Unfassbarer Unfug

Hinten am Artikel steht: „Nico Schmidt schrieb im Freitag zuletzt über eine Fotoausstellung zu Tschernobyl.“ Das erklärt ein wenig seinen seltsamen Versuch mit dem Titel „Unfassbares Gesicht“ in der nämlichen Wochenzeitung. Macht ihn aber nicht besser. Denn das Gesicht Heinrich von Kleists ist im Kleist-Jahr 2011 mit größter Sicherheit das geringste aller Problem. Nur mediale Visualisierungsgier puscht dergleichen auf. Ist irgendjemand je auf die alberne Idee gekommen, von Homer oder Shakespeare zu behaupten, sie wären immer noch die großen Unbekannten, nur weil wir kein verlässliches oder gar kein Bild von ihnen besitzen?

Schmidt weckt mit seinen Formulierungen wiederholt einfach nur falsche Vorstellungen. Kurios ist beispielsweise keineswegs die Zahl an Kilometern, die Kleist in seinem kurzen Leben reisend zurückgelegt hat. Kurios ist, dass es jemand ausrechnete. Dergleichen unternehmen bei Klassikern gern Heimatforscher, die dann mit dem bisher unveröffentlichten Zähl-Ergebnis die Goethe-Gemeinde beglücken. Allerdings nur den Teil dieser Gemeinde, der es aufregend findet, dass Goethe das Rathaus zu, sagen wir Wernigerode, schon halb acht und nicht, wie von der Forschung bisher weitgehend übereinstimmend angenommen, kurz vor acht verließ. Für Goethes Harzreisen besagt das am Ende zwar weniger als nichts, aber das war letztlich auch der tiefere Sinn. (Für Goethefreunde sei angemerkt: das Beispiel ist frei erfunden, harte Gegenrecherche zwecklos.)

Die gefühlten vierhundert Kleistbiographen der Jahre seit Eduard von Bülows erstem Versuch 1848 haben sich kaum einfallsloser verhalten als die tausend realen Fernsehsender Zentraleuropas, die jeden, aber auch wirklich jeden BSE-Bericht mit der offenbar einzigen jemals gefilmten BSE-Kuh illustrierten. Wenn es nur ein wirklich echtes Porträt gibt, ist die Auswahl wie bei großen Volkswahlen in Einparteien-Systemen: Nehmen oder nehmen. Ob wir den armen Kleist auch noch der Postmoderne zuschlagen müssen, nachdem sich zwei Eisenbahnwaggons mit Literatur füllten, die ihn der Moderne zuschlugen und das schon wild genug fanden, ich will es bezweifeln.

Dass es von Kleist keinen materiellen Nachlass gibt, mag Ausstellungskommentatoren grämen, andererseits bin ich ehrlich, das Babymützchen Schillers oder seine Tabaksdose in den einschlägigen Dauerausstellungen haben mir weder die RÄUBER noch ÜBER DEN GEBRAUCH DES CHORS IN DER TRAGÖDIE näher gebracht, das waren dann doch schon die Texte selbst. Wäre Kleist zu Lebzeiten auch nur annähernd so berühmt gewesen wie Schmidts Gegenzeugen Thomas Mann oder Goethe, dann hätten sich auch die Grundschullehrer gefunden und die Großtanten, die es schon immer wussten und deshalb alles aufhoben.

Die tatsächlich wunderbare Kleist-WG in der Großen Oderstraße 26/27 zu Frankfurt/Oder in den Räumen der nachwendlichen Schulverwaltung der Stadt sagt nur dem Besucher etwas, der den großen Unbekannten ziemlich genau kennt. Die Ambitionen der jungen Menschen (fast ausschließlich Mädchen übrigens, wenn ich mich recht erinnere), die die Räume gestalteten, erschließen sich keineswegs automatisch und im Vorübergehen. Besseres konnte der Stelle kaum geschehen, an der früher das Geburtshaus stand, an das nur noch eine einfache Tafel erinnert. Es macht Spaß, sie zu sehen, deutlich mehr Spaß als eine abstruse Fernsehdokumentation, die auf die saudumme Idee gekommen war, nach Mord oder Selbstmord bei Kleist zu fragen, obwohl diese Frage nie auch nur eine Nanosekunde stand. Nur um den schließlich arg biederen und dürftigen Film interessant zu machen, für den sich leider auch durchaus namhafte Experten einspannen ließen.

Und dann, Nico Schmidt, die unverzeihliche Behauptung, Goethe habe Kleist des Schreibens unfähig genannt. Das hat er nicht und niemals und nirgends. Da ist offenbar ein ganze Spezialliteratur zum Großen Unbekannten und seinem Verhältnis zum Größten Bekannten tapfer ignoriert oder aber vollkommen missverstanden worden. Und Wieland, der Kleist in einem einzigen Brief, auf den er nie wieder und niemandem gegenüber je zurückgekommen ist, das freilich höchste Lob zollte, das ihm bis heute je gezollt worden ist, auch den kann man eigentlich nicht so einfach anpappen hinten an einen Beitrag, der nicht weiß, was er wollte..

Dass die beiden Kommentare aus der Community zum Artikel sein Niveau halten, sei resignierend vermerkt, deren Verfasser verbergen sich immerhin community-typisch hinter den üblichen albernen Tarnbezeichnungen. In altertümlichen Printmedien fliegen solche Sachen in den Papierkorb, es sei denn, derjenige, der Kohlhaas zum Protestler macht, seine Schreibweise aber nicht einmal kennt, unterzeichne mit vollem Namen und gebe der Redaktion zur Sicherheit, dass es sich nicht um einen gezinkten Leserbrief handle, seine Daten an.

Zum Schluss ein kleines Stoßgebet: Lieber Gott, lass wenigstens einmal einen dieser Schreiber nicht ein Wort wie Diskurselement verwenden, lähme ihm die Hand, wenn er den dritten Buchstaben geschrieben hat. Lähme ihm die Hand.


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