Reto Flückiger sieht Gehirnmasse
Der ursprünglich avisierte Titel „Sniper“ war den Damen und Herren der Endabnahme wohl doch zu amerikanisch, Reto Flückiger und Liz Ritschard haben deshalb im neunten Schweizer Tatort neuer Ära in „Ihr werdet gerichtet“ zu agieren. Irgendwann wird Luzern zu klein sein für all die Fälle, die in den dortigen Nebenstraßen passieren, doch einstweilen darf sich der Krimifreund an Mankells Walander trösten. Die von ihm im Umkreis von sechs Meter fünfundsiebzig geklärten schwersten Gewaltverbrechen inklusive schwarzer Serientaten reichen für anderthalb große Großstädte und siedeln dennoch alle in der Umgebung von Ystad. Wer je dort war, weiß was ich meine. Von Luzern sieht man mittlerweile wenig, wenn man sich den neuen Verkehrslösungen anvertraut, es sei, man fährt ab von den Unterführungen und Umfahrungen. Dann findet man auch fußläufig die Ecken, wo es kracht in diesen Tatorten, die Schweizer müssen nicht ihre Ermittler über die Museggmauer hüpfen lassen wie die Erfurter die ihren über den Petersberg. Dafür haben sie es vom Prügelknaben der Tatort-Kritik zum „Tipp des Tages“ gebracht. Das ist eine klar bedeutendere Leistung für die Weltkultur als die Freigabe des Franken-Kurses.
Hier werden von einem Scharfschützen zunächst zwei Albaner, dann ein Immobilien-Mann erschossen. Mehr aus Schädeln ausgetretenes Menschenhirn war selten zu sehen. Die größte Wirkung dieses Anblicks erreicht den ewig unsympathischen Polizei-Chef Mattmann. Der lässt sich jetzt sogar einmal fast widerspruchslos dirigieren und einmal stellt er sich hinter seinen Reto Flückiger, als der einem provokant auftretenden Vergewaltiger einen Schlag versetzt, der den buchstäblich vom Stuhl haut. Es geht um Selbstjustiz. Der Zuschauer weiß sehr früh, wer der Täter ist, er sieht sein Umfeld, die schweigende Frau, die nicht reden, nicht essen will, deren Geheimnis der Täter wie auch der Zuschauer heimlich erfährt. Er belauscht ein Gespräch zwischen der Frau und einem Freund und hört von einer mehrfachen Vergewaltigung. Der Täter hat eine Werkstatt unter seiner Autowerkstatt, er fertigt dort die tödliche Munition selbst und versieht sie mit einem Paragraphenzeichen. Jede geplante Tat wird akribisch logistisch vorbereitet. Denn ein Zeichen will er setzen, eins gegen die in seinen Augen untätige Justiz der Schweiz, die mit einer Reform der Strafprozessordnung Verfahren in die Länge zieht oder gar nicht erst zustande kommen lässt.
Den ersten Zugriff auf den Mörder bekommen Liz Ritschard und Reto Flückiger, als sie über die Medien lancieren, der zweite Mord sei eine Beziehungstat gewesen. Aber nach einem Tag haben die demnach findigen, in Wahrheit wahrscheinlich nur ein Leck nutzenden Medien heraus, dass doch eine Tatserie vorliegt und tatsächlich liegen im versteckten Werkstattkeller die vorbereiteten Unterlagen für insgesamt acht Hinrichtungen. Das vierte Opfer aber ist Opfer einer Verwechslung. Nicht der aufs Korn genommene Vergewaltiger stirbt, sondern sein Bruder und als das verfehlte Opfer aus dem Haus kommt, wird es zwar beschossen, aber nicht getroffen. Der Täter muss überhastet fliehen und das Netz zieht sich langsam zu, indem er sich schließlich verfängt. Zwischendurch tötet er im Affekt mit einem Hammer noch den Mann Simic (Misel Maticevic), der diesen Film ein wenig überfrachtet. Denn dieser Jugoslawe, der im Krieg dort ein „Sniper“ war, findet wohl in der Frau des Schützen eine Zuhörerin, die Zuhörer seiner Reden im Film aber haben Mühe, ihn akustisch und noch mehr: inhaltlich zu verstehen. Er hat gar Kinder erschossen? Warum? Wie kam er an die Frau des Schützen? Der Hauptdarsteller Antoine Monot jun. ist nicht nur ein Typ für Baumarkt-Werbung, er ist überhaupt ein Typ. Und hier spielt er sehr eindringlich. Fast resigniert kümmert er sich um die Frau, beim Bäcker, der in der Schweiz Beck heißt, bremst er einen unangenehmen Kunden aus zugunsten einer Oma, die das Kleingeld nicht schnell genug in der Geldbörse findet. Zur Strafe wird der Drängler kurzzeitig sogar der Morde verdächtigt.
Chef Mattmann organisiert eine „Task Force“ und lässt einen Profiler aus England einfliegen, der mit einer Taschenbuchausgabe von Kleists „Michael Kohlhaas“ die besondere Art der Selbstjustiz aus verletzter Gerechtigkeitsliebe heraus erläutert. Das darf man einen Einfall nennen, den Urs Bühler (Buch) und Florian Froschmayer (Regie) entwickelt haben. Dem Thema „Kleist in der Schweiz“ gilt (für Interessenten) mein seit knapp drei Jahren präsenter Beitrag hier (16. September 2012). Heute ist Kohlhaas auch Posttraumatiker und die zur Einsatzgruppe gehörenden Polizisten hören das britische Kolleg mit Interesse. Immerhin haben sie plötzlich die Aufgabe, potentielle Verbrecher zu warnen oder gar zu schützen, weil ihr Leben durch den Serientäter bedroht sein könnte und auch tatsächlich ist. Wer berufsbedingt ins Internet schaut, stellt umgehend fest, dass es sackweise Tatort-Kritiken schon gibt, eher der Film für Zuschauer überhaupt gelaufen ist. Denn für Medienvertreter gibt es Voraufführungen und die veröffentlichen entweder gleich vorher oder warten anstandshalber bis zur Abspann-Musik. Nachtkritik nach Theateraufführungen ist dagegen lahm und langsam. Ratschlag meinerseits: nichts vorher lesen, alles erst hinterher.
Wer sich an diese Regel hält, erspart sich den frühzeitigen Ärger über jene schreibenden Pappkameraden, die allen Ernstes zu viel Wärme für den Mörder gesehen haben wollen, sie hatten vermutlich in der Schule einen Aufsatz über die These „Alles verstehen, heißt alles verzeihen“ zu schreiben und erreichten dabei nur die Mindestpunktzahl (soweit sie west-sozialisiert sind). Kritik, darf man immer noch bei diesen Schweiz-Tatorten folgern, heißt nicht, Haare in der Suppe zu finden, sondern Suppe zwischen den Haaren. Im wirklichen Leben, wir wissen es von den Nachbarn, die im weißen Feinripp-Unterhemd aus dem Fenster schauen, bis die Kamerateams sie endlich befragen, sind die schlimmen Täter immer freundlich gewesen, sie haben den Müll raus gebracht und stets gegrüßt. Den Ermittlern bietet sich am Ende das Bild vollendeter Selbstjustiz. Simon Amstad tötet mit einem Schuss durch beide Köpfe sich und seine Frau (Sarah Hostettler). Das Finale der sich suchenden Hände, das Einverständnis der Frau, das geht schon unter die Haut. Dass Kleist am Ende als siegreicher Titelverteidiger aus dem Ring geht, ist nicht beunruhigend und spricht schon gar nicht gegen diesen Tatort aus Luzern.