Alfred Kerr 150

Wenn die zuständigen Stellen, wie man sie beschönigend nennt, in der DDR 1982 ein Buch erscheinen ließen, obwohl in diesem Buch ein Mann zitiert wird, von dem in der DDR nie etwas erschien, und zwar mit einer Aussage über mangelnde persönliche Freiheit unter Ulbricht, dann durfte man getrost aufmerken. Der Zitierte war Karl Jaspers. Sich für ihn auffallend interessiert zu haben, war noch zwanzig Jahre vorher ein Exmatrikulationsgrund in dieser DDR, wobei der Exmatrikulierte später doch Lehrer werden durfte, weil er sich in der Produktion bewährt hatte. Der Zitierende war Rolf Hochhuth, am 1. April 1931 in Eschwege geboren, das Buch trug den Titel „Spitzen des Eisbergs“. Es versammelte sortierte Splitter unterschiedlichen Umfangs aus dem 1982 schon umfänglichen Werk Hochhuths, was Lesern den Nachteil brachte, selten bis nie von jenem Zusammenhang zu erfahren, in dem das jeweilige Textstück an seinem Ursprungsplatz gestanden hatte. Über fast vier Druckseiten drischt Hochhuth auf Alfred Kerr ein, den Kritiker, der am 12. Oktober 1948 in Hamburg gestorben war, im Begriff, dort eine Vortragsreise in verschiedene deutsche Städte zu beginnen. Kerr kam aus London, wo er als jüdischer Emigrant seit 1935 gelebt hatte, wo seine Tochter Judith Kerr (geboren am 14. Juni 1923 in Berlin) heute noch lebt.

Als Kerr starb, war Hochhuth noch keine 18 Jahre alt. Seine an Bösartigkeit und Einseitigkeit kaum zu übertreffende Attacke auf den längst toten Kritiker stand zuerst in einem 1971 bei Rowohlt erschienenen Buch Hochhuths mit dem Titel „Krieg und Klassenkrieg“, erreichte den DDR-Leser also mit elf Jahren Verspätung. Als Marcel Reich-Ranicki den großen Kollegen Kerr würdigte, sein Artikel erschien erstmals am 13. August 1983 in der FAZ, wurde später in die Sammlung „Die Anwälte der Literatur“ aufgenommen, Kerr bekam dort den Platz zwischen Fontane und Moritz Heimann, bezog sich einleitend durchaus genüsslich auf diesen Hochhuth. „Wer immer gegen Kerr schrieb, glaubte ohne Superlative nicht auskommen zu können.“ Hochhuths Superlativ liest sich so: „Folgerichtig, dass der meistkorrumpierte Theater-Parasit, der je in Deutschland, um ein mot anzubringen, Existenzen auslöschte, der unangreifbarste war: Kerr.“ Was Hochhuth unter dem Auslöschen einer Existenz verstand, verrät er anderthalb Seiten später: Hugo von Hofmannsthal schrieb aus lauter Angst vor Alfred Kerr nach „Der Schwierige“ keine Komödie mehr. Leute vom Schlage Kerr dagegen landeten in Gaskammern, wenn sie nicht, wie dieser „Theater-Parasit“, noch gerade eben fliehen konnten nach der öffentlichen Verbrennung ihrer Bücher am 10. Mai 1933.

Es ist unsäglich, was Hochhuth da in blinder Wut an einem Mann ausließ, der sich nicht mehr wehren konnte, den andere im übrigen ganz anders wahrgenommen hatten, darunter nicht die kleinsten aller Geister. Man schaue sich die Beiträger der Anthologie zum 60. Geburtstag Kerrs an, die 1927 bei S. Fischer erschien, Herausgeber jener Joseph Chapiro, der bisweilen als „Eckermann“ Gerhart Hauptmanns gesehen wurde. Der ausgelöschte Hofmannsthal lebte da noch. Lebende Gratulanten: Gerhart Hauptmann, George Bernard Shaw, Arthur Schnitzler, Monty Jacobs, Ernst Toller, Max Hermann-Neiße. Die Gratulation Robert Musils zu diesem 60. Geburtstag stand am 22. Dezember 1927 in DIE LITERARISCHE WELT, die noch heute als Bestandteil der Tageszeitung DIE WELT fortlebt und trotz mancher in meinen Augen wenig vorteilhafter Metamorphosen in den zurückliegenden zwei, drei Jahren immer noch als ein Flaggschiff zu gelten hat, wenn es um das literarische Leben geht. Wirklich dumm an den Hochhuth-Ergüssen ist, dass er später gegen einen anderen Kritiker vom Leder zog, der ebenfalls eine Institution war und tatsächlich zu seinen Lebzeiten keine hinreichende Liebe zu Hochhuths Bühnenschaffen hatte entwickeln können: Friedrich Luft (24. August 1911 – 24. Dezember 1990, gestern also sein 27. Todestag).

Wieder schoss Hochhuth mit der Gewalt und dem Gelärme einer in den Radlagern quietschenden Dampfwalze auf einen Mann los, der sich nicht wehren konnte. Man möchte fast glauben, derlei sei der besondere Mut des tapferen Dramatikers, dem der allgemeine Liebesentzug der Öffentlichkeit die Contenance raubt und der im fortgeschrittenen Alter, wir erinnern uns, noch unglaublich alberne Scharmützel mit Claus Peymann inszenierte. Nicht nur Berlin lachte. „Machthaber und Machtlose in der Kunst“ hieß das Werk Hochhuths, in dem er Kritiker als Machthaber, Schriftsteller (wohl vor allem sich selbst) als Machtlose stilisierte und sich nicht davor scheute, alberne Episödchen zum besten zu geben, etwa über Bücher unbekannter Autoren, die er bei Luft in dessen Regalen gesehen hatte. Über Kerr hieß es 1971: „Wer ohne Haftung schreibt, degeneriert in der Eile, in der sein Selbstbewusstsein wächst. Ohne Haftung schreibt, wer kritisiert, ohne je kritisiert zu werden.“ Was den wirklich dummen Anschein erweckt, als wäre Kerr niemals kritisiert worden oder den noch dümmeren Anschein, als hätte Hochhuth nur nie von solcher Kritik gehört. Die wilde Polemik gegen Friedrich Luft läuft auf die These zu: „Daraus geht hervor: mit der Qualität einer Arbeit hat es gar nichts zu tun, ob ein bekannter Autor in der Gunst der Öffentlichkeit bleibt.“ Das wars also!

Der bekannte Hochhuth wollte und will vielleicht immer noch bekannt und zeitgleich in der Gunst der Öffentlichkeit sein, unter der er aber nicht etwa Inszenierungs-Zahlen oder Auflagenhöhen versteht, an denen sich andere Autoren und Autorinnen gern erwärmen, denen die Kritik die mehr oder minder lauwarme Schulter zeigt. Die Kritik verkörpert für ihn Gunst der Öffentlichkeit und da ist er dann doch fast wie einer jener Politiker, über die er sich so erhaben fühlt, dass er sich über sie lustig macht. Die zum Beispiel ihre Auftritte in Fernsehrunden zählen. Er hätte, möchte man nicht ohne Häme anmerken, ja nicht mit „Der Stellvertreter“ anfangen müssen, Hochspringer lassen auch nie zuerst die Latte auf Weltrekordhöhe legen. „Sechzig Jahre lang an lebenden Theaterautoren schmarotzt und an toten, in einer Freiheit, die keiner kennt, der Leuten wie Kerr durch Arbeit erst die Basis zu liefern hat, auf der sie sich spreizen können ...“. Mit etwas Bösartigkeit müsste man entgegenhalten: 82 Jahre alt musste Pius XII. werden und tot sein, ehe Rolf Hochhuth an seinen Verfehlungen im Zusammenhang mit Deutschland, mit dem Völkermord an den Juden Europas schmarotzen konnte. „Der Schriftsteller ist die Machtlosigkeit in Person: Nicht, was er schreibt, sondern wo er es unterbringt, entscheidet darüber, ob er gehört wird.“ Das stimmt und stimmt nicht.

Die unterstellte Macht der Kritik, des Kritikers am Beispiel Kerr, aber eben auch am Beispiel Friedrich Luft, wie Rolf Hochhuth sie sich und seinen Lesern zweifelsfrei einreden will, würde bedeuten, dass Leute ins Theater gehen oder ihm fernbleiben, weil die Kritik, der Kritiker dies oder jenes schrieb. Das kann nur jemand behaupten, der sich nie mit medialer Reichweiten-Forschung befasste. Die Zahl der Leser, die überhaupt Feuilleton lesen, liegt danach deutlich unter zehn Prozent, von denen wiederum liest nur ein Bruchteil Kritiken, darunter ein weiterer Bruchteil Theaterkritiken. Nicht zuletzt deshalb gibt es ja auch fast keine professionelle Theaterkritik mehr in den namhaften Printmedien, allenfalls nach dem Prinzip Männer-Duschgel 3 in 1, in der Provinz gehen dafür der Sportreporter oder der Deutsch-Lehrer im Ruhestand als Zuverdiener ins Theater, je nachdem, wie die Wochenenddienste verteilt werden vom Lokalchef, Honorar die Freikarte und vielleicht 20 Euro, wenn die Redaktion im Geld schwimmt, also eigentlich nie. An Kerr bemäkelt Hochhuth speziell, dass er etwa Georg Büchners „Dantons Tod“ nicht gerecht wurde. Dem ließen sich Namen hinzufügen, nur sollten daneben dann auch die stehen, die Kerr durchsetzen half mit aller Macht. Wie Ibsen, Shaw, Flaubert, Gorki, Tschechow, aber auch Hauptmann, Frank Wedekind.

In herzlicher Ahnungslosigkeit wollte Rolf Hochhuth gewissermaßen als letzten Trumpf noch zwei Kritiker gegen Alfred Kerr ausspielen, denen er selbst offenbar nicht in tiefer Feindseligkeit zugetan war: Alfred Polgar und Max Rychner. Von denen wagte er nicht zu sagen „ein so widerstandsloser Kopf“, wie er es von Gerhard F. Hering tat, dem er nicht einmal einen Vornamen gönnte in seinem Seitenhieb. Max Rychner aber, der große Schweizer Kritiker und Essayist, ist ein denkbar schlechter Zeuge wider Kerr, war im Gegenteil nach Kerrs Tod sogar Autor einer der besten und vor allem substanzhaltigsten Würdigungen des Kollegen. Natürlich war Rolf Hochhuth seinerzeit nicht verpflichtet, Rychners Kerr-Nachruf zu kennen, besser wäre es jedoch gewesen. Aus der dummen Einseitigkeit wäre vielleicht informierte Einseitigkeit geworden oder gar (im schlimmen Falle) etwas wie Ausgewogenheit. Zwischen Buchdeckeln nachzulesen ist Rychners alles andere als unkritische Darstellung in der zweiten, veränderten Auflage seines Buches „Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen“ (Manesse Zürich), die erste Auflage im Atlantis Verlag enthielt diese Arbeit noch nicht, weil Alfred Kerr 1943 noch lebte. „Auch im Hohn kann sich eine Seite des Wahren kundgeben“, schrieb Rychner fast zum Schluss nach vielen klugen Sätzen.

Man muss sehr eifrig seine eigene Blindheit pflegen, um Alfred Kerr auf den Theaterkritiker zu reduzieren. Nur wenn man, wie Hochhuth, auf dem Dualismus Kritiker-Schriftsteller reiten will, geht das gar nicht anders. Sonst wäre Kerr ja plötzlich selbst Schriftsteller, Dichter zum Beispiel, der nicht wenige Gedichte in seinem langen Leben schrieb, die, wie die DDR-Herausgeberin des Kerr-Buches „Sätze meines Lebens“, Helga Bemmann, glaubte, viel präsenter in repräsentativen Anthologien sein müssten, ginge es nach ihrer Qualität. Die Henschel-Reihe „Klassische Kleine Bühne“ nahm schon 1967 (zum hundertsten Geburtstag) Lieder und Verse Kerrs auf unter dem Titel „Trotz alledem – es hat gelohnt“. Der Theaterhistoriker Günther Rühle stellte für den Aufbau-Verlag die dicken Bände „Wo liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt“ und „Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? Briefe eines europäischen Flaneurs“ zusammen. Die 25-bändige Berlin-Bibliothek der BERLINER ZEITUNG bezog als sehr preisgünstige Edition „Aus dem Tagebuch eines Berliners“ von Kerr ein. Die Theaterkritiken bilden in der großen Werkausgabe des Verlags S. Fischer lediglich die Bände VII.1 und VII.2. Das muss eigentlich kaum mehr kommentiert werden. Helga Bemmann tat es stellvertretend mit Robert Musils Worten von 1928: „Kerr ist Dichter.“

Wegen einer Eigenheit, die man auch Marotte nennen kann, ist Alfred Kerr fast berühmter als wegen seiner sehr oft sehr herrlichen Sätze: Er gliederte nicht nur seine Theaterkritiken in mit römischen Zahlen nummerierte Abschnitte. Fast alle Absätze kurz, innerhalb der kurzen Absätze zusätzlich kurze Sätze, Max Rychner sprach vom „sperberhaften Klopf- und Bohrsatz“. „Kerr hat zunächst eine Knappheit der Aussage angestrebt, die etwas von der sachlichen Zucht einer Generalstabsprosa zu haben scheint“, oder: „Kerrs Sprache ist die eines Monologisten zwischen gestellten Spiegeln, die Ich-Sprache eines Mannes, der sich selbständig gemacht hat, nachdem er wahrgenommen hatte, dass seine Entwicklung zu einem persönlichen Stil geführt hatte.“ Und: „Ein unaufhaltsames Wohlgefallen an den eigenen Formulierungen begleitet sie, die zumeist aus sehr einfach gegliederten Sätze ohne die Entfaltung syntaktischen Reichtums bestehen.“ Wozu heute zu sagen wäre, dass damals immerhin noch syntaktischer Reichtum einen Wert darstellte, fast zum Ausweis werden konnte zum Scheiden von Weizen und Spreu. Heute diktiert die selbst unter formal Gebildeten grassierende Unfähigkeit, den Sinn von Sätzen zu erfassen, Außendruck auf Schreiben und Sprechen, erzeugt permanent schlechtes Gewissen, wenn das Subjekt-Prädikat-Objekt-Schema überschritten wird, das Semikolon steht auf der roten Liste vom Aussterben bedrohter Zeichen.

Bei Max Hermann-Neiße kann man nachlesen, welch ungeheure Wirkung Alfred Kerrs 1905 erschienenes Buch „Das neue Drama“ auf die Generation des 1886 Geborenen hatte. Kerr druckte in seiner Zeitschrift „Pan“ erste Gedichte Hermann-Neißes. „Statt magisterhaftem Genörgel, Wichtigtuerei, Schwerfälligkeit, stierem, unbeweglichem Ernst herrschte hier Leichtigkeit, Grazie, Witz.“ Hermann-Neiße widmete seine eigenen „Porträte des Provinztheaters“ Kerr „in innigster Verehrung und Dankbarkeit“. Räumt wenig später seine tiefe Irritation ein, die Kerr zu Beginn des Ersten Weltkrieges in ihm auslöste: „Liebe, die blind ist, auf eine eigene Meinung verzichtet, Gegensätzlichkeit und Schatten verschweigt, ist keine wahre Liebe. Menschen, die – bei aller Freundschaft – bisweilen nicht das oder jenes aneinander auszusetzen hätten und miteinander in Konflikt gerieten, dürften keine Persönlichkeiten sein.“ Kerr blieb nicht lange auf dem Kriegspfad, sein Verehrer aber glaubte: „Dauernden Einfluss und Zukunft kann immer nur haben eine Kritik, die vom Leben herkommt und von einem kongenialen Dichtertum.“ Und genau das fand Max-Hermann-Neiße bei Alfred Kerr: „Er zeigte uns, dass Kunstkritik Dichtung sein kann, die mitten im Leben steht.“ Ja, tatsächlich: Begeisterung kann klug sein statt blind, das hält ihre Urteile frisch.

Bei Marcel Reich-Ranicki lesen wir: „Viele seiner stilistischen Unarten sind ebenso unerträglich wie manche seiner exaltierten Aufschreie. Aber er hat die Sprache der Kritik bereichert und gesteigert: Ihre Melodie ist unverwechselbar. Er war ein bunter, ein fast exotischer Vogel – nämlich ein Manierist und ein Volksautor, beides zugleich und in einem.“ Robert Musil beendete seinen Geburtstagsgruß so: „Kerr war von seinem ersten bis zu seinem letzten Kampf der unübertreffliche Kenner aller falschen Töne in piano und forte, hoch und tief. Aber er hatte auch das Glück, in einer Zeit zu leben, die geeignet war, sein Talent zu einer immer reicheren Blüte zu entfalten.“ Neunzig Jahre später, am heutigen 150. Geburtstag Kerrs, soll ihm selbst das letzte Wort gehören, gedruckt am 18. September 1932, er hatte eben Gerhart Hauptmanns „Rose Bernd“ gesehen im Deutschen Theater, mit Gertrud Eysoldt, mit Eduard von Winterstein, mit Eugen Klöpfer, Regie führte Karlheinz Martin: „Der Unterschied zwischen einem Zeitdichter und einem Dichter besteht, außer andrem, darin: dass bei dem Verschwinden eines zeitlichen Missstands auch das Zeitdrama verschwindet. Dass jedoch ein Dichterdrama noch dann lebt, wenn die zeitlichen Anschauungen verstorben sind, unter denen es empfangen wurde.“ So ruhet denn sanft, zeitliche Anschauungen!


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