Wolfgang Hildesheimer: Wo wir uns wohlfühlen

Zugegeben: es sind andere Bücher von ihm denkbar, gewichtigere, vor allem solche, die ihr Entstehen ihm selbst verdanken, um mit ihnen seinen runden Geburtstag zu feiern. Dies Büchlein, wohl im Vorfeld des Neunzigsten konzipiert, ausgewählt und mit Abbildungen herausgegeben von Dietmar Pleyer, erschien 2006 als Insel-Buch Nummer 1284. Es ist eines von den stabilen neuen Insel-Büchern, um die man sich nicht sorgen muss, ob der Rücken wegbricht, wenn man sie aufschlägt. Sie haben freilich auch keine von Hand geklebten Titel mehr vorn und auf dem immer noch schmalen Rücken, dafür kosten sie ein Vielfaches, verglichen mit den Anfängen der Reihe oder mit dem Leipziger Zweig aus DDR-Zeiten. Herausgeber Pleyer aber hat mich mit seiner knappen Vorbemerkung überzeugt, dass meine Wahl ein gute Wahl ist: „Dieses Buch entstand als spontane Reaktion auf ein Radiofeature: aus dem Wunsch, auf Texte aufmerksam zu machen, die ein anderes Hildesheimer-Bild in Erinnerung rufen als den späten, immer wieder unter dem Zeichen des Scheiterns gesehenen Pessimisten.“ Und so hat „Wo wir uns wohlfühlen“ den begrenzenden Untertitel „Mitteilungen aus Italien und Poschiavo“. Poschiavo gehört zur Schweiz, zu Graubünden.

Das Buch hat einen Epilog aus zwei Teilen. Der erste ist ein Auszug aus „Mitteilungen an Max über den Stand der Dinge und anderes“, Essay, von Hildesheimer zum 70. Geburtstag von Max Frisch geschrieben. Nebenei: pure Genusslektüre. Der zweite stammt von Urs Widmer und stand zuerst im Sonderband IX/98 der von Heinz Ludwig Arnold herausgegeben Zeitschrift „Text+Kritik“, und dieser Auszug beginnt so: „Wer weiß, dass Wolfgang Hildesheimer Schweizer war? Er starb als Ehrenbürger von Poschiavo, einer dorfgroßen Talkapitale im italienisch sprechenden Puschlav. Als er begraben wurde, läuteten – für ihn, den Juden! - zum ersten Mal in der Geschichte des Tals die Glocken der katholischen und protestantischen Kirchen gemeinsam.“ Das Original trug den Titel „Fragmentarisches Alphabet zur Schweizer Literatur“ und eröffnete den Sonderband zum Thema „Literatur in der Schweiz“, in dem es übrigens auch einen Rückblick auf zwanzig Jahre Solothurner Literaturtage gibt. Urs Widmer war es auch, der in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen, gedruckt 2007 unter dem Titel „ Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das“ eine überaus hübsche Episode aus Hildesheimers Leben in Poschiavo erzählt, der Anlass alles andere als hübsch.

Ich zitiere komplett: „Mir fällt nochmals Wolfgang Hildesheimer ein, als sein Wohnort Poschiavo von einer Naturkatastrophe heimgesucht wurde und der Dorfbach von einer Minute zur anderen zu einem reißenden Unheilsgewässer wurde, das Baumstämme, Autos und Kühe mit sich schwemmte und, weil just Wolfgang Hildesheimers Haus als Erstes quer zu seiner Fließrichtung stand, mit voller Wucht durchs gesamte Parterre rauschte, durch Tor und Fenster vorne rein und hinten wieder hinaus, talwärts und nun ohne Baumstämme, Autos und Kühe, und Wolfgang Hildesheimer stand im Pyjama – es war weit nach Mitternacht – auf dem Balkon im ersten Stock, schüttelte die Fäuste und rief in das Toben der Natur hinein, ja, da sei er, der Jüngste Tag, recht so, recht so, er habe es immer gesagt. - Er hat es mir so erzählt, immer noch leuchtend in seinem prophetischen Zorn, und wenn er es nicht wirklich so gerufen hat, so hat er es sicher so rufen wollen. Unnötig zu sagen, dass ich ihn dafür liebte und liebe.“ Die Katastrophe lässt sich auf den Tag genau datieren und hat (ohne das Datum) sogar Eingang in den dicken Schweiz-Baedeker gefunden. In „Wo wir uns wohlfühlen“ ist es auf den Seiten 69 und 70 förmlich dokumentiert, es war der 18. Juli 1987.

Von München kommend, hatten Silvia und Wolfgang Hildesheimer 1957 ihre erste Wohnung in Poschiavo im so genannten Devon House in der Via dei Palazzi gefunden, 1961 zogen sie in die Casa Gay, Via dal Cunvent, ein Foto auf Seite 38 illustriert das Quer-zur-Fließrichtung-Stehen. 1966, im Jahr, als Hildesheimer für sein Buch „Tynset“ den Bremer Literaturpreis und auch den Georg-Büchner-Preis erhielt, erwarb das Paar als zweiten Wohnsitz den Bauernhof „Cal Masante di Sopra“ in Trasanni bei Urbino in der italienischen Provinz Marche. 14 Jahre später verkauften sie es wieder, die Entscheidung dazu fiel schon vier Jahre früher: „... wir sind zu alt, um uns noch um die Dinge selbst zu kümmern, etwa Holz zu sägen oder eine Reparatur selbst zu machen.“ Hildesheimer setzte in den Verkauf sogar eine gewisse Hoffnung: „... irgendwie habe ich das Gefühl, die Aufgabe dieses Objekts wird sich später kreativ bemerkbar machen.“ Dierk Rodewald, Herausgeber des Bandes „Über Wolfgang Hildesheimer“ (edition suhrkamp 488, 1971), erfuhr aus einem Brief vom 7. Juli 1973, dass Umberto Eco bei Hildesheimer zu Gast war, man trank „mittelmäßigen Frascati“. 1987 soff bei der Katastrophe in Poschiavo Hildesheimers gesamter Weinkeller ab.

„Wo wir uns wohlfühlen“ vereint Briefauszüge (zum Jubiläum hat jetzt Volker Jehle unter dem Titel „Die sichtbare Wirklichkeit bedeutet mir nichts“ die Briefe an die Eltern herausgegeben, Umfang der Edition im Suhrkamp Verlag: stolze 1584 Seiten!) und Auszüge aus Büchern Hildesheimers, dabei dienen die schon genannten „Mitteilungen an Max“ und „Masante“ auffallend oft als Quelle, so auch den Dokumentwert beider Bücher ausweisend. Am Anfang steht Venedig. Der noch nicht 20 Jahre alte Hildesheimer notiert, welche Tischnachbarn er in der „Casa Petrarca“ hatte, die nur das Hotel gewesen sein kann, denn eine Sehenswürdigkeit dieses Namens gibt es in Venedig nicht. Das Hotel liegt tatsächlich günstig zwischen Rialto und San Marco, wie es beworben wird, leicht zu finden ist es aber ganz sicher nicht, falls man allein vom Bahnhof kommt. So wundert es den Venedig-Kenner wenig, wenn er liest: „Dienstag vormittag gelangte ich also auf vielen Umwegen zum San Marco und schaute mir die Markuskirche und den Dogenpalast hat.“ Das an einem Vormittag! „Einen Mordsschreck bekam ich vor den Tintorettos und ergriff sofort die Flucht, ohne mich noch einmal umzuschauen.“ Was hätte er nach der Scuola Grande di San Rocco getan?

Dem ersten Abschnitt des Buches sind diese Sätze vorangestellt: „ Ich habe da vielleicht etwas übertrieben, wenn ich die Romanischen Völker die einzig zivilisierten Völker nenne. Was ich eigentlich meine, ist, dass mir ihre Nationalcharakteristica am meisten liegen.“ Dazu passt ein Resümee von 1947: „Es war zuerst ziemlich schrecklich, wieder in Deutschland zu sein. In Italien macht es mir nichts aus, auch mal in einem überfüllten Zug mich herumzudrängen, weil ich die Italiener liebe.“ Diese Liebe geht verblüffende Wege: „Ich sage nicht, dass man von Literaturwissenschaftlern nicht lernen kann. Ein italienischer Extraordinarius hat mir beigebracht, wie man die venezianische Bohnensuppe kocht.“ In einem Brief vom 24. Mai 1988 steht über Meran: „Es ist eine ganz schöne Stadt, die Südtiroler sind auch nicht schlimmer als die meisten.“ Und am 28. August 1956 erläuterte Hildesheimer seiner Mutter, warum die Wahl des Wohnortes in Italienisch Bünden, das aus nur drei miteinander nicht verbundenen Tälern besteht (Puschlav, Bergell und Misox), gerade auf Poschiavo fiel: Mangels Attraktionen ist die Gefahr einfallender Sommergäste gering, die Hauptstraße führt nicht zu nennenswerten Zielen. Abseits war gefragt.

„Graubünden ist ganz unschweizerisch, und das Poschiavotal, das eigentlich geographisch zu Italien gehört, noch viel unschweizerischer. Man spricht italienisch ...“. Das Gefühl „in einer intakten Welt zu leben“ empfand der Autor. Dass ein Koch aus dem nahen Tirano, wo der berühmte Bernina-Express endet, in Poschiavo zum Ball des Automobilclubs kocht, galt Hildesheimer Anfang 1958 als fraglos Selbstverständliches und war das wohl auch. Im Dezember 1961 heißt es nach dem Umzug aus dem Devon House: „Unsere neue Wohnung ist ein Traum...“. Und im Juli 1969: „... allmählich bekenne ich mich zur Idylle. Sag's niemand weiter: ich komme nicht mehr immer mit.“ Da liegt es wohl verborgen, das von Herausgeber Pleyer annoncierte andere Hildesheimer-Bild, wenngleich solche Äußerungen immer auch von Selbstironie getragen sind und eben vom Humor der Pessimisten. „Die diesjährige Ernte war befriedigend, Majoran ging gerade, Salbei schlecht. Diesen Herbst haben wir denn auch die doppelte Fuhre Mist auf die Beete treuen lassen.“ (1974) Wolfgang Hildesheimer kochte gern, wenngleich offenbar nicht immer in Drei-Sterne-Qualität. Eine boshafte Spitze seines Freundes Walter Jens jedenfalls nahm er sich durchaus zu Herzen.

Und so wird jede Hausfrau eine Regel Hildesheimers vom April 1975 an die Kühlschranktür kleben können: „Grundsatz: Keinerlei Experimente bei Gästen!“ Als der siebzigste Geburtstag näher rückte, glaubte er: „Wir altern zwar in manchmal wehmütiger Nostalgie, sonst aber gut, bewusst und gefasst, wir beklagen uns nicht, d. h. nicht über uns, dafür aber natürlich über alles andere.“ Ein Jahr nach der Naturkatastrophe infolge eines wilden Dauerregens und eines schweren Erdrutsches vertraute er einem Brief an: „Mich wundert ja immer wieder, dass jede Katastrophe als Überraschung kommt, so als dächten alle, das würde nicht passieren.“ Als hätte er nicht selbst früher geschrieben, dass Dachziegel immer nachts fallen und der Sonntag der Tag der Psychosen sei. Als er im April 1990 schrieb: „Ich würde sagen, das sind die Augenblicke, in denen ich glücklich bin.“, meinte er Augenblicke, in denen er der Zeit völlig entrückte, Momente der Arbeit als bildender Künstler, die seine späte Zeit füllte. Der Epilog hat ein herrliches Motto: „Und dann, eines Nachts, löst man sich zum letzten Mal die Schnürsenkel ...“. 588 Seiten bis zu den Schnürsenkeln umfasst die neue Hildesheimer-Biographie von Stephan Braese, sie heißt „Jenseits der Pässe“ und ist im Wallstein Verlag Göttingen erschienen. Vielleicht hilft's.


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