Fritz Usinger: Marie Luise Kaschnitz

Wie erinnert man an einen Mann, den wohl kaum jemand kennt, wenn man ihn selbst nicht kannte lange Zeit, ihn bis heute streng genommen immer noch nicht wirklich kennt? Fritz Usinger ist am 5. März 1895 geboren, damit ist der Tatbestand seines 125. Geburtstages just heute erfüllt. Usinger war, als der Georg-Büchner-Preis nach dem Krieg noch ein rein hessischer Regionalpreis war, der Preisträger des Jahres 1946. Später hat er noch andere Würdigungen erfahren. Er war Träger der Medaille der Humboldt-Gesellschaft, des Großen Bundesverdienstkreuzes, Ehrenbürger seiner Geburtsstadt Friedberg in Hessen. Jeder in Ehren ergrauende Jung-Lyriker hat heute mehr Preise und Stipendien aufzuweisen, ehe noch sein erstes Buch von irgendjemandem außer ihm selbst und seinen Verwandten ersten und zweiten Grades wahrgenommen wurde. Ob das gegen Fritz Usinger spricht, mag dahingestellt sein. Liest man eine Namensreihe von Männern, mit denen er befreundet war, dann gewinnt seine geringe Popularität weiteres Profil. Befreundet war er mit Henry Benrath, Gustav Hillard, Karl Wolfskehl, Alfred Mombert, Wilhelm Michel, Hans Schiebelhuth, Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorff und Hans Arp. Wer kennt die noch und kannte sie je? Zuckmayer ragt als einziger wirklich heraus. Womit nichts gegen Arp oder Wolfskehl gesagt sein soll.

Elsbet Linpinsel, 1901 in Hagen geboren, nach Jahren im Schuldienst als freie Autorin in Dortmund tätig, wo ihr im November 1976 in der Stadtbücherei eine Ausstellung anlässlich ihres 75. Geburtstages gewidmet wurde, mehr biographische Daten sind mir leider nicht vor Augen gekommen, hat 1971 „Marie Luise Kaschnitz. Leben und Werk“ publiziert mit einer 480 Positionen verzeichnenden Bibliographie. Darin taucht der Name Fritz Usinger exakt dreimal auf. Zuerst mit seiner Arbeit „Die Dichterin Marie Luise Kaschnitz“, publiziert in „Deutsche Rundschau“ 84 (1958), Heft 6, dann „Die Dichterin Marie Luise Kaschnitz. Zu ihrem 60. Geburtstag“, gedruckt in „Der Literat“ 4 (1961), Heft 1 und schließlich noch einmal mit der erstgenannten Arbeit. Die doppelte Nennung hat mit der ehrenwerten Akribie deutscher Bibliographien zu tun: zuerst ist Usinger Autor einer der eigens aufgeführten Gesamtdarstellungen. Die bewertet Linpinsel mit ihrer Aussage: „Grundlegende Arbeit mit Analysen zu Inhalt, Stil und Sprache“. Den gleichen Text ordnet sie auch den Spezialabhandlungen zur Lyrik zu. Dort lautet die Wertung: „eine fundamentale Deutung, auf deren Kenntnisnahme kein Freund dieser Dichtung verzichten sollte, kein Bearbeiter verzichten kann“. Der Geburtstagsbeitrag gilt Linpinsel als „Subtile Deutung der frühen Dichtung“.

Soweit ich mich also als Freund der Dichtung von Marie Luise Kaschnitz sehen darf, sollte ich auf Fritz Usingers Arbeit nicht verzichten. Können kann ich natürlich, aber wollen will ich nicht. Usinger starb am 9. Dezember 1982 in Friedberg, seiner Geburtsstadt, wo er nicht nur Ehrenbürger ist, auch ein Platz trägt seinen Namen. Und am Sonntag, 8. März, wo andernorts der Internationale Frauentag begangen wird, können Interessenten eine Matinee besuchen, ausgerichtet anlässlich des heutigen 125. Geburtstages, gestaltet hauptsächlich von der Friedberger Schauspielerin Monika Keichel, die eine kommentierte Werklesung vortragen wird, wie ich der „Wetterauer Zeitung“ entnahm. Die Hamburger ZEIT begann ihren knappen Nachruf auf Usinger in ihrer Ausgabe vom 17. Dezember 1982 mit dem Satz: „Einer von den Stillen ist gegangen, die für die deutsche Literatur, ihr Ansehen und ihre Weltläufigkeit viel getan haben: Fritz Usinger.“ Nachruf-Autor R. M., vermutlich Rolf Michaelis, zitiert aus Usingers spätem Gedicht „Keiner“: „Keiner kannte ihn. / Keiner nannte ihn. / Nach Jahrhunderten / Sagte der Himmel. / „Keiner!“. Was resignierend klingt, ist große Hoffnung: Nach Jahrhunderten! Es gibt von ihm in sechs Bänden die „Friedberger Ausgabe“, erschienen in der Waldkircher Verlagsgesellschaft, die Bände 5 und 6 enthalten Essays.

Der von mir stets in zweiter Linie aus lokalpatriotischen Gründen gern zitierte Friedrich Michael schrieb 1948 in einem Beitrag für die Allgemeine Zeitung Mainz unter der Überschrift „Der hot-Vogel und die vergifteten Sommer“ dies: „Was ist das, was da mein Ohr entzückt? Töne der Jazz-Musik, geliebt allen Anfechtungen derer zum Trotz, die nicht begreifen, dass man Bach und Mozart und die ganze große abendländische Musik lieben kann, aber daneben auch und dazu diese neue Musik so völlig anderer Art. Wie schön, dass ein Dichter wie Fritz Usinger sich vor einiger Zeit in einer „Kleinen Biographie des Jazz“ ausdrücklich zu dieser Musik bekannt hat.“ Das war 1948 in der Tat noch herauszuheben, denn die Jahre 1933 – 1945 hatten den Jazz, wenngleich mit wenig durchschlagendem Erfolg, auf ihrem Index. Man kann Erinnerungen und Dokumente dazu in einer Text-Sammlung des Leipziger Reclam-Verlages von 1994 finden, Titel „Heinrich Himmler und die Liebe zum Swing“. Das 55 Seiten starke Heft Usingers, 1953 gedruckt in Offenbach am Main, kannten die Leipziger Herausgeber offenbar nicht, es wird auch nicht in der weiterführenden Literatur dort genannt. Vor Jahresfrist hielt Wolfram Knauer, Direktor des Jazz-Instituts Darmstadt, in Friedberg mit großem Erfolg seinen Vortrag „Fritz Usinger und der Jazz der Nachkriegsjahre“.

Gerhard Kollmer, der kommenden Sonntag die Matinee eröffnen wird, schrieb darüber in der „Gießener Allgemeinen“: „Wolfram Knauer gehört zu den Referenten, denen man stundenlang zuhören möchte.“ Was mir die Gelegenheit gibt, von Fritz Usinger zu sagen: Er gehört zu den Unbekannten, die man stundenlang lesen kann, wenn man einmal Bekanntschaft mit ihm gemacht hat. Wobei ich hier (für mich) von den Essays rede. Speziell für den heutigen Tag eben von „Marie Luise Kaschnitz“, zu finden im Band 6 der Friedberger Ausgabe, dort leider ohne genaue Quelle nachgedruckt, was letztlich insofern nicht sonderlich schlimm ist, als die Ausgabe insgesamt ihrem Selbstverständnis nach dazu dient, Leser an den Dichter heranzuführen, irgendeine Vollständigkeit also gar nicht erst anstrebt, geschweige denn einer historisch-kritischen Edition vorgreifen möchte. Die Buchtitel der Kaschnitz, auf die Usinger näher eingeht, reichen nur bis „Engelsbrücke“ (1955) und „Das Haus der Kindheit“ (1956), von den Gedichten ist „Donauwellen 1956“ als spätestes zitiert, damit fällt der Essay in die Zeit von Ende der fünfziger Jahre. Auch wenn Marie Luise Kaschnitz bis zu ihrem Tod am 10. Oktober 1974, also gut acht Jahre vor dem sechs Jahre älteren Usinger, noch einige sehr gute Bücher veröffentlichte, hat der Essay etwas Abgeschlossenes.

Ich zitiere zunächst zwei superlativische Sätze: „Es gibt kein deutsches Buch in Vers oder Prosa, in dem Rat und Unrat dieser Epoche getreuer eingefangen wären als in diesen „Gedichten zur Zeit“. Auf nur dreißig Seiten Text ist Marie Luise Kaschnitz diese Wort-Verdichtung eines Zeitalters völliger äußerer und innerer Obdachlosigkeit gelungen.“ Und: „Niemand hat den Untergang einer Stadt besungen wie sie den der Stadt Frankfurt am Main. Für dieses Denkmal der Gedichtfolge „Rückkehr nach Frankfurt“ ist ihr die Stadt Frankfurt eigentlich ein Denkmal schuldig.“ Usinger beobachtet an den frühen Gedichten von Kaschnitz und in zweifelsfreier Kenntnis der lyrischen Entwicklung der ersten zehn Nachkriegsjahre ein Phänomen, das weit über sich selbst hinausweist. „Die epochale Gegenwart des Leidens wird langsam von einer ewigen Gegenwart der Lebenskräfte besiegt. Noch etwas gehört zu der geheimsten Psychologie dieser Gedichte: den Beschwörungen der furchtbaren Zeit ist immer eine geheime Sehnsucht nach ihr beigemischt, weil in ihr das Menschliche kondensiert war wie niemals sonst, unendlich viel dichter und spürbarer als in den gefahrlosen Zeiten.“ Allein wegen dieser beiden Sätze verdient Fritz Usinger aus seiner Friedberger Gedenknische herausgeholt zu werden. Denn er hat ein Geheimnis enthüllt, dem bis heute viele vollkommen ratlos oder mit unendlich dummen Erklärungen gegenüber stehen, viel zu viele.

Man sollte, meine ich, Wort für Wort diese beiden Sätze mehrmals hinter einander lesen und bedenken, was da gesagt ist. Fritz Usinger, meine ich, formuliert mit einer ganz und gar unaufdringlichen Endgültigkeit Erfahrung und Umgang mit Diktaturen im Vollzug derer, die sie überstanden, überlebt haben. Wer, um die Gegenwart des am 3. Oktober 2020 seit 30 Jahren vereinte Deutschland heranzuziehen, noch immer nicht versteht, was ehemalige DDR-Bürger immer wieder auf diese ehemalige DDR zurückverweist, dem ist angesichts dieser fundamentalen These von der beigemischten geheimen Sehnsucht eigentlich nicht mehr zu helfen. Er versteht gar nichts, er labert Blödsinn von Nostalgie oder Undankbarkeit den Herrlichkeiten der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gegenüber. Es geht nicht um rückwärtsgewandte Sehnsüchte nach einer wie auch immer heimelig erlebten Diktatur. Selbst die Nazizeit hatte Heimeliges, wie gerade Literatur immer wieder zeigen musste, wenn sie etwa „Kindheitsmuster“ ausbreitete. Und so war es mit der DDR. Noch das entrüstetste Gerede vom Unrechtsstaat kann just das Phänomen nicht wegreden, das Fritz Usinger mit sicherem Griff, in sicherer Sicht erfasste, als er scheinbar nur von Marie Luise Kaschnitz handelte. Die Kondensation des Menschlichen in gefahrvollen Zeiten!

Man kann, um nur einen einzigen weiteren Seitenblick weit weg von Usinger und Kaschnitz zu machen, in der Sowjetliteratur der Spätzeit vor und mit Gorbatschow just dieses Phänomen finden: erzählt über Offiziere, die nach dem Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ plötzlich vor einem erlebten Nichts, einer erlebten Leere standen und sich eben dieser geheimen Sehnsucht erliegen fühlten. Zurück zu Usingers Sätzen: „Die Bedrängnis der zusammengepferchten Menschen nach dem Kriege ist der Verlust der Stille. Und wehe den Träumenden, sich sich auszuschalten suchen! Nicht der Traum von der Totalität hilft, sondern die Verwirklichung des Teils. Angst ist nichts als der umgekehrte Erlösungswunsch nach Ruhe und Frieden. Angst ist nicht von heute, Angst ist von immerdar.“ Usinger lobt an Kaschnitz, dass bei ihr sowohl die Natur als auch das Schöne nicht nur metaphorisch herangezogen werden: „Darum stürzt die Dichtung der Marie Luise Kaschnitz niemals in den Nihilismus.“ „Die Welt wird nicht auf ihre Idealität hin gesehen, auf das in ihr angelegte Mögliche und Große, sondern rein auf ihren realen Bestand“. Ob ein Weibliches aus ihr spricht, schreibt und denkt, wie Usinger es versucht zu sehen und zu beschreiben, wäre gesondert zu durchdenken, viel spricht dafür, dass er recht hat, und zwar keineswegs nur, weil Kaschnitz Frau ist.

„Die innere Einheit des Werkes von Marie Luise Kaschnitz zeigt sich auch darin, dass ihre Prosabücher dieselben Wesenszüge aufweisen wie ihre Gedichtbücher.“ Bezogen auf „Griechische Mythen“ (1943), „Gustav Courbet“ (1949, später unter dem Titel „Die Wahrheit, nicht der Traum. Das Leben des Malers Courbet“), auf „Das dicke Kind“ (1952), auf „Engelsbrücke“ (1955) und, schon erwähnt, „Das Haus der Kindheit“ (1956) diagnostiziert Usinger: „Obwohl das Mystische sie tiefer anspricht als das Geschichtliche, hat sie dennoch einen ungemein genauen und präzisen Blick für das jeweilig Gegebene, einen niemals zurückschreckenden und fast grausamen Realitätsblick“. Das lässt sich an der in zahlreichen Ausgaben vorliegenden Kaschnitz-Prosa sehr leicht prüfen, ich unterschreibe es, ohne zu zögern. Und nehme zugleich als ein Versprechen an mich als Leser, was ihm bei Kaschnitz gelang, auch dort zu liefern, wo er über Edgar Allan Poe schrieb oder Walt Whitman, wo er die porträtierte, die seine Freunde waren: Alfred Mombert, Wilhelm Michel und Henry Benrath, die er mit Kaschnitz in Zusammenhang brachte wie Annette von Droste-Hülshoff. Und natürlich kannte er seinen Goethe (Goethe, Genius der Weltwende, 1947), seinen Schiller (Friedrich Schiller und die Idee des Schönen, 1955). Auf Fritz Usinger komme ich sicher zurück.


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