Goethe 1814

Auf immer kann Bad Berka für sich in Anspruch nehmen, dass Johann Wolfgang von Goethe 1814 seinen längsten zusammenhängenden Aufenthalt im Ort nahm, immerhin vom 13. Mai bis zum 28. Juni. Alle fünf vorherigen Aufenthalte waren auf einen Tag beschränkt, erst 1818 kam er erneut für länger, dann vom 17. November bis zum 6. Dezember. Als die Nachricht die Runde machte, gab es im Freundes- und Bekanntenkreis keineswegs nur Freude, die Erbprinzessin Karoline zum Beispiel bekannte der Schiller-Witwe Charlotte brieflich, dass sie „mit Schrecken“ vernommen habe, Goethe komme nicht wie erwartet nach Teplitz, sondern reise nach „Berke“, genauer nahmen es die Erbprinzessinnen damals wohl nicht mit den Ortsnamen. Und in der Tat, die Böhmenreise schien bis 1813 tatsächlich zum festen Ritual des Goethe-Lebens zu gehören. In den Jahren 1806 bis 1813 kamen nicht weniger als 679 Tage zusammen, nimmt man die ersten vier Aufenthalte hinzu, dann ergeben sich 802 Böhmen-Tage in Goethes Leben, deutlich mehr als zwei volle Lebensjahre.

Teplitz, wo die Erbprinzessin den Meister zu treffen hoffte, spielte freilich nur in den Jahren 1810, 1812 und 1813 eine Rolle. Nun also „nur“ Bad Berka, wo im März 1813 das Badehaus eingerichtet wurde. Wenn er im Tagebuch lapidar vermerkt: „Gebadet“, wie am 17. Juni, dann heißt das keineswegs, dass er sonst dem mit Wasser verbundenen Akt der Körperhygiene eher abhold war, sondern es bezeugt den vorgeschobenen Zweck der Badereise. Auch das einfache Wort „Vorspiel“ im Tagebuch ist nicht zu missdeuten. Er arbeitete eben am 8. Juni an dem mit „Was wir bringen“ betitelten Vorspiel für Halle, fürs Theatergastspiel also, einbezogen war dabei der bekannte Friedrich Wilhelm Riemer. Das von Iffland in Berlin erbetene Festspiel „Des Epimenides Erwachen“, es sollte der Rückkehr des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm III. aus dem Krieg gelten und bestimmten Plänen zufolge in ganz Deutschland an einem festgelegten Tag gleichzeitig und dann immer einmal im Jahr an diesem Tag gespielt werden, entstand auch wesentlich in Bad Berka.

Wohnung bezog Goethe im „Edelhof“ an der Ilm unterhalb der Kirche, mit ihm waren seine Frau und Karoline Ulrich. Eine ganze Reihe von Gästen nahm die Chance wahr, ihn besuchen zu dürfen, darunter Arthur Schopenhauer, der Philologe Friedrich August Wolf, der Verleger Georg Andreas Reimer, der Verleger Johann Friedrich Cotta, dessen 250 Geburtstag in diesem Jahr mit ganzseitigen Würdigungen in verschiedenen Feuilletons, aber auch auf Wirtschaftsseiten ungewöhnlich umfangreich bedacht wurde. Der Berliner Freund Karl Friedrich Zelter erhielt sogar Gastrecht im „Edelhof“. Goethe beobachtete, wie überliefert ist, das gebremste Liebesverhältnis zwischen der munteren Karoline Ulrich und dem wohl leicht steifen Friedrich Wilhelm Riemer. Eine ganz spezielle Rolle für Goethe spielte der Mädchenschullehrer, Kantor und nebenamtliche Badebetriebsleiter Heinrich Friedrich Schütz, der nicht nur vorspielte, sondern auch ein guter Gesprächspartner in Dingen der Musik wurde. Klar, dass Goethe gerade auf diesen Mann wieder zurückkam, als er erneut eine Reihe von Tagen in Berka zubringen wollte.

Schaut man sich, was immer aufschlussreich ist, die oft arg lapidaren Jahresrückblicke an, die Goethe in den so genannten „Tag- und Jahresheften“ versammelt hat, dann verwundert nicht selten, was ihm wichtig schien und was überhaupt keine Rolle spielte. Für 1814 sind es gerade mal zwei Druckseiten und sie beginnen mit einem Theaterstück von Müllner, von Adolf Müllner (1774 bis 1829), das den Titel „Die Schuld“ trägt. Lexika nennen diesen Müllner einen Fortsetzer der Schicksals- und Schauerdramatik, Goethe gewann dem Stück, das er nicht weiter kommentierte, immerhin pädagogische Wirkung auf seine Darsteller ab. „Die Schuld“ wurde 1813 erstmals aufgeführt, erschien im Druck jedoch erst 1816. In Herbert Krafts Überblicks-Darstellung „Das Schicksalsdrama“ lässt sich manches zum Gegenstand nachlesen. Goethe deutete gelungene Aufführungen seines eigenen „Egmont“, von Shakespeares „Romeo und Julia“ sowie von Schillers „Wallenstein“ als positive Folge der Müllner-Übung, dergleichen würde heute kaum ein Theaterleiter nachexerzieren wollen. Gespielt wurde „Romeo und Julia“ übrigens nur am 22. Januar 1814, eine zweite Aufführung gab es in Halle am 16. August, 1815 folgte noch einmal eine Aufführung in Weimar am 11. Februar, eine letzte schließlich am 23. März 1816.

Goethe kommt dann auf Fehlversuche mit einigen Romantikern zurück, von deren Werken er für seine Bühne zu profitieren hoffte, geht über zu einer „Faust“-Komposition des Fürsten Radziwill, zum schon erwähnten Theatersommer in Halle, danach erst zum „Erwachen des Epimenides“. Der mehrwöchige Aufenthalt in Bad Berka spielt für ihn in der Jahresbilanz 1814 nicht die geringste Rolle, man mag es im Tourismusbüro an der Ilm sogar als besonders perfide empfinden, dass Goethe zwar das Vorspiel von Bachschen Sonaten von der Hand „Inspektor Schützens“ erwähnt und Zelters Gegenwart, den Ort des Geschehens aber auffallend verschweigt. Immerhin ist ihm das Erscheinen des dritten Bandes von „Dichtung und Wahrheit“ die Notiz wert, ebenso die Fortsetzung der Arbeit an der „Italienischen Reise“, der Beginn des „Westöstlichen Divans“. Auch hier hätte Bad Berka durchaus genannt werden können, denn zwei der frühesten Divan-Gedichte entstanden dort: „Erschaffen und Beleben“ und „Beiname“. Weil sie nur noch ganz selten überhaupt erwähnt wird, verweise ich auf die bis heute verdienstvolle Arbeit „Goethe in Thüringen“ von Wolfgang Vulpius, in mehreren jeweils verbesserten Auflagen im Greifenverlag zu Rudolstadt erschienen. Und natürlich auf Walther Victors "Das Edelhof-Memorial. Berka 1814", auch seine "Romanze in Berka" wäre zu nennen.

Zwei fast private Dinge spielten in Goethes 1814 eine Rolle, zu denen eher andere als er selbst Informationen hinterließen. Da war zunächst der Ärger mit seinem französischen Orden, den er immer noch voller Stolz trug, stammte er doch direkt von Napoleons Hand, der aber nun, modern gesprochen, alles andere als up to date war. Da war zweitens der Unwille von Goethes Sohn, vaterländische Begeisterung durch soldatisches Engagement zu zeigen, Vater Johann Wolfgang stand dabei nicht nur ideell hinter ihm. Dabei war dieser Unwille zunächst gar keiner, sehr ausführlich hat Gustav Seibt sich dazu in seinem "Goethe und Napoleon" verbreitet. Für die nachredewillige Umwelt stand Goethes Sohn August in negativem Kontrast zu Schillers Sohn Karl, der tat, was eine Öffentlichkeit erwartete, die nun mutig wurde, als keine Gefahr mehr bestand. Die Geschichte kennt diesen Ablauf auch aus späteren Zeiten sehr genau. Charlotte Schiller schrieb der schon erwähnten Erbprinzessin dazu: „Karl hätte ich um keinen Preis, auch wenn ich darüber gestorben wäre, abgehalten, denn seine ganze Existenz, sein ganzes Wesen wäre zerknickt gewesen...“. Den Vorwurf eines mangelhaften Patriotismus trug Goethe bekanntlich bis in seine spätesten Jahre mit sich, 1814 war er noch eher still in der Sache, später gab er einige häufig zitierte Rechtfertigungen.

Eine Reise aber gab es 1814, die in der Tat und ohne jeden Zweifel wichtiger war als der Aufenthalt in Bad Berka und das war die Reise in Richtung Rhein, Main und Neckar. Am 23. Juli vermeldete Charlotte von Stein Goethes Urfreund Knebel brieflich die Abreise in Richtung Wiesbaden für den nächsten oder übernächsten Tag. Tatsächlich reiste Goethe am 25. Juli 1814 gen Wiesbaden, abermals zur Kur, hielt sich danach vom 13. September an in Frankfurt am Main auf. Am 27. Oktober hatte ihn Weimar wieder. Von Frankfurt aus besuchte Goethe für zwei Wochen Heidelberg, letzte Station wurde Darmstadt. Fürst Karl August hielt sich von September 1814 bis Juni 1815 in Wien auf, Goethe sah ihn also eine ziemlich lange Zeit nicht. Laut „Tag- und Jahresheften“ gewährte die Reise „eine große Ausbeute und reichlichen Stoff an Persönlichkeiten, Lokalitäten, Kunstwerken und Kunstresten“. In Heidelberg hielt er sich täglich stundenlang in den Sammlungen der Brüder Boisserèe auf, sowohl altdeutsche als auch niederländische Maler interessierten ihn sehr, von den altdeutschen nahm er erstmals in dieser Form intensiv überhaupt Notiz. Ein Sonderereignis aus dem August ist sogar bleibende Literatur geworden, das „Sankt Rochus-Fest zu Bingen“ am 16. August 1814, siehe mein Text dazu in dieser Rubrik.

Karoline von Humboldt sah Goethe nach Jahren erstmals wieder in Heidelberg und schrieb ihrem Mann, Goethe habe zwischenzeitlich die Idee gehabt, seine schon gut zwei Monate andauernde Reise in Richtung Schweiz, Italien und womöglich sogar nach Paris fortzusetzen. Die Idee muss sich rasch zerschlagen haben, immerhin stellte sich Goethe offenbar vor, in Paris das Humboldt-Paar zu treffen. Karoline überliefert seinen Ausspruch: „Wenn man alt werde, müsse man nach außen suchen.“ Daraus ließe sich folgern, dass Goethes verstärkte Suche nach innen, etwa für seine autobiographischen Schriften, ihm selbst auch ein wenig zu demonstrieren hatte, er sei noch nicht im problematischen Alter. Sogar die Einschränkung des Reisens wäre in dieser Richtung deutbar und mit seinem Jahr 1814 in Verbindung zu bringen. Boisserée übrigens hielt für seinen Bruder fest: „Von besonderem Bedürfnis hat der edle Freund nur ein gutes Glas Bordeauxwein.“ Und als das Jahr seinem Ende entgegen ging, beschreibt Charlotte Schiller das Ergebnis der Goetheschen Innensuche am Beispiel der italienischen Reise so: „Er hat auf Dinge geachtet im Laufe seines Lebens, die wir gar nicht wähnen konnten.“


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