt nicht, und dennoch würde ich wetten, dass er irgendwo ganz tief in Max Weber - vielleicht sogar gar nicht so tief - eine Rolle spielte für ihn: Gustav Freytag. Dessen Lustspiel „Die Journalisten“, Uraufführung am 8. Dezember 1852 in Breslau, verknüpfte Politik ebenfalls mit dem Beruf des Journalisten. Und wurde für genau dies als mindestens stofflich innovativ gelobt. Und eines kam hinzu, das den Soziologen Weber allerdings nicht zwingend interessiert haben muss. In den Worten von Georg Britting: „Nach einem Satz, der sich in jeder Literaturgeschichte findet, haben die Deutschen nur drei gute Lustspiele: ...“. Die beiden anderen waren Lessings „Minna von Barnhelm“ und Kleists „Der zerbrochne Krug“.

Wie viele Literaturgeschichten Georg Britting (17. Februar 1891 – 27. April 1964) kannte, als er 21jährig in seiner Geburtsstadt Regensburg die mutige Behauptung aufstellte, sei dahingestellt. Sicher ist: über einen längeren Zeitraum ist der Vierakter „Die Journalisten“ tatsächlich von ganz unterschiedlichen Autoren, die keineswegs zwingend voneinander abgeschrieben haben, unter die drei bis fünf besten deutschen Lustspiele aller Zeiten gerechnet worden. Hält man jedoch die pure Bühnenlebendigkeit von „Der zerbrochne Krug“ neben „Die Journalisten“, dann muss man mindestens dies konstatieren: die Abstände innerhalb der Spitzengruppe sind gigantisch. Ich habe in wenigen Jahren ein knappes Dutzend Kleist-Inszenierungen gesehen, noch die schwächste zeigte, dass der Text nicht totzuspielen ist, eher umgekehrt: Selbst bescheidenere Ensembles raffen sich zu für ihre Verhältnisse großen Leistungen auf und überlassen keineswegs allein dem Dorfrichter Adam das Feld. „Die Journalisten“ aber sind, soweit ich auch nach intensiverer Suche festhalten muss, seit langem nicht mehr gespielt worden. Obwohl ja, wenn es denn tatsächlich um journalistische Moral gehen soll, um das Verhältnis von Medien und Politik, nach den derzeit üblichen Aktualisierungskriterien unserer Theater allein die „Lügenpresse“-Debatte ja Anlass genug liefern sollte, nach bedienenden Bühnentexten zu suchen.

Stütze ich mich auf die überaus verdienstvollen Ergebnisse einer in Arbeit befindlichen Göttinger Dissertation von Philipp Böttcher, soweit sie vorab bereits veröffentlicht wurden, dann konstatiere ich ein nur auf den ersten Blick überraschendes Phänomen: Journalisten im Sinne und Bild, wie sie im Lustspiel vorkommen, haben an der Rezeptionsgeschichte in gut hundertfünfzig Jahren nicht teilgenommen. Ein Theaterkritiker hat allerdings, als er 1925 eine offenbar missratene Inszenierung in Zwickau besprach, mit spitzem Finger auf die richtige Stelle gezeigt: „Es wäre so schön, an einem vor fünfundsiebzig Jahren entstandenen Werk Kulturfortschritt, Menschheitsentwicklung aufweisen zu können. Aber auch heute werden Zeitungen verkauft, ohne dass die Redakteure davon wissen … Auch heute gibt es „Journalisten“, die froh sind, wenn ihnen einer einen Weg in die kapitalistische Wohlanständigkeit ebnet ...“. Der angeblich so verächtliche jüdische Journalist Schmock klagt im Stück: „Wie kann ich ihm schreiben lauter Brillantes die Zeile für fünf Pfennige?“ Nur vor dem Hintergrund der wahrhaft albernen Annahme, Journalisten seien eine der Berufsgruppen, die von Luft, Liebe und Überzeugung leben, kann man die Not des Mannes von oben herab betrachten. Schmock ist der Durchschnittsfreie der heutigen Zeitungslandschaft.

Wer je mit einem fremdgesteuerten stellvertretenden Chefredakteur zu kämpfen hatte um das Recht, einem verdienstvollen freien Mitarbeiter 22 oder gar 23 Cent pro Zeile zahlen zu dürfen statt der erlaubten höchstens 21 Cent, und nicht jedesmal dafür eine Sondererlaubnis einholen zu müssen, weiß, was mein erster Gedanke war, als ich „Die Journalisten“ zu Ende gelesen hatte: Es hat sich weniger verändert, als man wahrhaben möchte. Wie der oben zitierte Walter Victor (21. April 1895 - 19. August 1971) es sah: Man hätte aus Selbstwertgefühl gern die Sicherheit, es herrlich weit gebracht zu haben und sieht: Es gibt wenig Neues unter der Sonne. Mitten im Stück sagt der Journalist Konrad Bolz etwas, was heute noch, sogar vor wenigen Tagen im öffentlich-rechtlichen Programm in einem NDR-Report, als Musterzitat hätte gesendet werden können: „Ich wünsche Sie zu überzeugen, dass auch ein Journalist bedauern kann, Unwahres geschrieben zu haben.“ 1852 legte Gustav Freytag dies seinem angeblichen Alter Ego in den Mund. Heute, so NDR, haben Journalisten immer noch größte Mühe, mit Kritik umzugehen, auch oder weil sie selbst eine Art von Kritikhoheit für sich beanspruchen. Journalisten sind es, die im Verein mit manchen Verbündeten dafür Sorge tragen, dass immer von „Medienschelte“, nie von Medienkritik die Rede ist.

Schelte ist etwas, was Tante Bertha mit drohendem Zeigefinger verbreitet: man wartet ab, bis sie sich beruhigt hat und alles bleibt, wie es ist. Wenn aber plötzlich ein messbarer Vertrauensverlust auftritt, wenn ganze Bevölkerungsgruppen aus den traditionellen Medien aussteigen, dann sieht alles anders aus, es geht ans Geld der Verleger. In „Die Journalisten“ ist noch in herzerfrischender Naivität davon die Rede, dass der Vollblutjournalist, dem das Blatt entzogen wird, eben ein neues gründet. Nur ein Wahnsinniger würde heute eine neue Tageszeitung gründen, wo doch alle vorhandenen an sinkenden Auflagenzahlen, sinkenden Anzeigenumsätzen laborieren und ihre Verleger beschlossen haben, den aufwandfreien Qualitätsjournalismus zu erfinden. Es gilt die Regel: Je lauter in einem Medienhaus von Qualitätsjournalismus fabuliert wird, desto stärker ist just der durch die Verlagspolitik gefährdet. Man könnte mit einer neuen Inszenierung von Gustav Freytags „Die Journalisten“ vielleicht tatsächlich eine Debatte anstoßen, falls man der in meinen Augen freilich blauäugigen Überzeugung ist, Theater wären Debattenanstößer. Das glauben neben den Machern allenfalls noch die Premierenbesucher und die Intendanten in den jeweils neuen Spielzeitheften. Die Leitartikler des Kulturbetriebs also.

Der große, große, große Egon Friedell (21. Januar 1878 – 16. März 1938) hat in seiner wunderbaren „Kulturgeschichte der Neuzeit“ das Lustspiel „Die Journalisten“ so charakterisiert: „Ein einziges Mal hat Freytag selber gewissenlos gearbeitet, überflüssige Episoden eingeführt, und sich um keine „Momente“ gekümmert, und dieses Stück war sein einziges erfolgreiches. Es sind die „Journalisten“, ein frisches, liebenswürdiges, sogar originelles Lustspiel mit so lebendig geschauten Figuren, dass zwei von ihnen sogar zu Gattungsbegriffen geworden sind: der Bolz und der Schmock. Allerdings ist es von einer Harmlosigkeit, die uns heute unbegreiflich vorkommt (die ganze Korruption des Presse besteht darin, dass „Enten“ erfunden werden) und eigentlich schon dem Zeitalter Balzacs hätte unbegreiflich sein müssen.“ Das gewissenlose Arbeiten meint, Freytag habe gegen die Maßgaben seiner eigenen „Technik des Dramas“ verstoßen, die wiederum Friedell in seiner bekannt herrlichen Boshaftigkeit eine Anleitung zum Verfassen schlechter Dramen nannte. Die behauptete Harmlosigkeit mag das Lustspiel kennzeichnen, mir schien es vor allem unerwartet langweilig zu sein. Für ein Lustspiel ist das eigentlich tödlich. Frisch bis vergnüglich lediglich die Figur der Adelheid Runeck, gekoppelt mit seltsamen Rückfällen in die normierte Frauenrolle.

Georg Hensel (13. Juli 1923 – 17. Mai 1996), einer der namhaftesten Theaterkritiker der alten Bundesrepublik, Autor einiger höchst lesenswerter Bücher, vor allem aber des 1740 Seiten umfassenden Schauspielführers „Spielplan“, hat den Namen Gustav Freytag in seinem Opus Magnum nicht ein einziges Mal. Mit anderen Worten: die dritt- bis fünftbeste Komödie der deutschsprachigen Theaterliteratur, wenn sie es denn ist, hält er für nicht erwähnenswert. Das ist fast schlimmer, als hätte er sie mit aller Verachtung mehr oder minder knapp vorgestellt. Der Reclam-Schauspielführer hat Freytag, für ihn sind „Die Journalisten“ ein Kulturbild, dem Werk komme zeitgeschichtliche Bedeutung zu. Auch das heißt indirekt: Kunstwert gleich Null. Die Rezeptionsgeschichte kann sich in solchen Fällen immer damit behelfen, auch ein Bühnenwerk wie ein historisches Dokument zu betrachten und es ist auch tatsächlich schon früh nach Breslauer Vorbildern gefahndet worden inklusive der beiden Zeitungsredaktionen der „Union“ und des „Coriolan“. Ist es nicht interessant, dass eine fiktive Zeitung nach einem mythischen antiken Helden benannt wird, dessen Eigenschaften mit Stolz, Unverstand und Starrsinn beschrieben werden in den einschlägigen Nachschlagemedien? „Union“ ist die andere Zeitung, keine CDU-Assoziation bitte.

Ist es ein Lustspiel-Plot, wenn zwei Männer, beide von Freunden gedrängt, sich plötzlich als politische Gegner in einer Provinz-Wahl gegenüber stehen, von denen der eine der potentielle Schwiegervater des anderen ist? Wenn der eine Chefredakteur einer Zeitung, der andere ein eher unprofessioneller und ungeschickter Korrespondent des Konkurrenzblattes ist? Wenn eine ihre Selbst- und Eigenständigkeit bewiesen habende junge Gutsherrin kein höheres Ideal kennt, als unter die Haube eines promovierten Redakteurs zu kommen? Die Adelheid hat, wie man so sagt, das Herz am rechten Fleck, sie ist klug und lebensklug, beides fällt bekanntlich nicht automatisch in eins, der erwählte Konrad Bolz, schon in jungen Jahren von ihr verehrt, geliebt, angebetet, je nach Bedarf, ist mit dem nötigen Esprit ausgestattet, in der Konversation die witzigen Sätze stets bei der Hand zu haben. Dann gibt es da den Weinhändler Piepenbrink mit seinen liberalen Grundsätzen, nach denen er seine Frau küsst und küssen lässt. Den intriganten Senden, einen Gutsbesitzer. Ist es zu viel verlangt, in einem Lustspiel hie und da etwas lustig finden zu können? Ich musste nie lachen. Bei den anderen vier Muster-Lustspielen musste ich oft so sehr, dass ich mein Taschentuch brauchte. Allenfalls einige feine Sätze habe ich markiert im Text, das ist (mir) zu wenig.

Einen Satz allerdings würde ich in einer Ecke der Hall of Fame für schöne Sätze verewigen. Adelheid stellt fest, dass Bolz doch ein Herz habe und das auch zeige. Daraufhin Bolz: „Es ist nur ein ganz kleines Taschenherz zum Privatgebrauch“. Das ist eine sehr bestimmte Art journalistischen Understatements, die die gescholtenen Männer und Frauen dann doch wieder ursympathisch macht, wo immer man sie mit solcher Distanz zu sich selbst antrifft. Adelheid ist dieser Satz in den Mund gelegt: „Und all das Unheil hat der böse Geist Journalismus angerichtet. Alle Welt klagt über ihn, und jedermann möchte ihn für sich benutzen.“ Das ist frisch wie eine eben in Piepenbrinks Wein gestürzte Fruchtfliege, die noch zappelt. Und dann ist da jener Satz des Schmock, der vorgeblich die Abgründe des Journalismus selbstenthüllend kenntlich macht: „Ich habe geschrieben links und wieder rechts. Ich kann schreiben nach jeder Richtung.“ Was um alles in der Welt soll daran verächtlich sein? Jeder zweitklassige Romancier erklärt im Interview mit seinem örtlichen Anzeigenblatt (der Qualitätsjournalismus verzichtet zunehmend aufs Feuilleton, weil das, statistisch richtig beobachtet, niemand liest), das er sich in alle Figuren hineinversetzen müsse, um sie richtig darstellen zu können. Jeder gute Ghostwriter, der im gehobenen Segment die Bücher anderer Leute schreibt, muss das können, mindestens, was Schmock konnte.

Noch eins: Antisemitismus des Autors Gustav Freytag habe ich an der Figur des Schmock nicht ablesen können, tut mir leid, da müssen andere Belege aufgeführt werden. Dafür hat aber ausgerechnet Johannes R. Becher im sowjetischen Exil in guter Kenntnis des gewalttätigen Antisemitismus im Deutschland 1938 ausgerechnet Gustav Freytag zum Beleg herangezogen, dass es auch ein anderes Deutschland gab (und gibt, Bechers Wunsch): „So blieb Deutschlands neuere Geschichte vom Schrecken dieses Aberglaubens verschont. In Gustav Freytags „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“, wohl dem verbreitetsten deutschen Geschichtsbuch, lesen wir über die Judenverfolgungen des Mittelalters: „Durch die Jahrhunderte waren diese Hetzen eine Schmach für unsere Nation“. Die „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“ sieht wohl nicht ganz zufällig auch der Jude Egon Friedell so: „... seine schönste und reifste Arbeit sind denn auch seine kulturgeschichtlichen „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, in ihrer Art ein klassisches Werk. Als historischer Dichter war er nur zu oft ein Seminarist, als dichtender Historiker ist er einer der feinsten Pastellmaler.“ Heutige Sprachpolizei würde sich eher über jene Stelle erregen, wo der Muster-Journalist Bolz darüber spaßt, mit einem Kapital von hundert Millionen „alle Neger mit weißer Ölfarbe anzustreichen“. Darfst du das, Lustspiel des Jahres 1852?

Wäre noch auf Max Weber zurückzukommen. Der finale Satz des Vortrags lautet: „Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber „dennoch!“ zu sagen vermag, nur der hat den „Beruf“ zur Politik.“ Man darf sich „Die Journalisten“ daraufhin ansehen. Es fällt auf, das beide Wahlkandidaten kein Programm haben. Das ist schon sehr früh erkannt und später positiv umgedeutet worden. Kandidaten, die nur als wacker oder brav oder dem Gemeinwohl verpflichtet erscheinen, haben spätestens heute wenig Chancen. Warmes Herz und sicheres Urteil reichen nie. Aber man sollte nicht darüber hinweglesen, was Kandidat Oldendorf schon in der zweiten Szene des ersten Aktes sagt: „In Glaubenssachen wird jeder gebildete Mensch die Überzeugung des andern tolerieren, und in der Politik behandeln wir einander wie Bösewichter, weil der eine um einige Schattierungen anders gefärbt ist als sein Nachbar.“ Und just dies ist eben das Problem: Wenn es tatsächlich nur um Schattierungen geht, dann wissen Wähler eben nicht, wen und was sie wählen sollen. Auch das ist plötzlich verblüffend aktuell. Max Weber wusste: „Die herrschend gewordene Gefolgschaft eines Glaubenskämpfers pflegt daher besonders leicht in eine ganz gewöhnliche Pfründnerschicht zu entarten.“ Sogar „entarten“ durfte man 1919 noch sagen.

Max Weber beantwortet eine Frage zu Gustav Freytags „Die Journalisten“, die ihm niemand gestellt hat: „Nicht das ist erstaunlich, dass es viele menschlich entgleiste oder entwertete Journalisten gibt, sondern dass trotz allem gerade diese Schicht eine so große Zahl wertvoller und ganz echter Menschen in sich schließt, wie Außenstehende es nicht leicht vermuten.“ Freytag wollte vielleicht weniger einen Schmock bloßstellen, als einen Oldenburg oder einen Bolz ins Licht rücken. Noch 1919 fand Weber die seltsamsten Vorstellungen über Journalisten landläufig. Fast siebzig Jahre vorher dürfte das folgerichtig kaum günstiger gewesen sein. „Die Journalisten“ haben, scheint es, tatsächlich ein stofflich-sachliches Verdienst. „Alle Parteikämpfe sind nicht nur Kämpfe um sachliche Ziele, sondern vor allem auch: um Ämterpatronage.“ Sprach Weber. Unterscheidet sich die Überlegung der Coriolan-Partei, mit einem Fest Wähler zu ködern, tatsächlich sehr von der Überlegung, es mit Luftballons und Gratiskugelschreibern zu versuchen? Am zweihundertsten Geburtstag von Gustav Freytag sind von ihm angeregte Fragen bereits neue Rezeptionsgeschichten. „Heute Feind, morgen Freund, heißt es in der Politik“, sagt Adelheid im ersten Akt. Sie muss an früher unvorstellbare Wahlbündnisse und Koalitionen gedacht haben, wenn Wähler nicht nur Schwiegervater und Schwiegersohn zur Auswahl haben, könnte man glauben.


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