Gottfried Keller: Der Landvogt von Greifensee

Eins darf als zweifelsfrei gesichert gelten: für die Reit- und Schießkünste von Salomon Landolt hegte Gottfried Keller kaum Interesse und noch weniger Sympathie. Er wird sie zur Kenntnis genommen haben, mehr nicht. Es liest sich auch tatsächlich irgendwie seltsam, dass dieser 1741 geborene Mann mit der Pistole auf 25 bis 30 Schritt einen Taler traf. Dass er auf 300 Fuß von seinem Schlossfenster aus heranschwimmende Enten erlegte und kein Pferd ihm zu wild war, es zu reiten. Solche Anekdoten scheinen eher in den wilden Westen Amerikas zu passen, aber Vorsicht: die bekannteste aller Schweizer Geschichten erzählt von einem Manne namens Wilhelm Tell, der seinem eigenen Sohn einen Apfel vom Kopfe schoss mit einer Armbrust und ein Landvogt spielt in dieser Geschichte auch eine Rolle, freilich nicht der Landvogt von Greifensee. Den feiern seine heutigen Landsleute anlässlich seines 200. Todestages am 26. November schon seit Mai mit einer ganzen Veranstaltungsreihe und man braucht kein Geheimwissen zu suggerieren, um zu sagen: Hätte Gottfried Keller aus dem Landvogt von Greifensee nicht die dritte seiner „Züricher Novellen“ gemacht, eben „Der Landvogt von Greifensee“, dann wäre das nur ein Tag für sehr wenige Kenner.

So aber ist der Todestag des einen ein sich zwanglos anbietender Anlass auf dem Weg zum runden Geburtstag des anderen. Und es ist letztlich einfach belanglos, welche tatsächlichen Eigenschaften Landolts, welche tatsächlichen Ereignisse seines Lebens von Gottfried Keller wie aufgenommen, verarbeitet, in Dichtung verwandelt worden sind. Vor Augen, vor Leser-Augen steht die Novelle in ihrer ausschließlich literarischen Qualität, man muss vom wirklichen Salomon Landolt durchaus nichts wissen, um mit dem Erzählten umgehen zu können. Und selbst wenn als Einfallsreichtum erscheint, was dem Wissenden, also Belesenen, nur eine Übernahme von Fakten und Details aus der 1820 erschienenen Landolt-Biographie von David Hess (29. November 1770 – 11. April 1843) ist, dann macht das nichts, dann nimmt das der Novelle nichts, insbesondere nichts von ihrer Schönheit. Die übrigens einem von Kellers größten Zeitgenossen, Theodor Fontane, gar nicht so groß erschien: „Das Talent ist dasselbe wie früher, aber der Griff war nicht so glücklich. Es ist nirgends langweilig, dazu ist es zu gut, aber doch ist es zu lang, teils auch von einer solchen Schwierigkeit der Aufgabe, dass kein Gott vollkommen glücklich damit zu Rande gekommen wäre.“ Von Gott hat Keller wenig.

Liest man weiter bei Fontane, darf man weiter zweifeln: „Der Landvogt, eine reizende Figur (aber doch ein wenig schattenhaft), war fünfmal auf Freiersfüßen, auch schon fünfmal verlobt und kam doch zu keiner Frau. Die Novelle erzählt nun erst seine fünf Liebesgeschichten und dann, wie er schließlich als Mann mittlerer Jahre seine fünf Liebsten, die nun meist längst verheiratet sind, zu sich aufs Schloss lädt. Jede der Frauengestalten wird vorzüglich charakterisiert, und jede einzelne Liebesgeschichte ist allerliebst, dennoch ermüdet man zuletzt und fühlt das bekannte Mühlrad im Kopf. So gut die Gestalten auseinandergehalten sind, quirlen sie einem zuletzt doch wirr durcheinander, und man ist schließlich froh, dass das grausame Spiel ein Ende hat. Ich begreife, dass die Aufgabe für ein so großes erzählerisches Talent wie das Kellersche etwas Verlockendes hatte, dennoch war es, glaub ich, kein allzu glücklicher Moment, in dem er sich diese Aufgabe stellte. Nur seine aparte Begabung und sein aparter Fleiß bewahrten ihn vor dem Scheitern.“ Wo in der Novelle, darf man fragen, fand Fontane fünf Verlobungen? Für wen, darf man fragen, ist welches Spiel grausam? Das könnte allenfalls Keller selbst sein, hieße eine mögliche Antwort.

Bei den meisten anderen Dichtern seiner Größe und Bedeutung fänden wir mühelos eigene Aussagen, mit denen sich Brücken zum Text bauen ließen. Gottfried Keller aber lässt uns zwar nicht vollkommen im Stich, doch wirklich hilfreich ist auch nicht, was er hinterlassen hat. Denn es sind nur ganze zwei substanzhaltige Aussagen, die sich auf die Novelle beziehen. Die eine geschrieben, als noch sehr wenig, ich vermute: fast nichts auf dem Papier stand, sie findet sich in einem Brief an Adolf Exner vom 25. August 1875. Adolf Exner (5. Februar 1841 – 10. September 1894) war als Rechtsprofessor mit nur 27 Jahren an die Universität Zürich berufen worden, wo er und seine Schwester Marie (9. Dezember 1844 – 6. April 1925) Keller kennenlernten und ihm recht bald freundschaftlich verbunden waren. Dokumentiert ist die Beziehung in einem Buch mit dem Titel „Aus Gottfried Kellers glücklicher Zeit. Der Dichter im Briefwechsel mit Marie und Adolf Exner“. Die zweite geschrieben am 18. Juli 1877 an Wilhelm Petersen, da war die Novelle bereits in Julius Rodenbergs „Deutscher Rundschau“ im Vorabdruck erschienen, die Buchausgabe in Vorbereitung. Der Literaturkritiker Petersen (20. Januar 1835 – 26. September 1900) war ein Briefpartner Kellers.

Im Brief an Adolf Exner breitet Keller seinen Novellenplan aus: „Der Landvogt ist ein origineller Zürcher, Landolt, aus dem vorigen Jahrhundert, der als Junggeselle gestorben ist. Der haust auf dem Schloss Greifensee jenseits des Zürichberges und ladet auf einen Sonntag, um sich einen Hauptspaß zu machen und auch ein Erinnerungsvergnügen nach all den vorübergegangenen Liebesstürmen, 6 oder 7 hübsche Weibsbilder ein. Die ihm alle Körbe gegeben haben, um sie einmal alle beieinander zu haben und zu sehen. So kommen sie zusammen, ohne es zu wissen. Jede glaubt seine besondere gute Freundin zu sein, und jede will ihn besonders bemuttern und bevormunden, und nun knüpft er ihnen die Haare ineinander, dass es eine Hauptlustbarkeit absetzt, d. h. wenn ich's machen kann; denn gerade diese Partie muss ich noch schreiben, das ist eben der Teufel! Sechs oder sieben Mädel, die alle artig und liebenswürdig sind, keine der anderen gleicht und auch jede etwas Komisches hat. Da kommt's nun wahrscheinlich auf eine recht deutliche und bündige Exposition aller einzelnen an, eine nach der andern, dass ihre Rollen am Tage des Gerichts schon von selbst gegeben und vorgeschrieben sind.“ Das alles verrät noch sehr viel Unsicherheit, setzt allenfalls einige Eckpunkte.

Zwischen diesem Brief und dem an Wilhelm Petersen, der auch zu Paul Heyse und Theodor Storm gute Beziehungen hatte, mit letzterem sogar recht eng befreundet war, hat sich Keller nie wieder zum Inhalt seiner Novelle geäußert. Alles, was überliefert ist, betrifft den Platz der Novelle im Zyklus, den Umfang des Manuskripts, vor allem aber neue und immer neue Vertröstungen darüber, dass er immer noch nicht fertig ist. Julius Rodenberg muss ein unendlich geduldiger Mensch gewesen sein, eine für alle Fälle gefüllte Schublade gehabt haben, denn schon die dritte Fortsetzung des Vorabdrucks im Januar 1877 musste ausfallen und einen Brief Kellers gibt es sogar, der ganz aus dem sonstigen Korrespondenzton fällt und den Eindruck macht, als habe der Dichter, ehe er zur Feder griff, etwas kräftiger zum Weinglas gegriffen. Da „die Forschung“ bis heute mehr als nur behutsam mit dem Umstand umgeht, den man in amerikanischen Filmen „Alkoholproblem“ nennt, soll auch hier nicht spekuliert werden. „Bedenken Sie, Allerschönster, dass ich meinen Figürchen nicht den Kragen umdrehen und die Druckerei sich auch einmal ein bisschen nach mir richten kann, sie wird das wohl zustande bringen.“ So am 12. Januar 1877, als wäre die Druckerei das Problem.

Wilhelm Petersen aus dem Norden Deutschlands aber hatte es in einem Brief vom 17. Juni 1877 bedauert, dass „Der Landvogt von Greifensee“ nicht mit einer Verheiratung ende. Das provozierte Keller zu seiner zweiten und letzten Selbstaussage. „Der „Landvogt“ kann mit einer Heirat nicht schließen, weil das Hauptmotiv der Novelle ja gerade in der Versammlung der alten Schätze eines Junggesellen und in dem elegischen Dufte der Resignation besteht, der darüber schwebt. Diese Resignation erhält ihre Vertiefung durch das Verhältnis der Figura Leu usw.“ Und zu der in der Novelle Rosengericht genannten Szenerie erfährt Petersen: „Die Gerichtsverhandlungen beruhen auf den einzelnen Anekdoten von der originellen Rechtspflege Landolts. Ich habe sie nur etwas plastisch aufgeputzt und in das von mir erfundene oder erlogene Rosengericht zusammengedrängt.“ Sehr ähnlich äußert sich übrigens in der Rahmenhandlung der „Züricher Novellen“ der Patenonkel zu Herrn Jacques, denn es sei daran erinnert, dass nach „Hadlaub“ und „Der Narr auf Manegg“ die dritte Novelle „Der Landvogt von Greifensee“ noch komplett in den Rahmen gefügt ist, weshalb Keller für die Buchfassung nachdrücklich für zwei Bändchen plädierte, diese drei in den Band 1.

Im Sinne der Rahmenhandlung ist der Landvogt das dritte Original, dessen Geschichte dem jungen Jacques in pädagogischer Absicht nahe gebracht werden soll. Deshalb gibt der Onkel dem Neffen zunächst erst einmal recht: „Diese Klage hat insofern doch eine gewisse Berechtigung, als solche Menschen, die wir im täglichen Leben Originale nennen, immerhin selten und es von jeher gewesen sind. Ist mit ihrem besonderen Wesen allgemeine Tüchtigkeit, Liebenswürdigkeit und ein mit dem Herzschlag gehender innerlicher Witz verbunden, so üben sie auf ihre zeitliche Umgebung und oft über den nächsten Kreis hinaus eine erhellende und erwärmende Wirkung, die manchen eigentlichen Geniemenschen versagt ist, und ihre Erlebnisse gestalten sich gerne zu kräftigen oder anmutigen Abenteuern.“ Und geht über zum Landvogt und dessen namentlich nicht genannten Biographen: „Einer unserer geistreichen Dilettanten hat sein Leben und Treiben in einem trefflichen Büchlein beschrieben, in welchem er aber über den unverehelichten Stand des Verewigten nur mit einigen dürftigen Andeutungen hinweggeht. Das hat mich gereizt, eine ergänzende Erzählung abzufassen, um den merkwürdigen Mann auch nach dieser Seite hin vor uns aufleben zu sehen.“

Diese angeblich in schwer lesbarer Handschrift abgefasste Ergänzung soll Jacques sauber abschreiben. Der letzte Satz vor Beginn der Novelle lautet dann: „Herr Jacques nahm das Manuskript seines Herrn Paten mit und fertigte in der Tat mit großer Sorgfalt und Reinlichkeit eine Kopie davon an, wie sie im Nachstehenden nicht minder getreu im Druck erscheint.“ Keller hat also seiner erfundenen Onkel-Figur seine eigene Arbeit unterschoben, seinen fruchtbaren Umgang mit dem Buch von David Heß aus dem Jahr 1820, das ihm seit 1873 zur Verfügung stand. Wann er seine erste Zeile schrieb, wissen wir nicht, wann er welche Änderung seines Konzeptes beschloss und ausführte, wie es im Brief an Exner nachzulesen ist, wissen wir auch nicht. Also nicht, warum er von sechs bis sieben Mädchen zum Schluss auf fünf kam, auch nicht, warum er den für das Treffen der „Schätze“ vorgesehenen Sonntag gegen den letzten Mai-Tag, den 31. Mai, tauschte, ohne das Jahr genau zu benennen, was zum Beginn gepasst hätte, denn dort hebt das Geschehen am 13. Juli 1783 an. Hätte er beim Sonntag und beim Datum bleiben wollen, wäre das Finale nach sechs Jahren ins Jahr 1789 gefallen, dann hätte wiederum Landolts angegebenes Alter nicht mehr gestimmt.

Wann immer Keller das erste Wort niederschrieb, welches es auch war: wir wissen, dass er des Buches von David Heß nicht bedurfte, um einen Bezug zum berühmten Landvogt herzustellen. Von seinem Vater Rudolf Keller, der früh starb und ein gelernter Drechsler war, hat Emil Ermatinger dies überliefert: „Von seiner Kunstfertigkeit zeugen noch vorhandene Arbeiten: sein sogenanntes Meisterstück, ein Schachspiel; ein zierliches Nadelbüchschen; die als Aufsatzfiguren über die Stockuhr der Familie gedrechselten kenntlichen Büsten Goethes, Schillers und des im November 1818 gestorbenen Salomon Landolt, des Landvogts von Greifensee.“ Von seiner Mutter Elisabeth, geborene Scheuchzer, dies: „Ein glücklicher Zufall hat den zartsinnigen Brief erhalten, mit dem der Vater sich an den angesehenen Zürcher Junker Gottfried von Meiß wandte und ihn um eine Patenstelle bei seinem ersten Sohne bat. Junker Meiß (aus der Linie der Meiß in Chamhaus stammend, geboren 1791, gestorben als Obergerichtspräsident in Zürich 1851) hatte vor Jahren eine zarte Neigung für Jungfer Elisabeth Scheuchzer, die jetzige Drechslersfrau, gefasst, ja beabsichtigt, sie als Gattin heimzuführen, war sie doch selbst dem seit 1810 auf dem Schloss Teufen in der Nähe von Glattfelden wohnenden Landvogt Salomon Landolt ans immergrüne Herz gewachsen.“

Eine Stockuhr, auch Stutzuhr, stand nicht auf dem Boden oder hing an der Wand, sie stand auf dem Kaminsims, einer Konsole, einem Schrank. Und die Zusammenstellung von Goethe, Schiller und Landolt ist mehr als bemerkenswert. Ob Mutter Elisabeth, die nach dem frühen Tod ihres Gatten eine überragende Rolle in Kellers Leben spielte, je von Landolt sprach, wissen wir nicht, können es vermuten, denn der Sohn wird nach den Figuren gefragt haben. Der dritte neben ausgerechnet Goethe und Schiller muss gar seine besondere Neugier erregt haben. Als er dann für das Cottasche Kunstblatt vom 26. September 1846 die Schweizer Kunstausstellung in Zürich besprach, schrieb er: „Die Blitz- und Knallkosakereien von S. Landolt mögen für alte Kriegsgurgeln ergötzlich, für einen reinern Geschmack aber werden sie nie erquicklich sein. Dies Urteil werden wir aber nur dann geltend machen, wenn man uns dieselben als etwas Bedeutendes aufdringen will; sonst sind uns der Eifer und die schnurrige Laune des seligen Eisenfressers ganz recht.“ Runde 30 Jahre vor Beginn der Niederschrift von „Der Landvogt von Greifensee“ war Keller auf alle Fälle mit der militärischen wie auch der künstlerischen Seite im Leben seines späteren Helden durchaus urteilsfähig vertraut.

In der Novelle fasst der literarische Landvogt den seltsamen, man könnte, um im Rahmen zu bleiben, auch originellen sagen, Beschluss, fünf Frauen auf sein Schloss zu laden, mit denen ihn in seinem früheren Leben, obwohl er noch keineswegs ein alter Mann ist, eine je spezielle Beziehung verband. Die Interpreten Kellers habe sich angewöhnt, von Liebesbeziehung, Liebschaften, Geliebten zu reden, nahezu unabhängig von dem Inhalt, den man normalerweise mit diesen Worten verbindet. Zugleich nennen sie den Landvogt selbst gern Hagestolz. In Filmen sieht ein Hagestolz oft aus wie einer, der einen Stock verschluckt hat und ein Halstüchlein trägt. Und es ist alles andere als abwegig, einen Mann, der zeitlebens keine wirkliche Beziehung zu einer Frau hatte, solchen Beziehungen gar aktiv auswich und sie vermied, zumindest nicht außerhalb jedes Verdachts der Neigung zum eigenen Geschlecht zu stellen. Es gibt auch aus Salomon Landolts Lebenszeit sehr prominente Fallbeispiele, die ihre Neigungen gar durch eine Scheinehe kaschierten. Auch hier soll keinen Spekulationen Vorschub geleistet werden, es ist nur wichtig, nicht einfach eine mögliche Deutung eines Lebenslaufs von vornherein auszuklammern, nur weil sie Vorurteilen entgegensteht.

Gottfried Kellers Salomon Landolt ist jedenfalls mit keiner der Damen, die er im Schloss um sich versammelt, jemals auch nur in die Nähe eines Bettes gelangt und es ist vielleicht ein besonders interpretierbarer Gag seiner finalen Inszenierung, dass die Damen vermeintlich zwischen zwei kaum gegensätzlicher sein könnenden Kandidatinnen für das landvogtliche Ehebett wählen sollen: seiner langjährigen Haushälterin Marianne, einer Witwe und Mutter von nicht weniger als neun jung verstorbenen Kindern und einem jungen Mädchen, das bedienen hilft und in Wirklichkeit der Sohn eines Pastors ist, verkleidet für diesen 31. Mai. Die Novelle ist so gebaut, dass sie selbst eine Art Rahmen bildet für die fünf „Liebes“-Geschichten, die der Landvogt eben seiner Haushälterin erzählt, um sie, die Herrscherin seines Haushaltes, gnädig und wohlwollend zu stimmen, denn an sie fällt die Arbeit, die Mühe. Die Damen tragen merkwürdige Kosenamen: Distelfink, Hanswurstel, Kapitän, Grasmücke und Amsel, nur Figura Leu, die zweite und mit Abstand wichtigste, weiß von dem ihren: Hanswurstel, und akzeptiert ihn. Sie liebt ihn, das wird vom Dichter mehrfach gezeigt, immer noch, hat einmal nach der eigenen Geschichte noch in seine eingegriffen, ist jetzt eingeweiht.

Ziemlich am Anfang von „Der Landvogt von Greifensee“ steht ein höchst verwunderlicher Satz: „Denn leider muss berichtet werden, dass der nun verhärtete Hagestolz nicht immer so unzugänglich war und den Lockungen einst nur allzuwenig widerstanden hatte.“ Da ist zunächst das unerklärliche „leider“, denn es ist ja die Erzählerstimme des Onkels von Herrn Jacques, die hier spricht. Woraus speist sich das Bedauern, kommt die Sicht auf Lockungen, die ja in der Mehrzahl der dann beschriebenen Fälle und Situationen gar keine waren? Wenn Landolts Meidbewegungen mit und ohne Hilfe mit allzuwenig Widerstand gleichgesetzt werden wie in diesem Satz, dann wagt man sich kaum vorzustellen, wie wirklicher Widerstand hätte aussehen sollen. Dem spielerischen Finale, möchte man im Rückblick auf den gesamten Text sagen, entspricht ja ein durchgehend spielerisches Vorher und umgekehrt: das spielerische Finale ist die gar nicht anders denkbare Konsequenz aller spielerischen „Liebes“-Geschichten. Und dabei treibt der Landvogt selbst in einem Fall, bei und mit der Grasmücke, ein sehr böses, ja ein verächtliches Spiel. Er schüchtert das filigrane Mädchen, indem er ihm sein Heiligtum, die Malkapelle vorführt, höchst unsensibel ein.

Sieht man das so und ich meine, es ist keine willkürliche Deutung wie vieles von dem, was Gerhard Kaiser in zum Teil abenteuerlichen Aussagen in sein umfangreiches Keller-Buch aufgenommen hat, dann erscheinen auch abwertende Charakterisierungen gerade der Grasmücke Barbara Thumeysen, der Tochter des ehemaligen Pfarrherrn und jetzigen Proselytenschreibers Elias Thumeysen (als des Landvogtes nicht würdig), geradezu abwegig, man möchte den heutigen Begriff diskriminierend ausnahmsweise unreflektiert anwenden. Weil er bei Klängen der Maultrommel Farbassoziationen hat, die sie nicht versteht, weil seine Art, seine Welt zu sehen, ihr durchaus körperliche Angst macht, soll sie das Problem sein, nicht er? Ich zitiere Karl Fehr: „Barbara Thumeysen versagt nicht nur vor der Bildnerei Salomon Landolts; sie versagt vor der ganzen Welt, weil sie mit ihrer Sonntagskunst eingesponnen blieb in einem Wolkenkuckucksheim, weil sie ihre Menschen aus Flitterwerk und nicht aus Fleisch und Blut zusammensetzt.“ Barbaras Collagen wären heute vielleicht modernste Kunst, wenn auch voller Naivität, während Landolts Bildnerei Gottfried Kellers Wohlwollen schon 1846 nicht hatte, obgleich er alle beide jetzt schwelgerisch beschreibt.

Das Kapitel „Hanswurstel“, von Interpreten mal Novellchen, mal auch Novellette genannt, hat einen hohen Eigenwert für spezielle Lesergruppen. Wer nämlich ein wenig bewandert ist in Schweizer Literaturgeschichte und ihren Wechselbeziehungen zur deutschen, der wird ein hohes Vergnügen finden in der Darstellung zweier Größen, denen man kaum übertreibend auch europäischen Rang zusprechen kann: Johann Jakob Bodmer und Salomon Geßner, letzterer als Idylliker meist rasch abgetan, ersterer vom Kampf mit dem Leipziger Gottsched her eher negativ als purer Streit-Exponent in den Speichermedien. Keller malt ein herrlich-herrliches Bild vor allem von Bodmer, er zeigt parallel den nebenberuflichen Porzellanmaler Geßner auf seinem Sommersitz im Sihlwalde als souveränen Hausherrn voller menschlicher Qualitäten und auch den Bodmer letztlich doch wieder als knorrigen Sympathieträger in seiner altvorderen Eitelkeit, seinen beleidigten Reminiszenzen über Klopstock und Wieland. Auch solche erzählten Exkurse muss es geben, die auf Vorkenntnis bauen inklusive erwartbarer Abwehrreflexe, verdoppelte Spiegelgeschichte eingebaut.

Es gibt Sätze in dieser Novelle, die einfach nur genossen werden wollen: „Ein am Hoftor statt eines Kettenhundes angebundener Wolf, der wachsam heulte und boll, konnte gleich als Wahrzeichen des absonderlichen Wesens gelten.“ Boll! Es ist nicht einmal wichtig, ob das eine regionale Wendung ist oder einfach ein Spaß, den Keller sich leistete. Wieder und wieder finden sich vorausdeutende Wendungen und Charakteristiken, die ihre Eigenart erst erweisen, wenn das Bedeutete dann auch erzählt ist. Das ist nun wahrlich kein Alleinstellungsmerkmal von Gottfried Keller, aber er handhabt es souverän. Und dann erzählt er Dinge, wie die von drei spanischen Brötlein, die die Grasmücke dem Landvogt quasi wie ein Vöglein aus der Hand pickt und man weiß nicht, was soll das denn nur bedeuten. Sucht man aber nach, dann erfährt man: Das „Spanisch Brötli“ ist eine Spezialität aus Blätterteig aus Baden bei Zürich und kommt ursprünglich aus Mailand. Im reformierten Zürich war es verboten, ein solches Luxusgebäck herzustellen. Die Dienstboten der wohlhabenden Züricher Familien holten das Gebäck aus Baden am frühen Morgen, wozu sie in der Nacht die 25 Kilometer bis Baden absolvierten. Keller führt gleich mehrfach subversive Verstöße wie diesen genüsslich vor.

Wenn er von den so genannten Mandaten berichtet, die in Zürich fast alles verboten, was schön ist und Spaß macht, die per Ausgangsverbot Bürger in die Kirche zwangen, die Essenszeiten begrenzten, weil der nächste Gottesdienst wartete, dann kann man das natürlich mit des Dichters Autobiographie in Verbindung bringen. Sein Verweis von der Schule, der ihm die Laufbahn eines Autodidakten aufzwang, geht auf einen evangelischen Lehrer zurück, kann man nachlesen und seither habe Keller Gott als Gegenstand seines Glaubens durch das Vaterland ersetzt. Man könnte dann auch allen denen folgen, die an die tatsächlichen Frauen in Kellers Leben erinnern. Karl Fehr etwa formulierte es so: „Stellen wir einmal den fünf Flammen Landolts, dem Distelfink, dem Hanswurstel, dem Kapitän, der Grasmücke und der Amsel, jene Namen zur Seite, die wir aus dem Lebensablauf Gottfried Kellers kennen: Henriette Keller, Luise Rieter, Johanna Kapp, Betty Tendering und die letzte: Luise Scheidegger. Wollten wir die ursprünglichen sieben in Betracht ziehen, dann wäre noch an Marie Melos und an Marie Exner, die liebenswerte Österreicherin, zu denken, mit der Keller in späteren Jahren einen so heiteren Briefwechsel gepflegt hat.“

Das klingt deutlich besser, als es ist, weil gerade die Details dieser Geschichten eher weg- als hinführen zur Novelle. Versteht man dagegen den literarischen Landolt als Projektionsfigur, als Wunschporträt Kellers selbst, dann könnte man tatsächlich an Lebensbilanz glauben, an imaginierte Heiterkeit und Souveränität. Es bliebe Humor auf dunklem Grund, auch das ist geltend gemacht worden und findet meine Zustimmung. Am Ende ist und bleibt Salomon Landolt allein wie Keller auch. Am Ende stirbt Salomon Landolt einen fast idealtypischen Mustertod nach erfülltem Leben, was Keller sich sicher auch für sich selbst wünschte, aber kaum so erleben durfte. „Er schenkte ihr ein Glas Burgunder ein, den sie liebte, von dem sie aber nur trank, wenn der Herr sie dazu einlud, obgleich sie die Kellerschlüssel führte. Das milderte schon etwas ihren Groll.“ Heißt es über den Landvogt, der seine Haushälterin Marianne gut kannte. Kellers Haushälterin war seine Schwester Regula, die ihm das Leben nicht nur erleichterte. Manche Andeutung findet sich in Kellers Briefen an Theodor Storm. Man könnte „Der Landvogt von Greifensee“ auch zum Anlass für eine heitere und zugleich ernste Studie nehmen: über die gestalteten Segnungen des Weines im Werke Kellers.


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