Ottilie Wildermuth 200

Von Robert Minder (23. August 1902 – 10. September 1980) gibt es einen Essay mit dem arg nüchternen Titel „Das Bild des Pfarrhauses in der deutschen Literatur von Jean Paul bis Gottfried Benn“, in Deutschland mehrfach gedruckt, sehr empfehlenswert allesamt, die Essays des französischen Germanisten aus dem Elsass, materialreich, kenntnisreich und vor allem: lesbar geschrieben. Im genannten Essay heißt es: „Den Rundgang durch die Galerie der pfarrhäuslichen Genrebilder können wir uns ersparen. Die provinziellen Spielarten sind zahlreich. Württemberg – das unerschöpfliche Reservoir von Stiftlern, die als Hauslehrer auch in Norddeutschland und bis nach Russland hinüber sehr gefragt waren – stellt viele Vertreter. Hermann Kurz wurde schon genannt und neben Ottilie Wildermuth tritt ein langer Zug anderer Frauen von Helene Christaller bis Agnes Sapper und Auguste Supper.“ Im Handstreich hat Minder auf diese Weise Ottilie Wildermuth sowohl genannt wie auch beiseite geschoben. Dass er ausgerechnet Ina Seidel dann deutlich mehr Platz einräumt mit dem freilich nicht ganz von der Hand zu weisenden Argument, sie habe mit ihrem Altersroman „Lennacker“ das „Buch vom Pfarrhaus schlechthin“ geschrieben, ist innerhalb seines Versuchs gut nachvollziehbar, mit Blick auf Wildermuth dennoch ziemlich ärgerlich.

Als der Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer 2009 in seiner Reihe „Eine kleine Landesbibliothek“ als Band 8 Ottilie Wildermuths „Schwäbische Pfarrhäuser“ neu auflegte, nahm sich die Ulmer Rundfunkjournalistin Eva Christina Zeller, die auch als Lyrikerin hervorgetreten ist, das 160-Seiten-Büchlein vor: „Ottilie Wildermuth war etwas Besonderes: Auf der einen Seite war sie eine biedere Tübinger Schulmeistersgattin, auf der anderen Seite eine berühmte Schriftstellerin ...“. Zeller lobt das genaue Vorwort von Friedemann Schmoll und meint dann: „Um es gleich zu sagen, es lohnt sich, ihre Geschichten wieder zu lesen.“ Sie zitiert Wildermuth mit einem Satz aus deren Briefen, ohne die Quelle näher zu benennen: „Meine ganze Absicht ist, Bilder des wirklichen Lebens darzustellen, zu zeigen, wie reich und mannigfaltig auch das alleralltäglichste Leben in seinen verschiedenen Erscheinungen ist ...“. Die Probe darauf machen wir weiter unten anhand eines sehr kurzen Erzählstücks aus „Gestalten aus der Alltagswelt“, das mit „Aus dem Leben einer Hausfrau der alten Zeit“ beginnt und dort wiederum mit „Jugendliebe“. Es gibt eben nicht nur jene offenbar unausrottbare „Jugendliebe“, von der Ute Freudenberg seit 1980 nahezu ununterbrochen singt oder, neuer, jene, auf die man per Suchmaschine im Internet sofort gelenkt wird: www.brigitte.de.

Vorerst ein kurzer Schwenk zu Robert Walser. Der unvergleichliche Schweizer hat im Jahr 1927 ein höchst seltsames Prosawerk verfasst, auf das ich zuerst in der keineswegs nur kuriosen Sammlung „Dichteten diese Dichter richtig? Eine poetische Literaturgeschichte“ stieß. Es ist der Entwurf eines seiner so genannten Mikrogramme (fast durchweg reine Genusslektüre !!) und trägt die schlichte Überschrift „Ottilie Wildermuth“. Walser wäre nicht Walser, würde er in dieser Form auch tatsächlich über Ottilie Wildermuth schreiben, was er nicht tut. Deutlich mehr schreibt er über den Polen Henryk Sienkiewicz und natürlich vor allem über sich selbst. Er kommt auch auf den Besuch des rumänischen Herrscherpaares in der Schweiz, der mit allem weniger als nichts zu tun hat: „Ich bringe das aus keinem sonstigen Grund vor, als weil es mir in diesem Moment einfällt.“ Ein derart strukturiertes Stück Prosa würde man wohl jedem anderen Autor um die Ohren hauen oder vor die Füße werfen, Robert Walser aber ist mit genau diesen Sätzen der, der er ist, der grandiose Mann, den nicht die Dümmsten sogar über Franz Kafka stellen und da oben ist ziemlich wenig Platz. Ottilie Wildermuth kommt immerhin vor. Walser will eine Kindergeschichte von ihr aufgestöbert haben, deren Titel er nicht verrät, in einem „Töchteralbum“, was er wiederum nicht näher erläutert.

Dann schweift er ab, um schließlich den Inhalt der Kindergeschichte zu rekapitulieren. In der scheint ein Kleinstkind seine Liebe eher der Magd als der leiblichen Mutter zuzuwenden, was die Mutter mit Empörung bemerkt und zu schweren Vorwürfen gegen die Magd animiert. Und nun fragt Robert Walser sich und seine potentiellen Leser: „... und solch eine Erzählung aus dem häuslichen Leben, die immer wieder jung, weil wahr bleibt, hätte nicht mein aufrichtiges Interesse wecken sollen?“ Und lässt es damit bewenden. Er kehrt noch einmal zu Sienkiewicz zurück und danach geht er zu „Anna Karenina“ über, deren Anfang er verdreht referiert. Und dennoch hat Walser in knappster, kaum noch mehr zu komprimierender Form wohl einen Wesenszug der Prosa der Ottilie Wildermuth erfasst. Dem man freilich den Wert zumessen muss, den er für Walser einfach hat, der sonst aber gerade das Hauptargument gegen Wildermuth hergeben muss. Sie verlässt das häusliche Leben nicht nur nicht, sie empfindet dessen Enge nicht mal als Enge, scheint es gar zu präferieren als Lebensmodell. „Ottilie Wildermuths Charakterzeichnungen sind nicht frei von erzieherischer Absicht.“ Schreibt Eva Christina Zeller, als wolle sie das als Vorwurf verstanden wissen. Für sie als Angehörige des Jahrgangs 1960 und „Pfarrerstochter der elften Generation“ ist es wohl ein Vorwurf.

Greift man, was ich gelegentlich tue, auch wenn ich das Ergebnis vorab ahne, zu dem von Hiltrud Gnüg und Renate Möhrmann herausgegebenen Suhrkamp-Wälzer „Frauen Literatur Geschichte. Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart“, dann kommt man zu dem Ergebnis, dass Ottilie Wildermuth entweder nicht schrieb oder keine Frau war. Nicht einmal erwähnt wird sie in dieser geschmäcklerischen Literaturgeschichte und sie teilt dieses Schicksal, das überrascht nun schon nicht mehr, mit allen oben genannten Autorinnen. Weder Helene Christaller (31. Januar 1872 – 24. Mai 1953), noch Agnes Sapper (12. April 1852 – 19. März 1929), noch Auguste Supper (22. Januar 1867 – 14. April 1951) werden mit auch nur einem Wort genannt oder gar gewürdigt. Was sie verbindet, ist etwas, was in Deutschland zwar vorkommt, aber unweigerlich literarhistorische Diskriminierung nach sich zieht: Erfolg. Noch 1980 wurde die Gesamtauflage von Agnes Sapper auf zwei Millionen geschätzt, Ottilie Wildermuth bekam bereits im Alter von 45 Jahren ihre erste achtbändige Gesamtausgabe, sechs Jahre vor ihrem Tod folgten 14 Bände ihrer Jugendschriften. Und noch eines macht diese schreibenden Frauen für die schreibenden Frauen im Feminismus suspekt: sie sind evangelisch, katholisch oder sonst konservativ, keine leidenden Wesen, Opfer.

Zeit für einen Blick auf Ottilie Wildermuths Leben, das heute vor genau 200 Jahren in Rottenburg am Neckar begann und am 12. Juli 1877 in Tübingen endete. Andreas Rumler hat für seine „Tübinger Dichter-Spaziergänge“ gleich mehrere Wildermuth-Stationen angeschaut. Zunächst die Wilhelmstraße 14 und 16, wo die Autorin von 1859 bis zu ihrem Tod lebte, dann den Friedhof: „Und nahe dem nördlichen Eingang des Friedhofs findet sich das schlichte schwarze Denkmal für Ottilie Wildermuth.“ Rumler findet es anmerkenswert, dass der erst acht Jahre nach seiner Ehefrau Ottilie gestorbene Dr. Johann David Wildermuth über ihr genannt ist. Geheiratet hatten die beiden am 5. September 1843, die Hochzeitsreise führte in die Schweiz. Der Ehe entsprangen fünf Kinder, von denen zwei (1846 und 1856) bald nach der Geburt starben. Von 1843 bis 1847 lebte Ottilie mit Familie in der Gartenstraße 13A, danach bis 1859 in der Uhlandstraße 11. Ein Wildermuth-Denkmal findet sich auf der Neckar-Insel nahe der Alleenbrücke. Zum Freundeskreis der Familie gehörten in Tübingen Ludwig Uhland, Gustav Schwab, Karl Mayer. Mit Justinus Kerner begann Ottilie 1853 einen Briefwechsel und es soll als bemerkenswert erwähnt sein, dass seine Tochter Marie in ihrem Buch „Das Leben des Justinus Kerner“ die Brieffreundin mit keinem Wort erwähnt.

Am 9. Mai 1876 nahm Ottilie Wildermuth an der feierlichen Enthüllung des Schiller-Denkmals in Marbach teil, für dessen Idee sie sich schon mit 18 Jahren begeistert hatte. Denn zwei Jahre nach ihrer Geburt war Vater Gottlob Christian Ludwig Rooschütz als Oberamtsrichter von Rottenburg nach Marbach versetzt worden, um dort im neuen Amt zu wirken. In Marbach besuchte Ottilie die Volksschule, im damaligen Wohnhaus findet sich heute die Filiale eine bekannten Drogeriemarkt-Kette. Mit der Konfirmation am 17. April 1831 endete ihre Schulzeit und sie genoss eine typische Weiterbildung in Nähen, Kochen und Französisch in Stuttgart. Eda Sagarra (Jahrgang 1933) hat für das Killy Literatur-Lexikon die mutige Behauptung aufgestellt: „In jedem evangelischen Bücherverzeichnis bis weit in das 20. Jahrhundert hinein erhielt Wildermuth unter der Rubrik christliche Literatur für Jugend und Familie ihren selbstverständlichen Platz.“ Ich mag nicht fragen, wie viele solcher Verzeichnisse sich die irische Germanistin wirklich anschaute. Was sie behauptet, macht jedoch schlagend klar, warum in so vielen Büchern, in denen man den Namen der Autorin und mehr erwarten dürfte, schlicht gar nichts zu finden ist. Die christliche Rubrifizierung hat ihr bei Lesern kaum, in der literaturhistorischen Darstellung aber ganz offensichtlich massiv geschadet.

Eda Sagarra selbst, was alles sagt, hat in ihrem Buch „Tradition und Revolution. Deutsche Literatur und Gesellschaft 1830 bis 1890“ (List Taschenbücher der Wissenschaft) Ottilie Wildermuth mit keinem Wort erwähnt, obwohl sie wenigstens zum Stichwort Tradition sicher sehr gut gepasst hätte. Es bleibt die „Jugendliebe“. Erzählt wird von der „Ahnfrau“, einer Vorfahrin, wie sie in einigen Gegenden Schwabens genannt werde. „Selten wird ein Leben weniger Wechsel der Szene geboten haben als das der Ahnfrau. … Und doch, wie mannigfache Bilder in diesem einfachen Rahmen!“ Dieser Ahnfrau gibt Ottilie Wildermuth das Wort und alles, was sie berichtet und beschreibt, atmet natürlich die Luft des reinen patriarchalischen Familienlebens mit dem allmächtigen Hausvater an der Spitze. Man hat, schiebe ich ein, Literaturgeschichte fast immer wahrgenommen als Abfolge von Geschichten des Verstoßens, des Ausbrechens, des Scheiterns in der Revolte. Und man hat damit, die Parallele ist weniger an den Haaren herbeigezogen, wenn man nur kurz über sie nachdenkt, breiteste Schichten der potentiellen Leserschaft mit ihren Lebenserfahrungen allein und außen vor gelassen wie es heute die Politik tut, um sich anschließend über die Erfolge von Populisten zu wundern. Die Populisten der Literatur sind die Autoren des angeblich Trivialen.

Hätten wir Geschichten wie etwa diese „Jugendliebe“ nicht, woher wüssten wir eigentlich, wie dieses Lebens aussah, aus dem die Ausbrecher und Ausbrecherinnen unbedingt entkommen wollten? Woran könnten wir messen, ob sie nicht vielleicht seit zweihundert und mehr Jahren den Typus verkörpern, den wir im wirklichen deutschen Leben als Vertreter des Jammerns auf hohem Niveau kennen? Für diese Ahnfrau, die von ihrer stillen, wortlosen, unerklärten Liebe berichtet, galt als nicht nur akzeptierte, sondern eben auch bejahte Selbstverständlichkeit: „Ich sah ihn nur bei Tisch, und da hätt' ich den Vater sehen wollen, wenn eines von uns ungefragt geredet hätte!“ Das Rederecht am Tisch hat neben dem Vater allenfalls die Mutter und rasch steht dann so ein Vater da wie ein schlimmer Tyrann, der er in vielen Fällen sicher auch war, aber eben nicht immer, eben nicht automatisch. Die Pointe der „Jugendliebe“ beinhaltet auch die Erschütterung des Vaters: „Er sah ganz bleich, ganz verlegen und bekümmert aus. … Und der Vater gab mir zum erstenmal die Hand.“ Was ist geschehen? Zufällig findet die Erzählerin im Schrank mit dem teuren Porzellan, das nur zu besonderen Anlässen benutzt wird, einen ungeöffneten, noch versiegelten Brief an ihren Vater. Der öffnet ihn, gibt ihn dann seiner Tochter: „Aber das Herz ist mir fast still gestanden.“

Ottilie Wildermuth gibt ganz schlicht wieder, was die Ahnfrau unvorbereitet erleben musste: der Brief an den Vater enthielt die förmliche Werbung um die Hand der Tochter und einen kleinen Brief für sie selbst, „so schön, ich könnte es heute noch auswendig sagen.“ Sie muss erkennen und der Vater sieht es mit einem mal auch, dass sie ihren Wunsch-Mann hätte haben können, dass ihre Jugendliebe erwidert wurde, dass sie die Vernunftehe nach dem Wunsch des Vaters nicht hätte eingehen müssen. Aber sie nimmt, was gekommen ist: „Wenn es Gottes Wille gewesen wäre, so hätt' er's anders fügen können.“ Zugegeben, die von Eva Christine Zeller an „Schwäbische Pfarrhäuser“ bemerkte Nähe zum Kitsch ist nicht rundweg zu leugnen. Doch hat die „Jugendliebe“ einen Schluss, der dagegen spricht: „Es ist eine schöne Sache, Kind, um das eheliche Vertrauen, und eine rechte Frau wird kein Geheimnis vor ihrem Mann behalten; aber gar zu voreilig muss man nicht sein, sonst wirft man leicht ein Häkchen in des Mannes Seele, das nachher schwer auszuziehen ist.“ Die Ahnfrau hat nie erfahren, was der wegen eines Versehens ihrer Mutter in der Aufregung des großen Hausputzes ungeöffnet vergessene Brief bei seinem vermeintlich einfach abgewiesenen Absender auslöste. Die Vernunftehe aber funktionierte in aller Harmonie.

Die Rundfunkjournalistin Zeller wünschte sich zum Ende ihrer Buchbesprechung für den Deutschlandfunk: „Nachdem sie Frauengenerationen erzogen hat, wäre es jetzt vielleicht an der Zeit, dass ihr Buch auch Männergenerationen … beglückte.“ Man könne nämlich Ottilie Wildermuths Genrebilder auch lesen als „hochmodernen Versuch, die neue Philosophie des Weniger zu propagieren. Ottilie Wildermuth zeigt ja vortrefflich, dass Herzensgüte nichts mit äußerem Reichtum zu tun hat, dass Freude nicht aus dem Übertreffen und dem Ellenbogeneinsatz entsteht.“ Peter Härtling (Jahrgang 1933) hat in seinem Versuch „Über Ottilie Wildermuth“ nicht wenige sehr prägnante Aussagen getroffen, darunter diese mir besonders wichtige: „Für den, der weiterdenkt, hat die Wildermuth Realien gesammelt.“ Härtling schließt so und ich mich ihm an: „Die Kinder des Biedermeier wurden früh in ihre Pflichten gesetzt. Sie handelten und dachten wie kleine Erwachsene, Hausväter die Buben, Hausmütter die Mädchen. In der Jugend alterten sie rasch, im Alter blieben sie, was sie schon waren. Die scheinbare Bruchlosigkeit gehört auch zum Leben der Wildermuth. Die Spannungen, die Brüche, die Zwänge nahm man als Beigaben der auferlegten Geborgenheit. Ein Verdienst der Wildermuth ist es, sie mitunter nicht verschwiegen zu haben.“


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