Brigitte Reimann 80

Nach ihrem vierzigsten Todestag am 20. Februar war ich vollkommen sicher, worüber ich zu ihrem heutigen achtzigsten Geburtstag schreiben würde. Die Idee war brauchbar, das gesammelte Material mehr als ausreichend, der sich daraus bietende Stoff hinreichend aufregend, um Vorfreude zu erzeugen, die nicht der schlechteste Arbeitsantrieb ist. Es liegt also auf der Hand, warum ich heute genau das alles nicht schreibe. Ich habe inzwischen sehr viele Briefe, sehr viel Tagebuch von ihr gelesen, ich habe mein Archiv bemüht und mein Fazit hat eine mich durchaus deprimierende Seite bekommen. Meine mir unerschütterlich erscheinende Überzeugung, ein Autor könne nicht tatsächlich wichtig sein, wenn er nicht tatsächlich gut ist, hat bedenkliche Risse bekommen. Denn wie könnte man dieses fortdauernde Interesse an Brigitte Reimann, an immer neuen Details ihres Lebens (eben kaum ihres Werks) anders erklären als mit ihrer Wichtigkeit? Es ist die Wichtigkeit des Exempels, das sie darstellte. Sie ist in einem sehr viel umfassenderen Sinn exemplarisch, als man das bisher wohl hat wahrnehmen wollen.

Es ist ja nicht Koketterie, gar Selbstkritik im Sinne von Wilhelm Busch, wenn sie mit schöner Regelmäßigkeit an ihren eigenen literarischen Fähigkeiten zweifelt. Wenn sie wieder und wieder mit Blick auf ihren zweiten Ehemann Siegfried Pitschmann dessen größere Begabung betont. Sie behilft sich mit variablen Argumenten, aber all der auf Jahre hin ausreichende Ehrgeiz, den sie auf das Projekt richtet, das schließlich den Romantitel „Franziska Linkerhand“ bekommt, ist nur erklärbar mit dem unbedingten Willen, es sich, zuerst sich, dann aber zügig auch allen anderen zu beweisen. Sie ist mit ihrer Franziska fast so dauerhaft unzufrieden, wie Pitschmann immer mit all seinen Texten, die Bereitschaft der frühen Jahre, einen Stand gelten zu lassen, wird geringer, wenn gleich nicht in linearer Zunahme. Ihre privaten Zeugnisse sind bis zum traurigen Ende ihres frühen Krebstodes eine fast geschlossene Kette von Nachrichten des Neuanfangs, des Wegwerfens. Wie lange und allein oft vom ersten Kapitel die Rede ist, selbst langsamste Schreiber sind da längst weiter als sie, es ist ein auch dem späteren Leser Qual bereitender Prozess.

Nach den unendlichen Flurschäden, die die so genannte deutsch-deutsche Literaturdebatte anrichtete, die ihren Ausgang an Christa Wolf nahm, die, eben noch als Nobelpreis-Kandidatin gehandelt, plötzlich zum Musterexemplar aller DDR-Jämmerlichkeit wurde für die Literaturkritik produzierenden Alphamänner der neuen deutschen Nation, brauchte die Öffentlichkeit möglichst unverdächtige und dennoch nicht bis dahin völlig unbekannte Namen aus der in der DDR entstandenen Literatur. Das ewige Jonglieren mit den Exponenten des Prenzlauer Berges, die streng genommen ja alle nur für ihren eigenen geschlossenen Kreis schrieben und ihre eigenen Propheten und Apostel hatten, lieferte kein Reservoir an potentiellem Versöhnungslob. Kurzzeitig war Strittmatter als „Laden“-Mann geeignet, der sogar für gesamtneudeutsche Fernsehfilm-Versöhnlichkeiten die Geschichte lieferte. Dauerhaft kompatibel war fast von Beginn an Günter de Bruyn, der sich die Preußen-Nische schon in der DDR gesucht hatte und zum Erstaunen aller (im Westen) tatsächlich einer war, der konnte. Anders als Heym oder Loest, die in meinem Nicht-Sinn wichtig waren.

Und plötzlich, plötzlich war da Brigitte Reimann. Lange tot, bevor sie die Biermann-Petition hätte unterzeichnen können, nie durch Proteste gegen den 68er Einmarsch in die CSSR aufgefallen, Fritz J. Raddatz hatte sie noch zu ihren Lebzeiten unter die Unterhalterinnen gestuft, damit fiel sie als trivial aus den Kriterien bundesdeutscher Literatur-Rasterfahndung eigentlich für immer heraus. Von all den internen Querelen erfuhr man ja nichts, bis die Tagebücher da waren, bis die Briefbände nacheinander Band um Band erschienen. Selbst in der DDR war, allen anders lautenden Bekundungen entgegen, Brigitte Reimann vor allem die mit dem Titel „Ankunft im Alltag“ (ursprünglich sollte das Buch  trocken „Die Abiturienten“ heißen) verbundene Lieferantin eines Schubladenetiketts: der Ankunftsliteratur. Die Verlage, in denen Reimanns Bücher erschienen, waren nicht die, in denen man das ganz große Renommee gewann, sie selbst sah die „Ankunft“ ja lange bezeichnenderweise als „Mädchenbuch“ (so ist meine Ausgabe auch aufgemacht).


1965 war das Erscheinungsjahr ihres letzten Buches zu Lebzeiten, die „Franziska“ kam als zensuriertes Fragment erst 1974 nach ihrem Tod heraus und soll, der immer wieder und immer neu nervend zitierten Freya Klier zufolge, ein Kult-Buch gewesen sein. Ich muss in einer anderen DDR gelebt haben oder verbinde unpassenderweise noch heute Worte mit „Kult“ vor allem mit solch unsäglichen Albernheiten des Westens, wo Leute mit Reistüten und Strapsen fortlaufend in einen verklemmten Film namens „Rocky Horror Picture Show“ gingen, in dem es, zugegeben, immerhin eine ansehnliche Susan Sarandon gab. Dann war Brigitte Reimann im Grunde nicht mehr präsent für die Öffentlichkeit. Der Trost, den Annemarie Auer der schon todkranken Reimann mit Blick auf diese lange Zeit gibt, liest sich heute, als sei ihm etwas Gift beigemischt. Überhaupt wäre die sonderbare Beziehung dieser beiden Frauen ein kleines, feines Sonderthema. Man lese den gegen Auer extrem bösartigen Brief Brigitte Reimanns an Hermann Henselmann vom 9. März 1968. Und lasse danach den Austausch der Krebs-Leidensgefährtinnen folgen, der in ärgerlicher Unvollständigkeit in der Briefesammlung „Was zählt, ist die Wahrheit“ im Mitteldeutschen Verlag 1975 abgedruckt ist.

Und nun auf einmal, der nachwendliche Aufbauverlag war Profiteur, eine Reimann-Renaissance, die bis heute alles übertrifft, was ihr zu Lebzeiten geschah. Natürlich sind auch die alten Bücher neu erschienen, natürlich gibt es die ungekürzte Neuauflage der „Franziska Linkerhand“, zwei vorher unveröffentlichte Fragmente auch als Taschenbuch. Aber die eigentliche Marktsensation waren die beiden dicken Tagebücher-Bände. Herausgeberin Angela Drescher hatte noch viel Arbeit mit dem Verheimlichen der Klarnamen von drei der vier Reimann-Ehemänner. Inzwischen ist selbst des Gatten Nummer III Name, der sich auch als IM betätigte, allseits bekannt und verfügbar: Hans Kerschek. Die Tagebücher dokumentieren einen atemberaubenden Männerverschleiß, einen alles Maß überschreitenden Alkoholverbrauch, der sich auf harte Sachen in unvorstellbaren Mengen konzentriert und der Privatmythologie folgt, Wein sei etwas für ältere Leute, wie es irgendwo höchst bezeichnend heißt.

Man kann Brigitte Reimann alles vorwerfen, was das Herz begehrt (ihre kurzzeitige Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit wird übrigens mit frappierender Großzügigkeit gerade seitens der sonst größten Beckmesser als Folge von Erpressung locker toleriert, andere Autoren wären da zumindest vorübergehend an die Wand genagelt worden), aber Unehrlichkeit gegen sich selbst nicht. Sie hat die gar nicht so unverschämt häufig vorkommende Eigenschaft, sich selbst wie von außen sehen zu können und so hat sie auch in ihrer Erkrankung an Kinderlähmung für sich selbst eine wohl zutreffende Erklärung für ihren nachholenden Lebenshunger in allen Dinge der Jugendlichkeit. Am Ende des ersten Tagebuchbandes hat man die schwer abweisliche Vorstellung einer in Reih und Glied angetretenen männlichen DDR-Literatur der Geburtsjahrgänge 1920 bis 1934, aus der beim Befehl: Alles vortreten, was nie etwas mit Brigitte Reimann hatte, sich niemand nach vorn getraut hätte.

Jetzt hat der doch nicht immer fixe SPIEGEL dem jüngsten Briefband zwei volle Seiten gewidmet (andernorts war das Buch schon im März besprochen worden), mit dem Ergebnis, dass das im Internet eben noch als „sofort lieferbar“ deklarierte Buch nun zwei Wochen Wartezeit erheischt. Jahre nach dem Abgang von Stefan Aust, der eine Lehrzeit bei den St. Pauli Nachrichten hatte, bedient Volker Hage noch immer tapfer die alte Hausphilosophie. Er hebt am Briefwechsel von Brigitte Reimann und Gatte Nummer II, Siegfried Pitschmann, fast ausschließlich das Sexuelle heraus, weiß als Besprecher der Tagebücher freilich, dass das auch bezüglich Pitschmann nicht ganz überraschen kann, schon Angela Drescher hatte, wo es ging, an Deutlichkeit nichts zu wünschen gelassen. Es stellt sich, und zwar keineswegs nur mir jetzt, weil ich eben über die Katzenfütterin in Helga Königsdorfs „Die Entsorgung der Großmutter“ schrieb, die Frage, ob wir wirklich ein legitimes Interesse an den Sexualpraktiken unserer Schriftsteller haben sollen.

Es lässt sich der Verdacht nicht leugnen, jetzt endgültig nicht mehr, dass uns alles von Brigitte Reimann, was nicht eigentliches literarisches Werk ist, massiv in die Rolle von Voyeuren drängt. Man muss ja nicht wirklich Phantasie haben, um sich zu denken, was Pitschmann mit Reimann trieb und wie und was dann als Steigerung Hans Kerschek neu einführte ins nachttägliche Treiben. Wir gönnen der Frau mit den Mongolenaugen, die ihre eigenen Brüste offenbar schon zu einer Zeit zu groß fand, als Verkleinerungsideen noch maximal selten waren, und sich tatsächlich einer Operation unterzog, jeden Spaß, jedes Vergnügen. Mögen die Wände in Hoyerswerda gewackelt haben, wenn sie ihren multipel orgastischen Urschrei ausstieß, doch muss dies eine Öffentlichkeit beschäftigen, die sonst nicht einmal zuckt, wenn irgendein Schlaumeier „Die Geschwister“ gedanken- und ahnungslos als „Pendant“ zu Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“ bezeichnet?

Der achtzigste Geburtstag soll Gelegenheit sein, die Herausgeber dennoch zu loben (Einschränkung in einem allerdings wichtigen Punkt: Kristiana Stella, die 23 Jahre nach 1990 IM immer noch mit „Informeller Mitarbeiter“ übersetzt), die Apparate der Brief- und Tagebuchbände erlauben spezialisiertes Suchen nach Namen. Brigitte Reimann ist unfreiwillig zur literaturgeschichtlichen Fundgrube geworden mit ihren Urteilen und Verdikten, mit ihren Plaudereien und Naivitäten. Für diverse Fleißarbeiten reicht das Material, sollen adressatenorientierte Darstellungen gleicher Sachverhalte verglichen werden. Was an Mutter und Vater geht, was an die Freundin aus frühen Krankheitstagen, Irmgard Weinhofen. Der Liebes- und Ehebriefwechsel mit Siegfried Pitschmann, dem Daniel aller sonstigen Bücher, fügt mehr als eine Facette hinzu. Und vielleicht hat Volker Hage, der 1998 an den Tagebüchern durchaus mehr hätte entdecken können, als er entdeckte, sogar noch Wirkung auf eine temporäre Pitschmann-Nachfrage, an der ja wenigstens die Antiquariate zwischen Flensburg und Rosenheim partizipieren könnten.

Zu den Überraschungen, die Tagebuchband 2 mir bereitete, gehört als mir wichtigste die: Wir hatten, ohne uns je begegnet zu sein, einen gemeinsamen Bekannten. Unter dem 19. Oktober 1969 notierte Brigitte Reimann: „Nachmittags war Sakowski hier, er brachte eine Flasche Kognac mit, wir haben getrunken und erzählt, und er war sehr lieb. Endlich hat er gemerkt, daß sein Sohn Frank – der Älteste, der auf einer Offiziersschule ist – bedrückt und von seiner Berufswahl nicht überzeugt ist. Herrje, was für ein Vater! Und wie schwierig für so einen Jungen, Sohn eines Prominenten zu sein.“ Gut zwei Jahre später war der bedrückte Frank Sakowski mein Zugführer als Leutnant Sakowski. In meinem „Kulturschock NVA“ ist etwas darüber nachzulesen. Mein Text zu Reimanns Sibirien-Tagebuch ist unter BÜCHER BÜCHER zu finden, Erscheinungstag 20. Februar 2013.


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