Albert Ludwig: Goethe und Ilmenau

Albert Ludwig ist für Zeiten mit Internet ein Name, den eine ehrliche Suchmaschine suboptimal nennen würde in Anlehnung an einen vergessenen Altkanzler, der sein eigenes Verhalten nach seiner Wahlniederlage so bezeichnete. Man findet die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die ziemlich sicher nicht nach einem Berliner Lehrer aus Lichtenberg benannt wurde. Man findet einen Theologen Albert Ludwig und einen Politiker Albert Ludwig, der sogar 100 Jahre alt geworden zu sein scheint. Die Kombination mit dem Ortsteil Lichtenberg ergibt Treffer, die bis ins Zeitalter der Aufklärung zurück reichen, die Kombination mit Doktor-Titel führt auch nur zu Lichtenberg und der ihm gewidmeten Forschung oder zu Urologen, die gar nicht Albert heißen. Früher hätte man dergleichen Abenteuer genannt. Wenn aber ein Dr. Albert Ludwig (Lichtenberg) für die „Vossische Zeitung“ einen Beitrag zum Thema „Goethe und Ilmenau“ verfasst hat, muss es ihn gegeben haben. Die Suche führt ins vordigitale Zeitalter zu freundlichen Menschen im Goethe-Schiller-Archiv zu Weimar. Die führen in ihren Beständen zwei Briefe: einen von Albert Ludwig an Joseph Kürschner und einen von Joseph Kürschner an Albert Ludwig, beide aus dem Jahr 1899. Man wird fündig.

Karl Albert Ludwig, akademischer Grad Dr., war den Personalbögen der Lehrer höherer Schulen Preußens zufolge Pädagoge und Literaturhistoriker, Oberstudiendirektor des Realgymnasiums nebst Realschule zu Berlin-Lichtenberg, Lehrer für Französisch, Englisch, Deutsch, Geschichte, Latein und Religion, in Berlin geboren 1875, 1934 verstorben, vermutlich daselbst. Dieser Dr. Albert Ludwig verfasste zum Beispiel ein 449 Seiten starkes Buch mit dem schönen Titel „Schiller. Sein Leben und Schaffen. Dem deutschen Volke erzählt“. Es erschien immerhin im Ullstein Verlag und zwar 1912 wie auch das wesentlich bescheidenere „Goethe und Ilmenau“. Elf Jahre später brachte B. G. Teubner in seiner Reihe „Der Kunstschatz deutscher Dichtung“ den Band „Die dramatische Dichtung“ von Dr. Albert Ludwig heraus, 204 Seiten stark. Mein antiquarisches Exemplar stammt aus den ausgemusterten Beständen der Klaus-Harms-Schule Kappeln, die just 1923 erst gegründet worden war und in zwei Jahren ihr hundertjähriges Bestehen feiern kann. 1912 aber erschien im Leipziger Xenien-Verlag zum Preis von fünf Mark das Buch „Goethe und Ilmenau“ von Julius Voigt, welches der Lehrer aus Lichtenberg für die Sonntagsbeilage der „Vossischen“ vorstellte.

Julius Voigt war ebenfalls Lehrer, ein Jahr älter als Ludwig und lebte zwölf Jahre länger, bis 1946. Sein Buch ist bis heute das Standard-Werk zum Thema, er hat alles erforscht und gefunden, was zu erforschen und zu finden war. Lediglich seine Sprache, die recht typische Lehrersprache der wilhelminischen Zeit vor dem ersten Weltkrieg, erschwert den Lektüre-Genuss bisweilen erheblich. Den Titel Goetheforscher, den ihm WIKIPEDIA erteilt, ohne ihm auch noch einen eigenen Beitrag zu widmen, hat er auf alle Fälle verdient. Und die Stadt Ilmenau war durchaus gut beraten, als sie vor einigen Jahren ein Reprint des Originals drucken ließ (Reprint-Verlag Leipzig, 392 Seiten). Vielleicht wäre es sogar eine gute Idee, am 16. November diesen Jahres den 75. Todestag von Julius Voigt zu nutzen, einmal wieder an seine unleugbar großen Verdienste zu erinnern. Den Beitrag von Albert Ludwig aus der genannten Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung vom 26. Mai 1912 (S. 166/167) kannte die Nachwort-Autorin des Reprints, Rosalinde Gothe, offenbar ebenso wenig wie er bisher im Archiv der Stadt Ilmenau vorrätig und einzusehen ist. Wobei kein Geheimnis daraus zu machen ist, dass Referent Ludwig dem Bekannten nichts hinzuzufügen weiß. Wie sollte er auch?

Man findet also auf den beiden zweispaltigen Druckseiten, was man als Kenner schon weiß. Nur sind eben Goethe-Freunde selbst fortgeschrittenen Stadiums alles andere als automatisch auch Kenner des Ilmenau-Komplexes. Der Grund ist unter anderem einer, auf den Dr. Albert Ludwig hindeutet und darin sehe ich ihn in Übereinstimmung mit einer eher kleineren Fraktion unter den Goetheanern, 1912 vermutlich sogar noch als große Ausnahme unter ihnen. Der Beitrag hält gleich am Ende des ersten Absatzes fest: „... zu Deutschlands klassischen Stätten gehört auch Ilmenau.“ Nur hätten andere viel eher ihren Historiker gefunden, Ilmenau eben erst jetzt mit Julius Voigt. Ludwig referiert alles: die Orte des Wohnens und Feierns in Ilmenau, die Orte des Dichtens und Liebens, wobei die gegenseitige Lage dieser Orte überraschend ähnlich seltsam beschrieben ist wie es Jahre früher Arthur Eloesser in seinem Bericht über den Ilmenau-Besuch der Goethe-Gesellschaft im Jahr 1902 getan hatte: schräg gegenüber ist offenbar aus Sicht von Berlinern eine andere Sache als aus Sicht von Ilmenauern. Hier käme kein Mensch auf die Idee, das „Posthaus“ (späterer Name „Sächsischer Hof“) als schräges Gegenüber des Hotels „Sonne“ zu sehen, die Szenerie im „Wilhelm Meister“ aber, die gern mit dem Ilmenauer Marktplatz in Verbindung gebracht wird, ist eine andere.

Natürlich hat Ludwig auch die „Schützlinge“, die bei Julius Voigt ein eigenes Kapitel II mit den Abschnitten A und B bekommen haben: „Schützlinge Goethes in Ilmenau“. Wobei man Ludwigs Formulierung auch so deuten könnte, als habe es noch mehr solcher Schützlinge gegeben, was in die Irre führt. Sowohl Peter im Baumgarten als auch Johann Friedrich Krafft habe ich vor Jahren einige Zeilen gewidmet, will mich deshalb nur ungern wiederholen. (http://www.eckhard-ullrich.de/mein-goethe/38-pfeife-im-mund-spitz-an-der-leine; http://www.eckhard-ullrich.de/mein-goethe/1254-freude-durch-krafft). Dann erst geht Ludwig zur amtlichen Tätigkeit Goethes in Ilmenau über, beginnt mit der Neuordnung des Ilmenauer Steuer- und Finanzwesens, auch hier ist Krafft natürlich eine Figur des Geschehens, weil er Goethe mit Informationen versorgte. Das Goethe viele Jahre beschäftigende und am Ende mit einer schweren Enttäuschung schließende Kapitel Bergbau in Ilmenau bekommt gebührlichen Platz, wobei sich der Referent nicht entschließen kann, das Stocken der Rede Goethes, angeblich volle zehn Minuten, anders als sehr vorsichtig zu bezweifeln. Auch hier verweise ich lediglich auf einen älteren Beitrag von mir: http://www.eckhard-ullrich.de/mein-goethe/1251-als-goethe-redete-und-lange-schwieg.

Ob man die Fortsetzung der vorbereiteten Rede nach zehn Minuten (vollkommen undenkbare) mit „was übrig bleibt, ist der starke Eindruck des unter allen Umständen überlegenen Mannes, des Olympiers eben doch, selbst in einer schwachen Stunde“ resümieren kann, stelle ich in Abrede. Das Menschliche an Olympiern ist gerade, dass sie nicht nur auch menschlich sein können, sondern es sind, und zwar keineswegs nur in schwachen Stunden. Das Goethe fortan Ilmenau meidet und erst volle siebzehn Jahre später wieder kommt, um seinen 64. Geburtstag zu feiern, beschäftigte den Lehrer nicht, wie überhaupt die seltsame Zahlenmystik von Goethes vier Ilmenauer Geburtstagen seinem aufmerksamen Blick entgangen zu sein scheint. Dafür aber deutet er auf einen gewichtigen Umstand gleich doppelt: „Die Neuordnung des Ilmenauer Steuerwesens wurde das persönliche Werk Goethes und seines treuen Gehilfen, des späteren Staatsministers Voigt – wir haben aber nicht über poetisches Fronen zu schelten, wo Goethe selbst sich freute, seine Kräfte zu regen im tätigen Leben“. Goethe-Schelte wäre ohnehin nur etwas für kleinere Geister, wenn schon, dann müsste es eine Goethe-Kritik sein, eine mit Argumenten und Gründen und vielleicht auch noch gut formuliert.

„Kein Poetennest fand er hier, suchte es auch nicht, denn er wollte mehr sein im Herzogtum denn nur ein Poet. Früher hat man drum geklagt: wir wissen es besser, die wir den Vollmenschen in ihm bewundern – nun, hier in Ilmenau hat er die Probe darauf abgelegt, dass er nicht bloß dilettieren wollte in allerlei Geschäft. Hier fand er die großen Aufgaben landesväterlicher Fürsorge, und an ihnen hat er sich bewährt: hier war es ihm beschieden, Tasso und Antonio nacheinander, ja zu gleicher Zeit, zu sein.“ Dem wird vielleicht nicht jeder „Tasso“-Deuter widerspruchslos folgen wollen, was gemeint ist, ist aber mehr als klar: Jede Goethe-Lesart, die Zeiten, die er nichts aufs Dichten verwandte als Verlust für ihn und, wohl vor allem gemeint: für die Nachwelt, ansieht, geht fehl. Tätigsein war für Goethe umfassend, umfassender auf jeden Fall als Arbeit, umfassender noch viel mehr aber als Dichtung. Dr. Albert Ludwig hat unter den 32 „Dramen der Schullektüre“ in seinem Buch „Die dramatische Dichtung“ den „Tasso“ übrigens nicht. Überhaupt von Goethe nur den „Götz“, „Egmont“ und „Iphigenie“, während von Schiller selbst „Die Braut von Messina“ nicht fehlt. Und von Kleist die „Hermannsschlacht“ zwischen dem „Krug“ und „Homburg“ steht.


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