Lajos Kassák, Trotzkist

So geht es zu: auf dem Fensterbrett meines Arbeitszimmers liegt ein alter Literaturkalender aus dem Jahr 1990, das je aktuelle Blatt abgedeckt, um Sonnenschäden von ihm abzuwenden, mein Blick fällt auf gleich zwei Todestage: am 22. Juli 1967 starben weit voneinander der einst berühmte Carl Sandburg, USA-Lyriker in der Nachfolge von Walt Whitman und Verfasser einer gigantischen Biographie von Abraham Lincoln, und der Ungar Lajos Kassák, geboren am 21. März 1887. Der starb in Budapest und hat dort heute im Stadtteil Óbuda sogar ein eigenes Museum im Schloss Zichy. Meine Suche nach Texten von ihm in meinen durchaus ansehnlichen Beständen ungarischer Literatur, die freilich zu erheblichen Teilen aus DDR-Zeiten stammen, wird fündig: „Unglückliche Brüder“ heißt eine Erzählung in einer Anthologie, die 1988 in der Sammlung Dieterich erschien. „Die Mädchen spielen“ heißt eine zweite Erzählung in einer Anthologie des Leipziger Reclam-Verlages, die Texte der Zeitschrift „Nyugat“ (Der Westen) aus den Jahren 1908 - 1941 versammelt. Dieser Band enthält auch zwei Gedichte von Kassák und eine Besprechung eines Romans von Ilja Ehrenburg. Dazu, und dort wird es erstmals interessanter, biobibliographische Notizen ganz hinten.

Die weisen, wenn man auch nur etwas genauer hinschaut, eine merkwürdige Lücke aus. Einem Buch mit dem übersetzten Titel „Eine Seele sucht sich“ von 1948 folgt erst nach zehn Jahren 1958 der Band „Dichtungen, Zeichnungen“. Die biographische Notiz der Sammlung Dieterich klärt 1988 etwas auf, was 2017 bei WIKIPEDIA noch immer ein Geheimnis ist. Der in Érsekújvár geborene Kassák hat in Nové Zámky ein Denkmal, wie das? Ganz einfach, es ist ein und derselbe Ort. Das alte Österreich-Ungarn und nach 1945 das neue alte Ungarn als Verbündeter Hitler-Deutschlands verlor ein Drittel seiner Fläche, ich hörte noch in den siebziger Jahren alte Ungarn von Rijeka als „unserem Hafen“ reden. Kassák, so die Notiz, „durchwanderte als Handwerksbursche halb Europa und entwickelte sich zum Führer der ungarischen Avantgarde. Seit 1915 gab er verschiedene Literaturzeitschriften heraus. Seine Dichtung vereint moderne literarische Strömungen vom Expressionismus über Dadaismus und Surrealismus bis zum Konstruktivismus.“ Das liest sich zwar neutral, benennt aber durchweg Strömungen, denen das so genannte Erbe-Verständnis der DDR gerade keine sicheren Podestplätze in der offiziell empfohlenen Aneignungshierarchie zusprach.

In allen anderen Anthologien, die DDR-Lesern immer wieder ältere, neuere und ganz neue Autoren und Autorinnen aus Ungarn vorstellten, fehlte der Name Kassák. In einem Band dafür nicht, wo man ihn vielleicht heute am wenigsten vermuten würde. Er trägt den Titel „Befunde und Entwürfe“, den Untertitel „Zur Entwicklung der ungarischen marxistischen Literaturkritik und Literaturtheorie (1900 – 1945)“ und erschien in der bis heute verdienstvollen Reihe „Literatur und Gesellschaft“ des Akademie-Verlags Berlin. Auch dort gibt es hinten eine biographische Notiz: „… eine der markantesten Persönlichkeiten der ungarischen sozialistischen Literatur. Zur Zeit des ersten Weltkrieges wurde er durch seine antimilitaristischen Gedichte und publizistischen Schriften bekannt und gab in Anlehnung an die Bestrebungen der europäischen avantgardistischen Bewegungen Zeitschriften sozialistischer Prägung heraus. In mehreren Fragen kam es zu heftigen Diskussionen zwischen ihm und der kommunistischen Bewegung, doch die Grundtendenz seines Lebenswerkes, insbesondere seiner Lyrik und Romane ist offenkundig sozialistisch.“ Ein Text aus dem Jahr 1931, im Buch als Nummer 30 gedruckt, hebt diese Einschätzung auf spezielle Weise auf.

Doch noch einmal zurück zur Sammlung des Reclam-Verlages von 1989. Dort klafft nicht nur die bereits benannte Lücke zwischen 1948 und 1958, dort enden die biographischen Angaben mit diesem Satz: „In dem nach 1945 wieder erwachenden literarischen Leben war er eine der aktivsten Persönlichkeiten.“ Von 22 Jahren (bis zum Tod 1967) also kein einziges konkretes Wort. Nur deshalb ein WIKIPEDIA-Zitat: „Als in den fünfziger Jahren seine literarischen Werke verboten wurden, begann Kassák wieder zu malen. Er knüpfte an seine dadaistisch geprägten, konstruktivistischen Arbeiten an und stellte großformatige abstrakte und surrealistische Collagen her.“ Das freilich sichert ihm eher ein Platz in der Geschichte der ungarischen bildenden Kunst als der der Literatur. Der Schlüsselsatz findet sich, durchaus eine gehobene Lebensform für Schlüsselsätze in der DDR, in den Anmerkungen zu den insgesamt sechs Texten von Lajos Kassák in „Befunde und Entwürfe“. „Kassák bezieht sich hier auf Trotzkis 1923 erschienenes Werk „Literatur und Revolution“ …; in seiner Kunstanschauung folgt Kassák in vielem den Ansichten Trotzkis.“ Nein, groben Geschichtsfälschungen wollte sich der Akademie-Verlag nicht öffnen.

Der aus dem Jahr 1984 stammende Band, dessen Vorgeschichte bis zur schließlichen Drucklegung ich nicht kenne, mir aber durchaus vorstellen kann anhand harmloserer Parallelfälle, nennt tatsächlich mehrfach im Text den Namen Trotzki und hat sogar in einer Anmerkung den bescheidenen Hinweis darauf, dass Trotzki ja eine Zeit an der Seite Lenins stand: eine für alle, die sich mit der Thematik etwas auskennen, damals fast ungeheuerliche Aussage, gerade weil sie eine sehr schlichte Wahrheit ausspricht. Wer jetzt eine Vorstellung entwickeln möchte, was der Name Trotzki spätestens seit 1927 in der kommunistischen Welt darstellte, kann sich ersatzweise den Namen Gülen hernehmen, dazu alles, was der türkische Präsident über ihn und seine Anhänger innerhalb und außerhalb der Türkei sagt und verbreitet. Stalin würdigte, man kann es nur immer wieder einmal in Erinnerung rufen, den gedungenen Mörder Trotzkis mit den höchsten staatlichen Ehrungen, die das Sowjetland zu vergeben hatte. Kommunistischer Fememord – wer das sagt, ist schwerlich der Verbreitung schlechter Legenden zu bezichtigen. Lajos Kassák aber als Trotzkist, das wirft plötzlich ein anderes Bild auf die arg hintersinnige Kompilation des Akademie-Verlags.

Dort nämlich folgt auf sechs Äußerungen des Ungarn, von denen keine umstandslos dem Untertitel des Bandes zuzuordnen wäre, was die Frage aufwerfen könnte, warum er überhaupt aufgenommen wurde, eine brachial vernichtende Kritik an einem seiner Gedichtbände, wie sie in dieser nahezu rufmörderischen, auf alle Fälle ehrabschneidenden Form selten vorkommt. Ich jedenfalls erinnere mich nicht, je einen solchen geschriebenen Totschlag gelesen zu haben. Verfasst hat ihn aber nicht irgendein lyrikferner Parteilinien-Verfechter, verfasst hat ihn Attila József (11. April 1905 – 3. Dezember 1937), nach dem in Ungarn bis heute unzählige Straßen und Plätze benannt sind, dessen Denkmal in Budapest noch immer steht, auch wenn die gegenwärtige Regierung es am liebsten verschwinden lassen möchte. Die UNSECO hatte 2005 das Jahr seines 100. Geburtstages sogar zum „József-Attila-Jahr“ erklärt. Er aber schrieb 1931 eine hämische, bösartige, sachferne Kritik zu den „35 Gedichten“ von Lajos Kassák, mit deren Neudruck der Akademie-Verlag der DDR zum einen auf vermeintlich elegante Weise die sechs eigenen Texte des Kritisierten ins Gegenlicht stellt, aber ebenso auch umgekehrt diese sechs Texte den schlimmen Unfug des Kritikers lächerlich machen.

1984 hielt sicher mancher DDR-Leser auf Seite 150 des Akademie-Buchs inne. Dort las er am Ende eines offenen Briefes an Béla Kun (20. Februar 1886 – 29. August 1938): „Ich verehre Sie als einen der größten Politiker; gestatten Sie mir jedoch, dass ich Zweifel gegenüber ihrer künstlerischen Qualifikation hege.“ Der mächtigste Mann der Räteregierung, der führende Kommunist, später in Moskau für die Kommunistische Internationale aktiv, ehe er wie viele andere Stalins Säuberungen zum Opfer fiel und erschossen wurde, bezichtigt der künstlerischen Inkompetenz. Kun hatte auf dem Parteitag kurz zuvor die Zeitschrift „MA“ (Heute) „ein Produkt der bürgerlichen Dekadenz“ genannt, wogegen sich Kassák heftig wehrte. Was Jahre später Attila József zu Papier brachte, war kaum mehr als die explizierte Fassung dieses alten kommunistischen Verdikts. Der depressive József nahm sich mit nur 32 Jahren das Leben, die Herausgeber von „Befunde und Entwürfe“ sahen sich veranlasst, ihn milde zu korrigieren: „Die heutige marxistische Literaturwissenschaft beurteilt die hier aufgeworfenen Fragen der Kritik differenzierter als Attila József, der zur Zeit seines Eintritts in die illegale Kommunistische Partei Ungarns in gewissem Maße überspitzt reagierte.“

An seiner Zeitschrift hing Kassák über alle Maßen, er gründete sie sogar im Wiener Exil neu, wohin er nach der Niederlage der Räterepublik fliehen musste. Aber schon, wer die Namen liest, auf die er sich wiederholt beruft, weiß natürlich, wie weit er mit seinem Aktivismus von Beginn an von allem entfernt war, was sich selbst als streng marxistisch ansah (ohne es deshalb automisch zu sein, das versteht sich). Franz Pfemfert ist ein deutscher Name, den er stets bei der Hand hat. Dafür sind ihm Henri Barbusse und Romain Rolland ehrenwerte Männer, die aber letztlich „in einem Humanismus versackt sind“. Gegenüber Kun beruft er sich noch auf Ludwig Rubiner und Iwan Goll, weitere deutsche Namen zu nennen, wenn er dann aber Lunatscharski und Bogdanow quasi in einem Atemzug nennt und das mehrfach, dann erinnere ich mich meiner studentischen Lenin-Lektüren: da war Bogdanow nur noch schlechtes Beispiel. Mitten ins Herz der Debatten aber stieß Lajos Kassák mit seinen Aussagen zur Unmöglichkeit einer proletarischen Kultur. Er teilte bestimmte noch bis zum Zusammenbruch des Sozialismus in den Jahren nach 1989 gehegte und gepflegte Verklärungen der Arbeiterklasse und ihrer kulturellen Potenzen nicht, attackierte ihre Vertreter durchaus scharf.

Lajos Kassák setzte, und da war er alles andere als allein im Europa des ersten Viertels des zwanzigsten Jahrhunderts, auf den neuen Menschen. Ihn galt es zu entwickeln, zu formen, herauszubilden, er war letztlich das Ziel aller Entwicklungsarbeit, aller Kämpfe, die ökonomischen Verhältnisse bestenfalls Mittel zum Zweck. Der neue Mensch aber, möchte man nicht völlig frei von Zynismus sagen, ist immer der alte Adam, ob mit oder ohne alte Eva. Er kam einfach nicht, der neue Mensch. Für den Avantgardisten ergibt sich mit unschöner Regelmäßigkeit das Problem des Falschfahrers auf der Autobahn, der den Verkehrsfunk hört: Wieso einer, alle fahren falsch und kommen mir entgegen! Kassák schrieb bereits 1922: „Es wundert mich nicht, dass diejenigen, die gestern bereits an unserer Seite schritten, heute bereit sind, uns zu verleugnen, da sie uns erneut nicht verstehen.“ Und er findet für die, die ihm nicht folgen können, die allerdings wirklich schöne Formel vom Ausruhen „auf den Lorbeeren seiner Ohnmacht“. Die neue Kunst, glaubt er allen Ernstes, kann den neuen Menschen schaffen. Damit hebt er die Kunst in ihrer Wirkungsmacht über alles andere. Das aber widerspricht nicht nur guter marxistischer Theorie, sondern aller Erfahrung.

Der Roman von Ilja Ehrenburg, den Kassák 1929 besprach (die Reclam-Sammlung gibt leider keine präzise Quelle an), ist 1928 im Leipziger Paul List Verlag erschienen, ob sich der Kritiker auf diese deutsche Übertragung oder eine andere bezieht, ist an der Übersetzung der Besprechung von Agnes und Wolfgang Kempe wiederum nicht abzulesen, „Die Gasse am Moskaufluss“ jedenfalls animiert Kassák zu Vergleichen mit Leonid Andrejew, er führt die Namen Zola und Dostojewski ins Feld und schließlich auch noch Gorki. „Bei den vielen, in ihrer Mittelmäßigkeit schon ermüdend langweiligen neuen Büchern war es mir eine wahre menschliche Freude, Ilja Ehrenburgs Buch zu lesen.“ Der Roman ist im Augenblick zwischen 7 und 38 Euro plus Versandkosten bei diversen Antiquariaten in der Erstausgabe zu bekommen. Interessanter ist heute, was der ungarische Kritiker des Jahres 1929 Ehrenburg bescheinigt: „… er löste sich aus den Reihen der Jasager und blieb weiterhin ein ungeduldiger unzufriedener Geist. Als sich anstelle des zaristischen Systems der Sowjet seine eigene Ordnung zu schaffen begann, setzte Ehrenburg den Kampf statt mit Waffen mit der Feder fort – und jetzt bewusst und eingestandenermaßen allein um des Kampfes willen.“

Die Nachdichtungen der Kassák-Gedichte besorgte seinerzeit übrigens Richard Pietraß, vor allem als Lyriker bekannt und einige Jahre Herausgeber des „Poesiealbums“ im Verlag Neues Leben Berlin. Zieht man dazu noch einmal heran, was Attila József gerade zu den Gedichten schrieb, dann kommentiert es sich selbst: „Er produziert Schriften, in denen die Merkmale des Schreibens fehlen. Er fabriziert Sätze, die der syntaktischen Bezüge entbehren. Er hält Bilder fest, die die anschauliche Kontinuität vermissen lassen. Er bringt Gedanken hervor, die keinen Sinn in sich tragen. Er stellt Wortzusammensetzungen her, ohne dass sie eine Bedeutung hätten.“ „All dies zusammengenommen, sind die Gedichte von Kassák Illustrationen zu einer äußerst gedankenlosen und unsinnigen Ästhetik.“ „Wir stehen der letzten Stufe des subjektiven Idealismus gegenüber, die von der Geschichte der Philosophie als Solipsismus bezeichnet wird.“ Es wundert dann kaum noch, auch von Krankhaftigkeit zu lesen. In der Sowjetunion Stalins landeten so charakterisierte Dichter früher oder später unter diesem oder jenem Vorwand in den Lagern oder vor den Erschießungs-Kommandos. Lajos Kassák hat alles überlebt und sogar noch seinen 80. Geburtstag feiern können.

Ein Blick in die beiden Erzählungen zum Schluss: „Unglückliche Brüder“ erzählt von einem Kutscher und seinem Pferd. Der Mann fragt sein Pferd: „Wer hat es so gefügt, dass der brave Jóska Faragó für sein ganzes Leben ein getretener Hund bleibt?“ Und in seiner alkoholisierten Phantasie hört er plötzlich sein Pferd sprechen, das bewegt ihn so, dass er dem Tier unter Tränen um den Hals fällt: „Es war doch in der Tat etwas Großes, dass er das dumme Tier zu solch offenen Worten veranlassen konnte. Es sprach zu ihm, als hätte es aus einem offenen Buch gelesen“. Die unglücklichen Brüder werden ausgelacht und schließlich von einem Polizisten vertrieben. „Die Mädchen spielen“ führt in den Krieg, in ein abgelegenes Dorf, das in gewissen Abständen ausgeraubt wird von durchziehenden Soldaten, dessen Frauen und Mädchen vergewaltigt werden, als wäre dies Gesetz der Natur. Doch nicht alle werden vergewaltigt, einige erleben alles anders. Mit einem sehr feinen Gefühl beschreibt das Denken, Fühlen und Erleben dieser Mädchen, denen die Soldaten etwas wie Besuch der Welt in der Abgeschiedenheit bedeuten. Bis einige von ihnen einfach erschossen werden, weil Soldaten ihre Tanzspiele als Signale an den Feind missdeuten.

Die Geschichte endet: „Die Bauern waren immer noch wach, und es kam ihnen vor, als bewegten irgendwelche bösen Kräfte ununterbrochen die Erde unter ihnen.“ Von den Mädchen, die gar keinen Namen bekommen hieß es zuvor: „… für nichts in der Welt hätten sie die Freuden des Augenblicks hingegeben. So war das jeden Sonntag. Was bedeuteten ihnen Elend und Krieg!“ Und: „Was sie nicht am eigenen Körper erfahren, das begreifen sie nicht. Sie leben in Raum und Zeit ohne tragische Erschütterungen.“ Und Kassák legt den Mädchen eine Frage in den Mund, die alles, was er zeigt, in fünf Worten gerinnen lässt: „Wie alt werden denn Soldaten?“ Für sie ist, ohne dass sie sich dessen auch nur annähernd bewusst werden, der Soldat damit so etwas wie eine biologische Lebensform, die eine bemessene Zeit hat für sich, wie sie die Tiere haben oder die Pflanzen in ihrem Zyklus durch die Jahreszeiten. Seine eigenen Theorien von der Schaffung neuer Menschen durch Literatur bedient Lajos Kassák damit nicht und das ist gut so. Noch stets war Literatur, die eine Theorie bediente, die weniger gute Literatur. Und Literatur, die zu neuen Theorien zwang, in ausgleichender Gerechtigkeit eher etwas für Literaturgeschichtler und weniger für die Leser.


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