Ohne Arnstadt, ohne Stasi

Aktuell bin ich natürlich nicht mit meinem Blick in die fette Beilage „60 Jahre Freies Wort. Südthüringens starke Seiten“. Ich habe mich vor ein paar Jahren entschieden, das Blatt abzubestellen, bei dem ich von 1992 bis Anfang 2005 mein Vollkornbrot verdiente. In dessen Diensten ich einen Herzinfarkt erlitt (Krankenbesuch aus Suhl Fehlanzeige, ich fehlte ja nur fast ein halbes Jahr), dessen Chefredakteure mir nicht zum fünfzigsten Geburtstag gratulierten, weil sie, wie der noch vorhandene Stellvertreter später „entschuldigend“ bekundete, nicht wussten, wo ich feiere. Dergleichen feiert sich selbst als Rechercheur und war nicht in der Lage herauszubekommen, wo einer der eigenen Lokalchefs sein Jubiläum feiert. Vergessen. Dafür konnte er sich prima Rubriken ausdenken und verfasste im ersten Jahr seiner Anwesenheit im Hause mehr Hausmitteilungen als seine sieben Vorgänger (oder waren es neun?) seit Gründung des Organs. Als Gelegenheitsleser fielen die 44 Seiten Beilage mir jetzt erst in die Hände.

Aber um die alten Geschichten geht es nur in zweiter Linie. Jetzt geht es um dieses Jubelereignis. Die Mehrzahl der auf den vielen Seiten versammelten Mitarbeiter kenne ich nicht einmal dem Namen. Die, die ich kenne, sind mir fast ausnahmslos persönlich sympathisch und wenn ich von ihnen welche treffe, sind wir freundlich zueinander, bisweilen sogar hoch erfreut. Bitte, Herr Stellvertreter, niemanden maßregeln, der hier ohne Namensnennung als bloßgestellt erscheinen könnte, weil er keine Kontaktsperre zu mir respektiert, die es natürlich gar nicht gibt. Ich habe gelernt aus der Beilage. Nicht viel freilich, das gebe ich zu, aber immerhin weiß ich jetzt, dass Gerhard Fuchs gleich zweimal Chefredakteur wurde innerhalb von drei Jahren, bevor dann der ewige Helmut Linke kam. Unter dem ewigen Helmut Linke habe ich volontiert, unter dem ewigen Helmut Linke bin ich so schäbig um meinen bereits sicheren Journalistik-Studienplatz gebracht worden, dass sogar das damalige Ministerium für Hoch-und Fachschulwesen der DDR sich genötigt sah, mir im Beisein von Zeugen den schlechten Ruf Suhls zu bestätigen.

Später war ich herzlich froh, nicht in Leipzig studiert zu haben, ich hätte das wohl kaum bis zum Ende durchgehalten. Immerhin erlebte ich nach dreizehn Jahren Pause eine Phase freier Mitarbeit, die beinahe dazu geführt hätte, dass FREIES WORT die erste Buchbesprechung zu Landolf Scherzers „Der Erste“ veröffentlichte. Natürlich spielt dergleichen in der Selbstfeier jetzt keine Rolle. Obwohl Landolf Scherzer fast zwei volle Seiten füllen durfte. Von den verantwortlichen Feiglingen, die meine Kritik zum Absegnen in die überdimensionierte Bezirksleitung der SED gaben, von wo sie nie zurückkehrte, mimten etliche nach 1990 noch den gewendeten freien Journalismus. Der für Literatur zuständige Duckmäuser starb früh und war keineswegs ein schlechter Mensch. Ich jedenfalls wäre 1990 lieber aufrecht neben einem Kamel durch ein Nadelöhr marschiert, als für ein Blatt zu arbeiten, in dem Tage nach der Flucht aus der förmlichen SED-Abhängigkeit die erste Kolbenheyer-Werbung in den Kleinanzeigen erschien, der neue, halbalte Chefredakteur reagierte auf mein damaliges Schreiben natürlich nicht.

Die nachwendliche Pressegeschichte in der vormaligen DDR führte bekanntlich rasch dazu, dass die gewendeten Platzhirsche aus dem einstigen Neues-Deutschland-Nachdruck-Verbund der SED-Blätter als Überlebende fast allein am Markt blieben, wenn auch arg gerupft, die Abonnentenzahl ging so rasant rückwärts, dass heute selbst seriöse Blätter auf Tarn-Zahlen zurückgreifen, die einfach nur windig sind (die Jubel-Beilage tut das auch). Man nimmt die niedrige tatsächlich gedruckte Zahl, addiert sie mit den noch niedrigeren Zahlen der Blätter, mit denen man einen Anzeigenverbund bildet, der auf große Zahlen wegen des forderbaren Anzeigenpreises angewiesen ist, dann multipliziert man die Zahl der körperlich existierenden Zeitungen mit einer fiktiven Zahl von Lesern, die nach jeder einzelnen Zeitung greifen. Mein FREIES WORT etwa wird zunächst von der Zustellerin ergriffen, dann von der Vermieterin meiner Mutter, dann von meiner Mutter, dann von meinem Sohn, der es bei Oma eintütet und eine oder zwei Wochen später bei mir ablegt. Dann greife ich danach, manchmal wegen einer bestimmten Todesanzeige auch meine Frau. Schließlich greift noch einer der Papierdiebe danach, der aus unserem Container sich bedient, um das Altpapier zu Kleingeld zu machen. Das ergibt locker sechs bis sieben „Leser“ pro Blatt, was bei einer Auflage von, sagen wir, 60.000 Zeitungen 400.000 Leser bedeutete. Ganz so viele sind es nicht einmal in den windigen Statistiken, aber man kann auf dem umgekehrten Weg der Rückrechnung ungefähr ermitteln, wie viele Zeitungen tatsächlich noch gedruckt werden.

Gerd Schwinger, der Mann, der es schaffte, über die Jahre ganze Scharen guter Leute aus dem Hause zu ekeln, um dann selbst das Haus verlassen zu müssen ohne eine einzige Zeile der Würdigung (der stille Abgang war nur im Impressum zu verfolgen, keine Nachricht im Blatt wert), ist immerhin erwähnt in der sich über Seiten hinziehenden Chronik. Noch jene beiden lustigen Nachwende-Geschäftsführer, die für sich eine eigene sechste obere Etage hatten bauen lassen auf dem Friedberg, auf der sie sieghaft und expansiv regierten, bekamen sechs oder acht Zeilen auf der Wirtschaftsseite als Nachruf, obwohl ihnen herbe Dinge vorgeworfen worden waren zuvor, die es teilweise zu Schlagzeilen brachten in der Frankfurter Rundschau und hie und da. Zum Glück gibt es Dreißig-Prozent-Gesellschafter, die beim Vermeiden der Arbeitslosigkeit ehemaliger Chefredakteure hilfreich zur Seite stehen können (ob sie es taten, weiß ich selbstredend nicht und will es deshalb auch nicht behaupten). Lustig wäre auf einer der Bildseiten der Beilage der Sonderdruck gewesen, der einem jener erwähnten Geschäftsführer, deren Namen ich vergessen habe, gewidmet wurde, als er das biblische Alter von 40 Jahren erreichte. Er versprach, dem Aufbau Ost auch weiterhin verbunden zu bleiben und einige Journalistinnen bejubelten sein Leben, Wirken und Schaffen, als wäre er der Väter der Völker und der Sohn der Sonne zugleich.

Diesem Herrn verdankt FREIES WORT der Fama nach die wunderbare Fehl-Investition NEUE SAALE-ZEITUNG, bei der immerhin gezeigt wurde, wieviel „Men-Power“, Lieblingswort des vierzigjährigen Führer-Methusalems, wenn er in Flip-Charts blättern ließ von seinen Vasallen, nötig wäre, um eine solide Zeitung im Lokalen zu platzieren. Diese Fehlinvestition, die mit einem wohl einmaligen Deal zurückgenommen wurde, zog als Kollateralschaden das Siechtum jener neuen Lokalausgabe nach sich, die die Beilage wohl ziemlich bewusst vergessen hat, die Ausgabe ARNSTADT. Noch heute bin ich sicher, dass eine Investition a la Saalfeld/Rudolstadt in Arnstadt, wo der Bedarf nach einer anderen Zeitung groß war und die Gebietsreform absehbar, zu einem stabileren Gebilde mit besserer Aussicht geführt hätte. Das halbherzige und verspätete Engagement jedoch, begleitet von teilweise steinerweichend amateurhaften Aktivitäten diverser interner und externer Beteiligter, führte letztlich folgerichtig zur Kurzlebigkeit des Experiments.

In diese Zeit fiel der bis dahin längste Pressestreik der deutschen Nachkriegsgeschichte, den die Mitarbeiter führten, um sich schließlich über Jahre hinweg mit Lohnverzicht und unsäglichen Mengen unbezahlter Überstunden abspeisen zu lassen und rotzlöfflige Undankbarkeit zu erleben für alles. Umgekehrt waren danach Leute, die unter Rädelsführerverdacht gerieten, Arbeitnehmer auf Zeit, solange in Etage sechs eine Niederlage zu verarbeiten war. Die begonnene Aufarbeitung der eigenen Stasi-Vergangenheit im Hause, bis heute noch eine absolute Seltenheit unter den Bruder-Organen von einst, ruhte bis nach dem Arbeitskampf und führte danach über einen längeren Zeitraum zu Ergebnissen. Die Beilage erwähnt nicht einmal die Tatsache als solche in der Chronik, geschweige denn die Folgen. Als Mitglied der unabhängigen Kommission, die sich die Beichten der Akteninhaber anhörte, war ich mit haarsträubenden Dingen konfrontiert, auch mit der Aussage eines späteren und schon längst wieder entschwundenen Geschäftsführers, unerlässliche Konsequenzen betreffend. Natürlich gab es keinerlei Konsequenzen, von zwei minimalen Ausnahmen abgesehen.

Kein Wort in der Beilage über die unendliche Geburtsgeschichte eines eigenen Redaktionsystems, das, wie ein weiterer der inzwischen höchst zahlreichen Interimsgeschäftsführer mir einmal sagte, fünf Prozent schlechter für sechzig Prozent weniger Geld zu haben gewesen wäre. Und so weiter. Ihm habe ich seinerzeit eine echte Thüringer Kloßpresse für seine werte Gattin besorgt, ihm verdanke ich das Erlebnis eines außergerichtlichen Vergleichs, bei dem mehr für mich heraussprang, als ich ursprünglich vor Gericht erstreiten wollte. Wenn ich meine Beilage „60 Jahre Südthüringens starker Ullrich“  veröffentlichen sollte, wird sich die eine oder andere Story aus dem Hause FREIES WORT kaum vermeiden lassen. Ich bin froh, dass es das Blatt fortlaufend gibt, sonst wäre die Sendepause in meiner Rubrik MEDIENBLICK wohl noch länger ausgefallen.


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