Gottfried Keller: Der Narr auf Manegg
Nach jenem berühmten Rüdiger Manesse, dessen Name untrennbar mit der bedeutendsten und schönsten mittelalterlichen Liederhandschrift verbunden ist, die oft nach ihm die Manessische genannt wird (ebenso oft auch Pariser oder Heidelberger Handschrift), gab es einen weiteren Träger dieses Namens, der um 1380 starb. Dieser war ein Urenkel des Liedersammlers, der selbst wiederum Sohn des ersten aktenkundig gewordenen Rüdiger Manesse war. Der ist der Stammvater der ritterlichen Linie der Familie auf Burg Manegg. Es ist also Rüdiger III, von dem Gottfried Keller schreibt: „Auch dieser war in Tat und Leben mustergültig, fest und gelassen, ohne sich jedoch als ein Originalmensch zu gebärden.“ Nach der Umwandlung Zürichs in einen freien Bürgerstaat stand das Geschlecht der Manesse an der Seite des Neuen, die Stadt selbst trat dem Bund der Eidgenossen bei, um gegen feindliche Mächte besser gerüstet zu sein. Und Rüdiger III bewährte sich auf eine Weise, die auf den ersten Blick nur militärisch heldenhaft, auf den zweiten aber politisch instinktsicher und weitsichtig erscheint, gar vorbildlich bis in heutige Tage hinein.
„Der Narr auf Manegg“ wirkt schon wegen seiner Kürze ein wenig eingeklemmt zwischen den beiden deutlich längeren Novellen „Hadlaub“ und „Der Landvogt von Greifensee“, mit denen er den ersten Band der „Züricher Novellen“ bildet. Da diese drei über eine Rahmenhandlung enger miteinander verknüpft sind als jene beiden Novellen, die den zweiten Band füllen, „Das Fähnlein der sieben Aufrechten“ und „Ursula“, ist wenigstens ein Seitenblick auf den Rahmen kaum zu vermeiden, zumal die Binnenhandlung selbst eher Chronik als fortlaufendes Geschehen im engeren Sinn darstellt. Die Charakterisierung des jüngeren Rüdiger als eines Mannes, der sich wohl nicht als Originalmensch gebärdete, durch sein Tun aber „in der Stunde der Gefahr eine wirkliche und klassische Originalität erreichte“, wird nur aus der Rahmenhandlung verständlich, in der Keller einen Onkel seinen Neffen, den jungen Herrn Jacques, mit erzählten Beispielen erziehen möchte und das schließlich auch erreicht. „Der Landvogt von Greifensee“ beendet den pädagogischen Vorgang, Herr Jacques erhält den Auftrag, das Manuskript zu kopieren, das ihm der Onkel reicht.
Gottfried Keller hinterließ uns auch zu dieser Novelle keinerlei substantielle Nachrichten: wie sie entstand, warum er sie schrieb, wann er die Idee dazu hatte, wie er daran arbeitete, alles das also, was Interpreten und Betrachter so gern zur Hand haben, fehlt. Lediglich die für Keller offenbar durchgängig charakteristische Weise, eigene fertige Werke sehr skeptisch zu sehen, eher klein zu reden als anzupreisen oder auch nur vorsorglich zu verteidigen, fällt abermals auf. Er nennt seine Novelle eine „kleine Arabeske“ und gibt sich in einem Brief an den Kollegen Conrad Ferdinand Meyer erleichtert über dessen freundliche Zeilen. Er fürchtete, dass sein Werk „geradezu als trivial und leer erscheinen könnte“, nennt es gegenüber Julius Rodenberg (26. Juni 1831 – 11. Juli 1914), dem Begründer der monatlich erscheinenden „Deutschen Rundschau“, „magere Februarnovelle“. Und tatsächlich fällt „Der Narr von Manegg“ gegenüber den vier anderen „Züricher Novellen“ ab, was seinen Grund in der Unentschiedenheit haben dürfte, was eigentlich der Erzähler Keller erzählen wollte. War der Rahmen entscheidend, dann ging es um Burg Manegg und ihre Herren.
Doch war am Ende von „Hadlaub“ ja auch die Geschichte der Handschrift nicht fortgeführt. Was vielleicht in den Rahmen gepasst hätte, hätte anstelle ziemlich strenger Chronologie in „Der Narr auf Manegg“ dann einen ganz anderen Entwurf gefordert, denn der Sprung von Rüdiger III zu jenem Buz Falätscher, dem dem Novellen-Titel entsprechend dann das Hauptaugenmerk gilt, ist zuerst ein rein chronologischer. Gottfried Keller hat sich zu beiden Figuren mehr als Porträtist, denn als Maler einer Geschichte verhalten. Er stellt Charaktere vor, nur sehr bedingt Lebensgeschichten. Für Rüdiger III reicht es so letztlich aus, den Bürgermeister Rudolf Brun in der Schlacht zu vertreten, seine feige Flucht vor den Truppen „als selbstverständlich und notwendig, als eine Maßregel der Vorsorge“ zu rechtfertigen und zu verteidigen. Rüdiger Manesse unterlässt es voller Bewusstheit, seine in der siegreichen Schlacht errungene Position als Position der Stärke zu deuten und das anschließend für sich zu nutzen, beispielsweise durch Ablösung des Bürgermeisters. Wenn Keller seinen Rahmenerzähler das loben lässt, dann beweist er überragendes politisches Feingefühl.
Wenn auch nur indirekt. Er vermeldet fast lakonisch, wie Manesse neben dem Bürgermeister heimkehrt nach Zürich, still und verschwiegen, „denn er hat erwogen, dass es gut ist, wenn ein Gründer der Freiheit bei Ehren bleibt, wenigstens solang er sonst tauglich ist.“ Das Verschweigen einer peinlichen Schwäche des Gründers der Freiheit kann für den Erhalt der Freiheit wichtiger sein, als die in vergleichbaren Situationen gern aufs Schild gehobene vermeintliche Wahrheit, die der vermeintlich uneigennützige Verkünder ausschließlich in ihrem Namen verkünden zu müssen vorgibt. Man darf das politische Weisheit nennen und tatsächlich dem Züricher Staatsschreiber Gottfried Keller zuordnen, dem Menschen im Dienst, nicht dem vom Dienst um sein Dichten gebrachten Dichter. Wer heute Woche für Woche Politikberichterstattung erlebt, wird mit medialer Gewalt zur Erkenntnis gezwungen, Politik sei auf fast allen Ebenen reines und vor allem rein persönliches Machtspiel. Falls das tatsächlich so ist und vielleicht immer war, dann hat Gottfried Keller mit dem Beispiel seines jüngeren Rüdiger Manesse ein Gegenbild gezeichnet: als Vorbild.
In „Der Narr von Manegg“ gibt es noch einen Manesse. Keller hält sich an die Geschichte und der Keller-Biograph Emil Ermatinger gibt sich damit zufrieden, die Quellen einfach aufzuzählen und nicht lange weiter am Text zu verweilen: „Georg von Wyß hat im Neujahrsblatt der Stadtbibliothek in Zürich auf das Jahr 1849 „Beiträge zur Geschichte der Familie Maneß“ veröffentlicht. Hier fand Keller die Gestalt eines jüngeren Rüdiger Manesse, des Siegers von Dätwyl (1351) und Bürgermeisters von Zürich, der nach Wyß 1380 starb. Einer seiner Nachkommen wurde durch die Last seiner Schulden gezwungen, die Familiengüter, unter ihnen auch das Stammhaus in der Stadt und die Burg Manegg, an die Juden zu verkaufen. Endlich melden die Chronisten des sechzehnten Jahrhunderts, dass zuletzt ein armer Narr in der Burg gehaust habe und dass diese an einem Fastnachttage von „etlichen mutwilligen Gesellen“ aus Zürich „gleichsam belagert“ und aus Unvorsichtigkeit angezündet worden sei.“ So weit, so richtig. Gottfried Keller ist diesen Quellen in der Tat gefolgt, ob es wirklich „dürftige Elemente“ sind, wie der Biograph meint, sei dahingestellt.
Der bei Ermatinger namentlich erst später benannte Nachkomme heißt in der Novelle Ital. Diesen hat Keller, schreiben Keller-Kenner, mit autobiographischen Zügen ausgestattet, was der Leser nur ahnen kann, wenn er das Leben Kellers, insbesondere sein beinahe tragisch erfolgloses Liebesleben, recht genau kennt. Es ist allerhand hübsche Ironie in der Zeichnung dieses Ital, der unentschlossen ist, gern zu spät kommt, mit der Entschlusskraft der Frau überfordert ist und am Ende allein bleibt. Thomas Roffler fasst es knapp zusammen: „Alle Käuze werden bei Keller sinnlich bejaht durch die Gestaltungsfreude, welche der Dichter an sie wendet, und sittlich verneint durch den Bezug auf die Gesellschaft, deren Wohl und Wehe nicht auf das Sonderbare, sondern auf das heilsam Gewöhnliche gründet ist. Selbst in diese Erzählung, welche in unbefangener chronistischer Folge den Niedergang eines ganzen tüchtigen Geschlechtes und dessen in der Gestalt des Narren verkörpertes Ende darstellt, sind persönliche Züge hineinverwirkt, namentlich in der Erscheinung jenes Ital Manesse, welcher zwangsläufig den günstigen Augenblick für eine glückliche Freite verpasst.“ Alle Käuze!
Den chronikalisch verbürgten Brand der Burg Manegg siedelt Gottfried Keller im Jahr 1409 an und verknüpft ihn der Überlieferung folgend mit einem Narren, dem er den Namen Buz Falätscher gibt. Diesen lässt er unehelicher Nachfahre eines des Söhne von Rüdiger II sein, des Liedersammlers, und stattet ihn mit einer bunten Biographie aus. Als Soldat macht er sich zum Gespött beider Heere auf dem Schlachtfeld, indem er zunächst einen riesigen Mann der gegnerischen Seite zum Zweikampf herausfordert, dann aber, angesichts des nahenden Gegners, „drehte Buz sich im Kreuz seines Rückens so glatt wie eine Tür in der Angel und lief mit der Schnelligkeit einer Spinne über das Feld weg, in weitem Bogen, bis er hinter der Wand seiner Landsleute geborgen war.“ Das führt zu einem kurzen Waffenstillstand, die Feinde „schickten den Schweizern ein Fass Wein, worauf diese ein fettes Schwein zurücksandten.“ Auf dem Heimweg wird Buz von einem Weiblein eingeholt, „das in roten Strümpfen lustig daherwanderte“. Er tut sich mit dieser tatkräftigen und lebensklugen Frau zusammen, die ihm zuerst sein Hüttchen aufmöbelt, ihn umsorgt und aushält.
Obwohl er jahrelang auf ihre Kosten lebt, schlägt er sie, wenn sie seinen Lügengeschichten keinen Glauben schenken möchte und als er sie eines weniger schönen Tages beinahe erwürgt in seinem Jähzorn, verlässt sie ihn, „packte ihre Habseligkeiten zusammen und verließ die Hütte, nachdem sie ihm noch ein Frühstück zurechtgestellt hatte.“ Nun muss er allein zurecht kommen, ernährt sich von Kleinwild, das er jagt und fängt und entdeckt, dass Burg Manegg, leer stehend, eigentlich ein guter Ort für ihn sein müsste. Und sofort empfindet er sich als ein Ritter, gibt sich anderen gegenüber auch als solcher aus. Man duldet ihn, er erträgt es sogar, wenn man auf seine Kosten seinen Spaß hat: „Wenn sie nur seine Ritterschaft anerkannten, war er zufrieden und hütete sich mit geheimer Vorsicht, über die Aufrichtigkeit dieser Anerkennung zu grübeln.“ Als eines Tages Ital Manesse das Liederbuch mit in die Runde bringt, weckt es die Besitzgier des Falätschers, er nimmt das Buch heimlich an sich und trägt ungebeten und ohne jeden Anflug von Respekt den wirklichen Sänger-Texten gegenüber eigene Verse ein. Als der Diebstahl bemerkt wird, fällt auf ihn kein Verdacht.
Und Keller hält eine wohl eigener Erfahrung entstammende Erkenntnis fest: „da es schon dazumal stehlende Bücherfreunde gab.“ Keller lässt seinen Buz Falätscher nunmehr mit einem Messer umherstreifen und fremde Leute zwingen, sich seine Dichtungen anzuhören und anzusehen. Als bei nächster Gelegenheit der Narr einmal in der Runde fehlt, geraten die anderen doch noch auf den Gedanken, er könnte die Handschrift haben. Sie ziehen in plötzlicher Entschlossenheit zur Burg, die einer von ihnen dann leichtsinnig mit einer geworfenen Fackel in Brand setzt. Der Narr und das Buch werden aus den Flammen gerettet, der Narr freilich überlebt das nicht. Retter des Buches ist der junge Herr von Sax, der es Ital Manesse stolz in die Hand gibt, der aber schaut nur kurz in die Handschrift und übergibt sie dann dem Freunde. „So kam das Buch in die Hände des Herren von Sax und blieb zweihundert Jahre auf Forsteck. Als aber 1615 die Zürcher die Herrschaft Sax ankauften, war es wieder verschwunden.“ Keller lässt die Geschichte mit einem Hinweis auf die guten Geister des Liederbuches enden. Reste von Burg Manegg sind noch heute zu besichtigen.
In Hellmuth Himmels „Geschichte der deutschen Novelle“ (Sammlung Dalp Band 94) ist „Der Narr auf Manegg“ immerhin erwähnt, er könne „höchstens im älteren Sinn als Novelle gelten; ihr Zweck ist es, das Missverständnis Meister Jacques' zu beseitigen, man könne durch Nachahmung eines Originals ein Original werden. Das Ende der Erzählung wird gleich zur Ankündigung der folgenden ausgenützt; dadurch befreit Keller den Anfang des „Landvogts von Greifensee“ von der Rahmenfiktion, die ihm anscheinend selbst lästig zu werden begann.“ Himmel (21. Februar 1919 – 19. Januar 1983), österreichischer Germanist, der als Erik Rumbach auch Kabarett-Texte verfasste, demonstriert mit dieser ja keineswegs unzutreffenden Anmerkung, wie weit die Interessen von Germanisten und dem Rest der Leserwelt auseinanderklaffen: die Frage, ob eine Novelle als solche älteren, neueren oder sonstigen Typs gelten kann oder überhaupt als Novelle, ist in der weiten Welt der Literatur letztlich irrelevant. Was gegen das informative Buch aus dem Jahr 1963 dennoch nicht viel besagen soll, es hat seine Meriten, die auch seine Nachfolger vom Fach gern bestätigen.
Eine halbwegs überraschende Deutung findet „Der Narr auf Manegg“ bei Gerhard Kaiser. In „Gottfried Keller. Das gedichtete Leben“ (insel taschenbuch it 1026) schreibt er: „Das Mittelglied zwischen den großen Novellen … hat seine Bedeutung darin, dass hier zum einzigen Mal ein Misslingen der Verknüpfung von Altem und Neuem im Vordergrund steht.“ Und über die Figur des Buz Falätscher: „Das vaterlose Kind, das Tier, der Phantast mit dem Buch, der Narr der andern, der arme Außenseiter wird von der geplagten Ehefrau mit einem Pilger verglichen, der jeden Morgen die Stiefel zur Wallfahrt nach Jerusalem anzog, aber nie wirklich aufbrach. Ihre Rundung erfährt die kleine Geschichte dadurch, dass das Thema der Desintegration von Kultur und Natur auch in der Buz umgebenden Gesellschaft durchgespielt wird.“ Ich bin mir nicht sicher, ob die kleine Novelle, ob sie eine ist oder nicht, so befrachtet werden sollte. Mich beschäftigt, wenn auch nicht über Gebühr, die Frage, wer wohl die magere Adelstochter aus dem Aargau für Keller gewesen sein mag, die er seinem Ital Manesse an die Seite gibt nachdem er mit der thurgauischen Dame nicht klappte.
Gert Sautermeister lenkte in seinem Keller-Porträt für die Reclam-Reihe „Deutsche Dichter“ die Aufmerksamkeit auf den Ort der Erstpublikation der „Züricher Novellen“, auf die „Deutsche Rundschau“ Julius Rodenbergs. „Nicht zufällig publiziert Keller seine ersten drei Züricher Novellen … zuerst in der vom Bildungsbürgertum geschätzten Deutschen Rundschau. Seine dekorative Bilderwelt entspricht den Erwartungen einer kulturbewussten Schicht, die aus der ernüchternden Wirtschaftssphäre der Gründerjahre nach Schmuck und Glanz heimverlangt und farbige Schleier vor ihren politisch kläglichen und ökonomisch krisenreichen Alltag zieht.“ Dass man das auch anders deuten kann, wenn man nicht gerade dem 68er Zeitgeist und seinem Krypto-Marxismus folgt, kommt Sautermeister gar nicht in den Sinn. Wer nach einem scharf gebratenen Steak ein Dessert nimmt, zieht ja keinen Schleier über seine Zunge, er mag einfach nur geschmacklichen Kontrast und Ausgleich. Sautermeister aber will Leser und Dutzendbürger voneinander scheiden. Und landet auf diesem Wege erschreckend schnell bei professoral-intellektueller Arroganz.
Oder wie soll man deuten, was er behauptet: „Aber je unverwechselbarer, eigenwilliger, unnachahmlicher Kellers Originale sind, um so mehr ermutigen sie die Leser zum Selbstsein in einer mit Dutzendbürgern wie dem Herrn Jacques überreich gesegneten Umwelt“. Die Abgrenzung des gehobenen vom Dutzendbürger ist gefährlich, man kann an den vom französischen Soziologen Pierre Bourdieu 1978 in die Diskussion gebrachten „Rassismus der Intellektuellen“ denken. Da freunde ich mich eher mit Albert Köster an, der zu Buz Falätscher schrieb: „Er ist halbwegs geartet wie die alten, gnomenartigen Naturgeister, halbwegs entwickelt er sich zum Don Quijote und Miles Gloriosus.“ Schön für Köster, der ganz selbstverständlich annahm, seine Leser könnten nicht nur mit dem Ritter von der traurigen Gestalt etwas anfangen, sondern hätten auch sofort ihren Plautus parat, dessen Komödie „Miles Gloriosus“ vermutlich 206 vor Christus uraufgeführt wurde und den eitlen, den prahlerischen Soldaten als Possenfigur in die Weltliteratur einführte. Gottfried Keller aber erfand den Dichter Buz Falätscher, der sich mit dem Messer in der Hand Zuhörer verschaffte.