Max Rychner aus Lichtensteig
Ein wenig seltsam ist es schon: Der Verlag Vittorio Klostermann legt 2015 Freundesbriefe von Ernst Robert Curtius und Max Rychner aus den Jahren 1922 bis 1955 vor, nicht weniger als 910 Seiten für nicht weniger als 128 Euro, was zum fünfzigsten Todestag des großen Essayisten und Kritikers, des Lyrikers und eben Briefautors gut passt, die kleine Stadt Lichtensteig aber im Toggenburg, Kanton St. Gallen, bringt sich weder selbst noch über WIKIPEDIA mit ihrem namhaften Sohn in Verbindung. Einer der vielen Propheten, die im eigenen Lande nichts gelten? Ich will mich nicht überheben: als ich von meinem Feriendomizil in Wildhaus Lichtensteig besuchte, es ist schon wieder einige Jahre her, da habe ich wohl die alte Stadt gesehen, da habe ich wohl das Toggenburger Museum in aller Ausführlichkeit besichtigt, an Max Rychner habe ich auch nicht gedacht. Man kommt halt eher auf Ulrich Bräker, den Wattwiler, der in Lichtensteig des öfteren zugange war, den „armen Mann von Toggenburg“ eben.
Und dennoch: Max Rychner hat die ersten Jahre seines Lebens, ehe er mit vierzehn Jahren aufs Gymnasium in Zürich ging, in Lichtensteig verbracht, dort kam er am 8. April 1897 zur Welt, der Vater war Unfall- und Frauenarzt. Werner Weber hat in seinem Nachruf in der ZEIT geschrieben: „Lichtensteig, Bern, Zürich: Bauernland und Stadt. Wer es bedenkt, wird spüren, dass dies alles die Leistung nicht bestimmt, in welcher sich jenes Denken eine Form gab. Waren die Reisen wichtiger? Es waren Reisen durch die Länder des alten Kontinents; die Stationen, an denen es Rychner lange hielt: Berlin und Paris.“ Weber hat sich wiederholt mit Rychner befasst, doch als er dessen Gedicht „Teufelei des Wortlosen“ zu deuten suchte, haben ihn alle guten Geister verlassen. Sollte Rychner denn tatsächlich beabsichtigt haben, Hegels „Phänomenologie des Geistes“ im Gedicht zu wiederholen, dann hätte er seinen eigenen Regeln Hohn gesprochen, wie er sie etwa dem angehenden Autor Hugo Loetscher mit auf den Weg gab.
Loetscher, politisch alles andere als an der Seite Rychners, hat diesem dennoch ein mehr als nur dankbares Andenken bewahrt. Das hatte gute Gründe: „Aus einem bücherfreien kleinbürgerlichen Milieu stammend, war ich in den Anfängen genötigt, immer ein Buch mehr gelesen zu haben. Deshalb konnte ich 1968 auch nicht die Bibliothek meines Vaters verbrennen; er hatte keine. So war Bildung ein Begriff, an dem ich auch festhielt, als es ideologisch chic war, sich dafür zu entschuldigen, ein Buch gelesen zu haben.“ Rychner war mehr einer, der mit seinem Bildungsbegriff die ideologische Schickeria herausforderte. Er war, das überliefern große Geister der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, zeitweise gar so etwas wie eine europäische Institution. Fast euphorisch klingt, was ihm Dolf Sternberger nachredete am 9. Oktober 1965 in Darmstadt, als ihm posthum der Essay-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehen wurde: „Was für ein bezaubernder Geist, was für ein anmutiger Mann ist da von uns gegangen: Max Rychner! … zur Bewunderung, zum Entzücken bereit (wie es sich für den bedeutenden Kritiker gehört, der weder ein Zensor noch ein Nörgler sein kann noch mag: er muss lächeln können beim Anblick des Vollkommenen...“.
Verurteilen und verdammen konnte Rychner dennoch, das leugnet auch Sternberger nicht, man kann es leicht in den sieben Essay-Bänden nachlesen, die seine Blicke auf deutschsprachige und europäische Literatur versammeln, „Welt im Wort“ heißt einer, „Antworten“ ein anderer, es gibt „Sphären der Bücherwelt“, „Arachne“, „Zur europäischen Literatur zwischen zwei Weltkriegen“ in zwei unterschiedlichen Ausgaben, „Zeitgenössische Literatur“, „Zwischen Mitte und Rand“, eine Auswahl hat den Weg in die immer wunderbare „Manesse Bibliothek der Weltliteratur“ gefunden. Dort findet sich als erster Satz, Fritz Ernst gewidmet: „Die Bewunderung gehört wohl zu den reinsten Elementen, in denen Geist dem Geist sich offenbart.“ Das hat natürlich Altertümliches, Fritz Ernst ist jener, den ich mehrfach dankbar benutzte, als ich mich mit dem wunderlichen Goethe-Zögling Peter im Baumgarten zu befassen hatte, was mir wiederum einen freundlichen Mailwechsel mit einer Peter-Forscherin einbrachte, die mich für einen Experten hielt. Auch das ist eine Spätwirkung dessen, was einst chic war: man kommt schon in den Ruf, ein Experte zu sein, wenn man nur etwas weiß und nicht gleich alles wieder vergessen hat. 1968 hat den Weg für Blender frei geschossen, neben denen man sich geniert.
Loetscher, noch einmal auf ihn zu kommen, fand es beim Rückblick auf Max Rychner wichtig, ausdrücklich darauf hinzuweisen, „dass es nicht entscheidend ist, ob man Ansichten teilt oder nicht, sondern auf welchem Niveau die Auseinandersetzung stattfindet.“ Mir fielen eine Reihe sich sehr wichtig nehmender Menschen ein, denen man dies ins Stammbuch zu schreiben hätte, wenn man sie vorher googeln ließe, was ein Stammbuch ist. Darein ließe sich auch schreiben, was Rychner selbst 1924 mit Bezug auf Homer, Dante und Goethe schrieb: „Diese Namen sollten einem nicht so locker sitzen, dass sie jeden Augenblick aufs Papier kollern, wenn man sich doch mit dem Vorsatz hinsetzt, bei der Sache zu bleiben...“. Wenn sich Rychner dann freilich mit Goethe beschäftigte oder mit Jean Paul, dann kollerte nichts. Man greife zu „Goethes West-Östlicher Divan“ in den „Antworten“, zu „Goethe und die Deutschen“ in „Sphären der Bücherwelt“, zu „Bürden des jungen Goethe“ in „Arachne“, oder, nicht zuletzt, zu „Zu Goethes Altersprosa“ in „Welt im Wort“, dann hat man Stoff für eine eigene Abhandlung.
Hier soll noch Carl Jacob Burckhardt zu Wort kommen, dessen Reden und Aufzeichnungen Rychner ebenso besprach wie seinen Briefwechsel mit Hofmannsthal. „Für den hohen Beruf, den Max Rychner ausübt, haben wir im Deutschen keine rechte Bezeichnung.“ Burckhardt zitiert Heinrich Wölfflin zum Ende der „Neuen Schweizer Rundschau“, die Rychner geleitet hatte, der nun zur „Kölnischen Zeitung“ wechselte: „Jetzt verlieren die Schweizer einen Mann, den sie augenscheinlich nicht verdienen.“ Rychner, der einst über Georg Gottfried Gervinus promovierte, ist Journalist geblieben und eben: Kritiker. Dazu Burckhardt: „Ein Kritiker ist ein Liebender, ein Mann der Übersicht und Einsicht, ein Kenner der Zusammenhänge, ein Entdecker auch, ein Rutengänger. Seine Aufgabe ist es, nach hohen Gesichtspunkten zu sondern.“ Es gibt Kritik-Portale, deren gesamte Redaktion aus dem Fenster springen würde, wenn dies in ihre Statuten aufgenommen würde. Was ihrer hauseigenen Produktion dennoch keinen Charme verleiht. Max Rychner verdanke ich den Hinweis auf Goethes Briefwechsel mit Metternich und Gentz, den gern verschwiegenen.