Carson McCullers: Wunderkind

Wenn ein Kritiker und ein Leser, die zu einem Buch oder einem seiner Teile unterschiedliche Meinungen haben, aufeinander stoßen, glaubt der Leser nicht selten, seinen stärksten Treffer mit der Frage zu landen, woher der Kritiker denn seine Maßstäbe nehme. Der Leser vermutet bei seinem angenommenen Kontrahenten sowohl einen beglaubigten Waffenschein als auch einen hoffentlich sicher verschließbaren Waffenschrank, aus dem der Inhaber bei Bedarf dieses oder jenes Kaliber entnimmt, um auf die Pirsch zu gehen oder von seinem Hochstand, dieses gleich im übertragenen Sinne mitgemeint, auf äsende Autoren und Autorinnen zu zielen, die nichts ahnend ihrer dezidiert vegetarischen Lebensweise nachgehen, sie mit einem perfekten Blattschuss zu erlegen und in ein fleischliches Wildbret zu verwandeln. Leider irrt der Leser. Denn der Kritiker hat auch dann seine Maßstäbe, wenn es ihm an der Fähigkeit gebricht, diese in drei bis sechs Power-Point-Merksätze zu gießen. Bisweilen, dies aus dem Nähkästchen geplaudert, will der schlimme Mann sie einfach nur nicht benennen, ohne dass dabei sein oberstes Motiv die Verärgerung des Lesers wäre.

Ich zitiere aus „Wunderkind“ jene Stelle, die mich veranlasst, die Autorin, 19 Jahre alt, als sie „Wunderkind“ schrieb, meinerseits für ein Wunderkind zu halten: „Seine Frau stand da und rührte in der dicken Suppe, bis seine Hand sich vortastete und auf ihrer Schulter liegenblieb. Da drehte sie sich um, noch immer gelassen dastehend, indes er seine Arme um sie schlang und sein scharfes Profil im weißen, kraftlosen Fleisch ihres Halses vergrub. So standen sie da, ohne sich zu rühren. Und dann zuckte sein Gesicht plötzlich zurück. Der Zorn war einer stillen Ausdruckslosigkeit gewichen, und er war wieder ins Studio gegangen.“ Vorausgegangen ist, dass Mr. Bilderbach, ein Klavierlehrer, sich über einen Schüler geärgert hat. Voraus geht, dass Mr. Bilderbach mit einer Frau verheiratet ist, von der Carson McCullers schreibt: „Sie war ganz anders als ihr Mann. Sie war ruhig und dick und langsam.“ Man muss darauf erst kommen, eine kinderlose Ehefrau eines kinderlosen Ehemannes so zu beschreiben. Carson McCullers verliert kein wertendes Wort darüber, was diese Eheleute verbindet, wie diese Ehe funktioniert, die wohl sehr traditionell ist, was ihr hilft.

Ich behaupte, dass es möglich ist und begründbar, mit einer solchen wenige Zeilen umfassenden Passage zu zeigen, dass ihre Urheberin, die zweifelsfrei von sich selbst schreibt, etwas hat und kann, was nicht wenige, die schreiben und drucken lassen, dass sich die Rotationsmaschinen biegen, nicht haben und nie haben werden. Am Anfang steht das Sehen. Zwanzig Seiten „Wunderkind“ führen vor, wie ein fünfzehn Jahres altes Mädchen mitten in der Pubertät an sich selbst an winzigen Hinweisen, Zeichen, Spuren, Signalen bemerkt, dass es das Wunderkind, als das es der Klavierlehrer zwei Jahre vorher bezeichnete, nicht zu sein vermag. Und zwar nicht nur nicht vermag, sondern auch, wiederum vollkommen unauffällig, unaufdringlich, unprätentiös, nicht sein will. In ihr hat sich Widerstand aufgebaut, den sie gar nicht als solchen erkennt, den Außenstehende als solchen ebenfalls kaum erkennen werden, allenfalls wird Enttäuschung um sich greifen bei denen, die schließlich doch mehr und größere Erwartungen hatten, als sie es unter peinlicher Befragung zugeben würden, mündete alles in ein tragisches Geschehen. Was es nicht tut. Ein Glück.

Carson McCullers lässt „Wunderkind“ so ausgehen: „Die Tür fiel fest ins Schloss. Sie schleppte ihre Bücher und die Notentasche und stolperte die Steintreppe hinunter, wandte sich der verkehrten Richtung zu und hastete die Straßen entlang, die wie ein Wirrwarr an Lärm und Fahrrädern und Spielen andrer Kinder auf sie einstürmte.“ Das Mädchen wendet sich der verkehrten Richtung zu. Das steht da so. Nicht zwei Eimer Tiefenpsychologie, Verhaltenssoziologie, Genderkacke oder was auch immer sind ausgeschüttet, ein Finale dem Leser deutbar zu machen. Das Mädchen Frances, das natürlich talentiert genug ist zu wissen, dass sein Vorspiel weit entfernt war von dem, was sie gern gespielt hätte und wie vor allem, ist innerlich so aus dem Gleichgewicht, dass die schlichte Orientierung verloren gegangen ist für den Augenblick: sie wendet sich der verkehrten Richtung zu. Da ist auch Welt, da ist Lärm, sind andere Kinder, sind Fahrräder, da ist das normale, das alltägliche Leben. McCullers selbst war gerade mal fünf Jahre alt, als ihre Eltern, Vater Uhrmacher und Juwelier, 1922 ihr musikalisches Talent entdeckten und ihr umgehend ein Klavier schenkten.

Unter der Überschrift „Bücher verändern die Welt“ druckte die NEUE RHEINZEITUNG am 19. November 1960 einen Versuch von Heinrich Böll, darin heißt es: „... wer das eine Buch durch Erfolg geadelt glaubt, dem anderen den Misserfolg wie einen Orden umhängen kann, unterliegt dem gleichen Irrtum: dass Erfolg etwas besage. Ist Benn nicht mehr Benn, wenn seine Bücher gekauft werden, und bleibt die Miss Cullers nicht eine große Autorin, auch wenn ihre Bücher kaum gekauft werden? Ich könnte mir vorstellen, dass jener soeben geborene Leser, fünfzehn geworden, sich eins ihrer Bücher aus dem Ramschkasten fischt und vom Fieber ergriffen wird.“ „Einsames Herz“ stand am 22. November 1952 in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN über Bölls Bemerkungen zu „Das Herz ist ein einsamer Jäger“, dem bis heute berühmtesten und beliebtesten Roman von Carson McCullers. „Wenn die 30- bis 40jährigen, die heute in Deutschland zu schreiben beginnen, das Buch dieses zweiundzwanzigjährigen Mädchens zu lesen bekommen … so müssen sie, wenn nicht gerade schamrot, so doch ein wenig verlegen werden.“ Da sage noch einer etwas gegen Böll.

Carson McCullers hat die Musik nicht von heute auf morgen aufgegeben, ihre hohe Sensibilität für Musik ohnehin nie. Aber sie hat das Schreiben zu ihrem Beruf gemacht und in einem hübschen kleinen Text mit dem Titel „Wie ich zu schreiben begann“ auch als nunmehr Dreißigjährige davon ein wenig geplaudert. Es geht um das alte Georgia-Haus mit seinen zwei Wohnzimmern und der Schiebetür dazwischen, um drei Kinder, die Theater spielen. „Als ältestes Kind unsrer Familie war ich der Verwalter und Kuchenwärter und der Boss über all unsre Vorstellungen. … Das Ensemble war ewig das gleiche: mein jüngerer Bruder, meine kleine Schwester und ich.“ Bisweilen sah sich der Boss genötigt, seine Mimen zu bedrohen, wenn sie anderes taten als sie sollten, die Drohung lautete durchaus südstaatlich: „Am liebsten würde ich euch totschießen!“ Was natürlich immer unterbleibt, aber ein sprechender Fluch ist. Die Entdeckung von Eugene O'Neill im Bücherschrank beendet die Spielerei, Carson McCullers versucht sich an einem Dreiakter. Schon im zweiten dramatischen Versuch ließ sie Jesus und Friedrich Nietzsche gemeinsam auftreten. So fing es an.

Ihr „Wunderkind“ beobachtet den Geigenlehrer Lafkowitz: „Er selbst war ein so kleines Männchen mit einem müden Blick, falls er nicht die Geige hielt.“ Wie der Blick ist, wenn er die Geige hält, beschreibt die Autorin nicht. Und genau das ist es. Siegfried Lenz hat es 1966 so gesehen: „Carson McCullers ist eine Autorin, die mit anscheinend müheloser Sicherheit die Hauptsache in der Nebensache findet und ausdrückt. … sie macht Begebenheiten erfahrbar und erfassbar, die sich tief unter der Oberfläche ereignen.“ Erfahrbar und erfassbar machen heißt: den Lesern etwas lassen zum Selbertun: erfahren und erfassen. Man kann das möglicherweise als „Technik“ in irgendwelchen Seminaren sogar bis zu einem bestimmten Grade lernen, doch nicht umsonst jammert seit langem das feinere Feuilleton über Gleichförmigkeit bei den Absolventen von „Creative Writing“. In der DDR hat man McCullers der „stillen Generation“ zugeordnet, die der so genannten „Red Decade“ folgte, dummerweise ist sie zehn Jahre zu alt gewesen, um dieser ohnehin nur lax definierten Generation zugehören zu können. Außerdem fehlte natürlich der passende Klassenstandpunkt.

In der Geschichte gibt es noch Heime Israelsky, auch ein Wunderkind. „Heime roch ewig nach Samtmanchesterhosen und Kolophonium und nach dem, was er gerade gegessen hatte. … Als sie zusammen auf der Bühne standen, hatte er ihr nur bis an die Schulter gereicht. Und davon ließen sich die Leute beeindrucken, wie sie wusste.“ Ich gebe zu, dass allein das Wort Manchesterhose mich ordentlich verführt, dieweil ich in jüngsten Jahren nicht nur eine Manchesterhose trug und eine Jacke dazu, als mir beispielsweise mein erstes Pioniertuch anno 1959 umgebunden wurde, ich trug solche Hosen in den Farben hellbraun bis oliv noch, als man sie anständigerweise längst Kordhosen nannte und sie sich mit Schlag bei einem Schneider anfertigen ließ, der zu den Zeugen Jehova gehörte, aber sensationell passgenau nähen konnte. Womit wir erneut bei den Maßstäben wären, die halt auch einen subjektiven Faktor aufweisen wie die gesamte gesellschaftliche Entwicklung, selbst wenn sie von einer Partei geleitet wird, die immer Recht hat. Carson McCullers sah selbst am Erfolg der Wunderkinder traumwandlerisch die Hauptsache in der Nebensache.

Gore Vidal (3. Oktober 1925 – 31. Juli 2012), nie hinreichend gewürdigter amerikanischer Autor, der auch Schauspieler und Politiker war, veröffentlichte am 28. September 1961 in „The Reporter“ eine ziemlich deutliche Kritik am Roman „Uhr ohne Zeiger“ mit einer sehr bezeichnenden Schluss-Wendung: „Doch selbst diese annähernde Fehlleistung ist wunderbar zu lesen und ihre geniale Prosa bleibt eine der wenigen Errungenschaften unserer zweitklassigen Kultur.“ Von Vidal wird der schöne Satz überliefert: „Teaching has killed more good writers than alcohol.“ Dem wird man wohl zustimmen dürfen, falls man nicht selbst Wunderkinder um sich schart, zweifelhafte Lehren zu vermitteln. Vidal schrieb auch dies: „Ich glaube, dass sie von allen Südstaaten-Schriftstellern wahrscheinlich diejenige ist, die sich halten wird, auch wenn ihre Einsicht keineswegs so groß und umfassend wie die, sagen wir, Faulkners ist, dem sie charaktervollerweise gar nicht ähnelt.“ Am heutigen Sonntag ist ihr hundertster Geburtstag zu begehen. Der letzte, den sie selbst noch erlebte, war ihr fünfzigster, sie starb am 29. September 1967 in Nyack/New York: Schlaganfallfolgen.


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