Henryk Sienkiewicz: Der Leuchtturmwärter

Als 1924 die sterblichen Überreste des am 15. November 1916 im schweizerischen Vevey verstorbenen ersten polnischen Literatur-Nobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz nach Warschau überführt wurden, um in der dortigen Kathedrale ihre letzte Ruhe zu finden, stand schon der nächste Nobelpreis für Literatur für Polen an: er ging an Władysław St. Reymont. Ehe Czesław Milosz zum Dritten im Bunde wurde (1980), vergingen viele Jahre und als 1996 mit Wisława Szymborska auch eine Frau in den erlauchten Kreis aufgenommen wurde, gab es erhebliches Murren unter den so genannten Experten: Wieso eine so Unbekannte, noch dazu eine Lyrikerin, deren wahre Qualitäten außerhalb Polens ohnehin niemand zu würdigen in der Lage ist, weil Lyrik eben letztlich unübersetzbar bleibt, was in Deutschland insbesondere immer wieder der aus Polen kommende Marcel Reich-Ranicki bei jeder passenden Gelegenheit hervorhob. Inzwischen wissen wir, dass die meisten der immer wieder als Fehlleistung der Stockholmer Juroren genannten Größen, die den Preis nie bekamen, niemals von irgend jemandem vorgeschlagen worden waren. Wir sehen aus der reinen Liste, wie lange der Preis europazentrisch vergeben wurde, in den frühen Jahren gar betont skandinavisch und die unbekannten Dänen oder Finnen stehen neben vielen anderen Unbekannten.

Henryk Sienkiewicz aber, der am 5. Mai 1846 geborene Pole, hatte mit „Quo vadis?“ einen echten Welterfolg vorgelegt und war damit für lesende Zeitgenossen weit eher ein verdienter Preisträger als für die vom Katheder richtende Nachwelt. Die Charakteristiken des Polen haben durch die Bank einen dezent süffisanten Unterton: der Mann habe sich, zu sehr, überhaupt, jedenfalls merkbar, dem Publikumsgeschmack angepasst, während, das sagen die Kritiker dann freilich nicht so deutlich, der wahre Preisträger von niemandem gelesen und von keinem verstanden wird. Noch heute kann eine einfache Suche nach Ausgaben von „Quo vadis?“ in Antiquariatsnetzwerken zu der überraschenden Einsicht führen, das man mit den angebotenen Exemplaren mühelos eine mittlere Baugrube füllen könnte, während alle anderen seiner gar nicht wenigen Bücher, selbst „Die Kreuzritter“, wesentlich seltener zum Verkauf stehen. In Polen war Sienkiewicz über sein Werk hinaus eine Institution, man liest, dass sich noch im Zweiten Weltkrieg Untergrundkämpfer Decknamen gaben, die seinen Büchern entnommen waren. Nannte sich irgendein deutscher Widerstandskämpfer „Tonio Kröger“ oder „Gustav Aschenbach“ oder „Hans Castorp“? Und dann war da noch etwas: Sienkiewicz war eine Zielscheibe „linker“ Kritik, die ihn als Konservativen sah, wie er sich übrigens auch selbst.

So kommt es beispielsweise, dass ein sonst keineswegs verächtliches Nachschlagewerk wie das ZEIT-Lexikon Literatur von der hier in Rede stehenden Erzählung „Der Leuchtturmwärter“ lediglich vermerkt, in ihr werde „das Nationalbewusstsein eines polnischen Emigranten gepriesen“. Das klingt in Zeiten, da der Integrationswille von Emigranten als deren potentiell höchste Tugend gepriesen wird von den üblichen Ahnungslosen, noch zusätzlich seltsam. Und außerdem macht es natürlich alles andere als neugierig auf die Geschichte selbst. Während seines rund zweijährigen USA-Aufenthaltes traf Sienkiewicz tatsächlich auf ganze Emigranten-Kolonien aus seiner alten Heimat und sah und erlebte, wie die zusammen hielten, sich abschotteten und, quasi im Gegenzug, auch geschnitten wurde. Integration mit Assimilationstendenzen war nie prägender Zug von Gruppen-Emigration, gar Massen-Emigration. Was ist eigentlich in einer Geschichte, die einen bestimmten sehr besonderen Fall schildert, also durchaus novellistisch, das Preisende? Wann preist ein Autor eine Figur? In „Der Leuchtturmwärter“ erzählt Henryk Sienkiewicz von einem alten Mann, einem Polen, wen wundert nun das, der nach langer Wanderschaft zu Lande und zu Wasser seine Ruhe finden will in Panama und deshalb in Aspinwall (heute Colon) diesen Job annimmt.

In der DDR ist „Der Leuchtturmwärter“ gleich zweimal in einander erstaunlich ähnlichen Sammlungen von Erzählungen erschienen, die ein vor allem jugendliches Publikum mit Abenteuerlichem ansprechen wollten: „Schiff vor dem Wind“ präsentierte 1969 See-Erzählungen des 19. und 20. Jahrhunderts, 1985 folgte „Der Walfänger und andere Geschichten von den sieben Meeren“, jeweils im Verlag Neues Leben Berlin, der zweite Band immerhin von Benno Pludra eingeleitet. In der Manesse Bibliothek der Weltliteratur aus Zürich steht „Der Leuchtturmwärter“ mitten in einer Auswahl von „Meistererzählungen“ (1986), in Polen selbst ist die Geschichte Schulstoff, Lesebuch-Leküre (zumindest gewesen). Und in ihre stehen solche Sätze wie: „Das Leben im Turm ist überaus schwer und keineswegs verlockend für die freies Herumstreichen liebenden Südländer.“ Und: „Überhaupt sondert sich das Alter gern ab, wie in Vorahnung des Grabes. Der Turm war für Skawinski so ein halbes Grab. Es gibt nichts Eintönigeres als das Leben im Turm.“ Und: „Dem Türmer fehlen allerlei kleine Eindrücke, die im gewöhnlichen Leben alles auf sich zu beziehen lehren. Alles, womit der Leuchtturmwärter in Berührung kommt, ist riesenhaft und hat keine begrenzten und bestimmten Formen.“ Man darf an Peter Weiss' „Der Turm“ denken.

Skawinski also ist der alte Mann, der auch mit dem biblischen Ahasver in Verbindung gebracht wurde, den das Leben beutelte, der vom Pech verfolgt wurde, gar nicht so sehr von bösen Menschen, der dem Verantwortlichen wie gerufen kommt, als kurzfristig ein neuer Leuchtturmwärter gebraucht wird, weil den alten vermutlich eine Sturmflut ins Meer riss. Die Einstellung ist mit der Drohung verbunden, dass der geringste Verstoß gegen die Arbeitsordnung, gegen die Pflicht, die sofortige Entlassung nach sich zieht. Doch der alte Skawinski ist ein pflichtbewusster Leuchtturmwärter, der sein einsames Leben sogar genießt, mit wenigem zufrieden ist, wenig braucht. Deshalb spendet er einmal auch einen erheblichen Teil seines Lohnes an einen polnischen Verein in New York, von dessen Existenz er erfreut hörte. In seiner Insel-Einsamkeit, die nur von der täglichen Ankunft und Abreise des Bootes unterbrochen wird, das ihm Nahrung und eine Zeitung bringt, sind ihm Nachrichten keineswegs gleichgültig. In der amerikanischen oder spanischen Zeitung suchte er „eifrig nach Nachrichten aus Europa.“ Wohlgemerkt: Europa, nicht Polen, was auch dann bemerkenswert bleibt, wenn man berücksichtigt, dass nach der dritten Teilung Polens 1795 ein Staatswesen dieses Namens nicht mehr existierte auf den Karten Europas.

„Ich kenne die Polen und weiß, dass sie zu allem bereit sind, allein um sich den Fremden als politische Nation zu präsentieren. Wir setzen unseren ganzen Eifer daran, von den anderen gelobt zu werden.“ Diesen Satz von Sienkiewicz zitiert die verdienstvolle, wenn auch etwas wählerische, vom Herausgeber Karl Dedecius als Brevier gedachte Sammlung „Die Dichter Polens“, der ich später auch noch einen anderen Satz entnehmen werde . Eines Tages aber hat das Boot für ihn ein Paket aus New York, ein Buch-Paket, gedacht als Dank für die Spende. Der alte Mann reißt das Paket auf. Seine Überraschung ist riesig: „Polnische Bücher in Aspinwall, auf seinem Turm, in seiner Einsamkeit, das war für ihn etwas Außergewöhnliches, ein Hauch aus alten Zeiten, ein Wunder.“ Und er nimmt eines und beginnt zu lesen: „Dieser Name war ihm nicht fremd, er wusste, dass er einem großen Dichter gehörte, dessen Werke er sogar nach 1830 in Paris gelesen hatte. Später, während er in Algier und Spanien kämpfte, hörte er von seinen Landsleuten vom wachsenden Ruhm des großen Dichters“. Sienkiewicz nennt den Namen in seiner Erzählung nicht, aber er ist unschwer zu erraten: Es ist Adam Mickiewicz (24. Dezember 1798 – 26. November 1855) und die Verse, die dann zitiert sind, stammen aus „Pan Tadeusz“, als Buch 1834 erstmals in Paris veröffentlicht.

Was nun passiert, beschreibt Veronika Körner, Nachwort-Autorin zu den „Meistererzählungen“, so: „Skawinski ist mit einem neuen Nationalbewusstsein aus seiner Lethargie erwacht. Die Kraft einer Idee hat gesiegt, aber gleichzeitig ist der erneute Aufbruch eine Niederlage.“ Was der alte Mann selbst empfindet, liest sich in der Erzählung so: „Und nun ist diese Sprache selbst zu ihm gekommen, über den Ozean, und hat ihn hier in seiner Einsamkeit auf der anderen Halbkugel aufgesucht, die liebe, treue, schöne!“ Er vergisst sogar zu essen: „Unbewusst gab er sein ganzes Essen den Möwen, die sich mit Geschrei darauf stürzten, und nahm wieder das Buch zur Hand.“ Leider aber vergisst er über der Lektüre auch, das Leuchtfeuer zu entzünden, prompt kommt es zu einem Schiffsunglück vor der Küste, prompt verliert er seine Arbeit, an die er so viel Hoffnung gesetzt hatte: „Endlich war auch für ihn eine Zeit der Ruhe gekommen. Das Gefühl der Sicherheit erfüllte seine Seele mit unaussprechlicher Freude.“ Diese Sicherheit weicht nun wieder der Unsicherheit, die sein bisheriges, eigentlich sein ganzes Leben bestimmt hatte. Skawinski geht ohne Klage, ohne Widerspruch. „Auf seinen neuen Lebensweg aber hatte er das Buch mitgenommen, das er von Zeit zu Zeit an die Brust drückte, als hätte er Angst, dass es ihm verloren gehen könnte.“

Das war der letzte Satz der Geschichte und wie ein Preislied in Prosa klingt das nicht. Eher wie das Preislied auf die Wirkung von Dichtung, wie ein Wunschbild von der Wirkung von Dichtung. Veronika Körner deutet den Ablauf so: „Als Skawinski den Posten des Leuchtturmwärters annimmt, weicht er vom rechten Weg ab, auf den ihn das romantische Buch zurückführt. Damit erlaubt Sienkiewicz die patriotische Deutung, nach der die polnische Sprache und ihre Wirkung in der romantischen Dichtung eine nahezu mystische Gemeinschaft aller Polen stiftet – sogar wenn sie einsam über dem Wasser hausen.“ Dagegen ist allein schon dies einzuwenden: Es gibt keine Pflicht des Dichters oder Schriftstellers, Deutungen seiner Werke vorzubeugen oder sie gar auszuschließen. Denn jede Deutung ist situativ gebunden, das Werk selbstredend auch, nur Monokausalität zwischen Werk und Deutung, die gibt es nicht und nie. Ein Satz von Adam Mickiewicz, formuliert am 14. März 1849, darf hier zum Ende führen: „Die Lage Europas ist heute so, dass ein Volk unmöglich den Weg des Fortschritts getrennt von den anderen Völkern beschreiten kann, ohne sich selbst und somit die gemeinsame Sache zu gefährden.“ Das sagt immerhin der polnische Nationaldichter, dem „Der Leuchtturmwärter“ auch ein bescheidenes, aber stabiles Denkmal setzt.


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