Margarete Neumann: Der Wunderbaum

Da wäre beispielsweise Gisela Steineckert. Für NEUES DEUTSCHLAND besprach sie das „Orenburger Tagebuch“ von Margarete Neumann. Unter der Überschrift „Weit mehr als private Reisenotizen“ erschien das am 20. Januar 1978 und als ich diese Kritik 25 Jahre später in einem Sammelband las, notierte ich mir in nachahmlicher Weise darunter: „Das Buch würde ich nach solcher Besprechung niemals lesen.“ An diesen schlechten Vorsatz habe ich mich tatsächlich sehr lange gehalten. Inzwischen las ich das Tagebuch, in dem Orenburg keinerlei Rolle spielt und, wenn mich recht erinnere, namentlich nicht einmal vorkommt und ich müsste lügen, dass ich seither Fan von Margarete Neumann wurde. Ein Steineckert-Satz freilich passt mehr als andere in mein Bild, das seine Einseitigkeit kaum leugnen will: „Was einesteils Wichtigkeit und einen Teil des Reizes ausmacht, diese unredigierte Ehrlichkeit, tut dem Buch andererseits in gewisser Weise Abbruch.“ Ich habe mir diesen Satz auf der Zunge zergehen lassen wie vielleicht 1978 auf einem echten DDR-Steak ein echtes Spitzchen DDR-Kräuterbutter. Was wäre redigierte Ehrlichkeit, verehrte Dame?

Oder hat gar diese gute Ober-Unterhaltungskünstlerin im Range einer Komitee-Vorsitzenden voller Hinterlist einen Begriff indirekt lanciert, der weite Teile der DDR-Literatur verblüffend präzise abbilden könnte? Wie auch immer: Heute ist das „Orenburger Tagebuch“ etwas wie ein Dokument, von dem ich alles eher erwarte als literarische Hochwertigkeit. Dem damaligen Aufbau-Verlag muss man immer noch nachträglich vorwerfen, dass er fahrlässig erlaubte, das Büchlein ohne vernünftige begleitende Sachinformationen drucken zu lassen. Die dafür im Minimalfall sicher hinreichenden Klappentext-Zeilen durfte ebenfalls die Autorin Neumann füllen mit unangenehmer Prätention wie beispielsweise auch, und fast noch schlimmer, für das Erzählbändchen „Am Abend vor der Heimreise“. Der Verlag kann nur gehofft haben, dass niemand dies vor dem Buch selbst liest, beide Klappentexte sind als Marketing-Instrumente erschütternd kontraproduktiv. Doch soll es heute an dieser Stelle um ein anderes Büchlein gehen, mit dem ich ein eigentümliches Leseerlebnis verbinde, ein sehr frühes und aus heutiger Sicht noch viel mehr bezeichnendes: „Der Wunderbaum“.

Es war in der Reihe „Die kleinen Trompeterbücher“ des Berliner Kinderbuchverlages Nummer 7, hinten kündigte der Verlag als nächste Bändchen „Su-su von der Himmelsbrücke“ von Harry Thürk und „Die Partisanen und der Schäfer Piel“ von Alfred Wellm an, beide las ich damals natürlich auch. Das eigentümliche Leseerlebnis aber war ein einzelnes Wort, der Name für einen Vogel, von dem ich bis dato nie etwas gehört hatte, und bis heute, wenn ich es in unredigierter Ehrlichkeit sehe, selten bis immer noch nie etwas höre: Rohrdommel. Meine exakt fünf kleinen gelben Vogel-Bestimmbücher (Neuer Kaiser Verlag), die ich mir am Bodensee erwarb, enthalten keine einzige Rohrdommel. Sie ist, wie ich nun weiß, den Reihern zugehörig, genau drei Minuten und neun Sekunden lang kann ich, wann immer ich es mag, im Internet ihre Stimme hören und dabei die Bilder ihrer Verwandten anschauen, von denen ich Graureiher und Silberreiher bisweilen im Bild festhielt, die Zwergdommel mir aber wie eben Zwerge auch sonst, größere Sympathie einflößt, nicht zu reden von der Amerikanischen Rohrdommel, die vollkommen anders klingt, blubbig.

Das Trompeterbuch „Der Wunderbaum“ ist von Eva Johanna Rubin (24. April 1925 – 26. November 2001) illustriert und ich armer Laie finde diese Illustrationen allerliebst, zumal die Beigabe einer einzigen Druckfarbe (hellgrün) einfach ideal passt und alles zusätzlich besonders macht. Die Rohrdommel steht übrigens auf Seite 51, sie reckt die langen Schnabel kerzengerade nach oben und hat in voller künstlerischer Freiheit vielleicht ein wenig zu kurze Beine. Im Buch aber ist sie wichtig, denn das Buch handelt von einer Katastrophe, die diese Rohrdommel auf besonders heftige Weise betrifft. Sie hat Eier im Nest, auf denen sie brüten muss, damit ihnen nach der nötigen Brutzeit die kleinen Rohrdommeln entschlüpfen können. Der Baum aber, der sich am Ende in einen Wunderbaum verwandelt, ist so unglücklich umgestürzt in Sturm und Gewitter, dass die Mutter nicht zum Nest gelangen kann, so sehr sie auch nach einer Möglichkeit dafür sucht. Margarete Neumann lässt ihre kleinen Leser alles aus den Augen diverser Tiere erleben und sehen. Wie sie das tut, ist wunderbar, weniger wäre bei einem Wunderbaum allerdings nicht gegangen.

Zu den Ängsten der Rohrdommel gehört auch die vor dem Storch. Einen sieht man auf Seite 63 auf einer Wiese stolzieren, er ist ein recht dicker Storch wie aus dem Bilderbuch, weshalb er natürlich auch bestens an diese Stelle passt. „Störche essen Eier sehr gern, das wusste sie.“ Dennoch, und das ist für sehr kleine Leser wohl gar nicht anders denkbar, hat Neumann die Störche noch in ihrem Appetit auf „Fröschchen oder Schnecklein“ keineswegs unsympathisch gezeichnet. Wie überhaupt selbst jene Tiere, die traditionell weniger oder gar keine Liebe auf sich ziehen, die Köcherfliegen etwa, oder die Ameisen, die in aller Panik Säure verspritzen oder gar die Spinne, deren Netz zerrissen wird, allesamt mit Anteilnahme gezeichnet sind. Mit diesem einen Baum, sagt man heute in aller Schnelle, ist ein ganzes Biotop verbunden, alles hängt mit allem zusammen. Was für eine unfassbare Katastrophe aber der Sturz nur dieses einen Baumes für wie viele lebendige Wesen! Da ist der Krebs, der die sichere Deckung verliert, die er nötig braucht, weil er, bis er den neuen harten Panzer hat, sich sehr fürchtet. Da ist die Köcherfliege plötzlich ohne Wasser, sie muss sterben.

Zwei Drittel des Buches sind vorbei und auf Seite 62 kommen erstmals Menschen ins Bild und menschliches Zubehör wie ein Traktor. Den Männern ist der umgestürzte Baum vorerst nicht mehr als ein Hindernis bei ihrer Arbeit, er liegt beim Mähen einfach im Wege. Sie werden zu Mittag von Kindern versorgt: „In dem Korb waren ein Töpfchen Zusammengekochtes, Hühnerfleisch mit Reis, eine Kanne mit Bier und ein großes Stück herrlich duftenden, frischen Kirschkuchens.“ Bier während der Arbeit, noch dazu für Traktoristen, das waren andere Zeiten! Im Lektorat des Verlags saßen offenbar noch keine Pedanten mit pädagogischen Goldwaagen. Immerhin, der Baum tut Männern und Kindern leid. Dennoch folgen die Kinder mit heute ebenfalls verblüffender Selbstverständlichkeit der Anweisung der Männer, Werkzeuge zu holen und dann den Baum zu zersägen, er soll wenigstens noch Winterholz für den Kindergarten liefern. Damals hatten die Kindergärten noch Ofenheizungen, sehen wir. Für die letzten dreißig Seiten sind Männer und Kinder zwar präsent, aber die Tiere rücken rasch wieder in ihren angestammten Mittelpunkt.

Margarete Neumann lässt ein echtes Wunder geschehen und zeigt zugleich, dass solche Wunder nicht aus dem Nichts kommen, vom Himmel fallen sie schon gar nicht. Die Rohrdommel etwa ruft in allerhöchster Not ihren durchaus gewöhnungsbedürftigen Ruf. „Was da geschah, war wirklich unerhört und höchst sonderbar. Kaum, dass der Dommelschrei verklungen war, erhob sich der gestürzte Baum von der Erde, schüttelte seine Blätter und stand wie ehedem da, nur dass er recht eigenartig gestutzt aussah.“ Doch auch die anderen Opfer haben gute Gründe, sich als die Ursache des Wunders zu sehen, die Wasserjungfer etwa: „Und vielleicht war es gerade ihr feines Gewicht, das noch gefehlt hatte, damit der Baum sich aufrichten konnte.“ Krebs, Köcherfliege, Ameisen und auch die Spinne empfinden ähnliches und den Kindern scheint es ohnehin, als habe dem Baum jemand geholfen. „Früher, ehe sich diese Geschichte zutrug, war er ein großer Baum, stärker, höher als seine Nachbarn. Jetzt ist er gedrungen, breit, beinahe wie ein Busch, und erst mit den Jahren werden ihm wieder kräftige Äste wachsen und ein schlanker, kühner Wipfel.“ So begann „Der Wunderbaum“, ich würde am 100. Geburtstag der Autorin heute gern glauben: ihr schönstes Buch.


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