Reto Flückiger unter Zeitdruck

Im kommenden Jahr beginnt nicht nur an der Berliner Volksbühne alles von vorn (falls man bereit ist, René Pollesch als Remake von Frank Castorf als Neubeginn zu nehmen), auch im Tatort aus der Schweiz ist Neustart angesagt: Feierabend mit Luzern, Grüezi, Zürich. Ob das den dauermäkligen Luzern-Bemaul-Brigaden an neue Ufer hilft, weiß der liebe Geier. Meine altgediente Fernsehzeitung macht „Ausgezählt“ zum Tipp des Tages, was zugegebenermaßen bisweilen, vor allem wenn es um München ging, als Marketing-Maßnahme rüberkam, hier aber ist es etwas wie eine sehr verspätete Wiedergutmachung. Flückiger und Ritschard erhielten mit nervender Gleichförmigkeit Schulnoten, mit denen sich kein Abiturient eine Bewerbung an einer Fachhochschule für Müllverbrennung einzureichen getraut hätte und doch waren die Filme, die zuletzt oft die alte Saison beenden und die neue zu eröffnen hatten, so schlecht nie. Aber es ist wie mit der Volksbühne: Es gibt Kritiker, die am liebsten nackte Darsteller sehen, die sich in Sägespänen, Eigenurin und Kunstblut wälzen, während die Theatergänger ohne Riss in der Schüssel durchaus auch einen „Faust“ tolerieren, der nicht auf Hindi mit vier echten Flüchtlingen aus Eritrea als Gretchen auf die Bühne geschoben wird.

Eine Zeitung aus dem Funke-Westen suggerierte ihren Lesern gar, man bekäme diesen Tatort aus dem Doping- und Boxerinnen-Milieu nicht im Original zu sehen (der Zensor geht um), obwohl der nachfolgende Text eigentlich nur besagte, dass uns im ARD eine synchronisierte Fassung angeboten wird. Stimmen von Mundart-Zuschauern, die das Original lieben, werden genüsslich eingeblendet, ohne Rücksicht auf das wirkliche Publikum natürlich, dem in Thüringen allein das Geschwafel aus Schwaben schon wie gebrochen Hindi vorkommt, während sich in Schwaben alle Tölpel über das Sächsische lustig machen, das immerhin jedem Bio-Germanen und jeder Pass-Germanin bestens verständlich ist. Schon die Tatorte mit dem Major Eisner und der Bibi würden Untertitel durchaus vertragen, es kommt aber bei den Maul-Brigaden keiner auf die Idee, das zu verlangen. So weit, so schlecht. Ansonsten beginnt dieser Krimi mit Nahaufnahmen eines Frauen-Boxkampfes. Tut mir leid, liebe Frontfrauen der Emanzipation, ich finde nicht, dass Boxen Frauensport ist. Und ich sehe auch nicht gern, wenn sich Frauen totschlagen, egal ob mit oder ohne Doping. Wenn Regisseurin Katalin Gödrös jedoch gern in Milieus eintaucht, soll man ihr das auf gar keinen Fall ausreden.

Dass die ganz finsteren Gesellen sehr oft in Hochsicherheitstrakten sitzen, in denen es dennoch drunter und drüber geht, hatten wir öfter. Dass unter dem Personal der Justizvollzugsanstalten der eine oder die andere mal nicht ganz astrein sind, hatten wir auch schon. Nur ist das kein Argument, denn sonst dürfte es längst gar keine Krimis mehr geben. Wir hatten alles schon, selbst Sex, und mögen es doch immer wieder. Hier also ein aufgeziegeltes Männlein (Urs Humbel), das große Geschäfte in Bukarest wittert bei einem EM-Kampf und dabei über Leichen geht. Also Leichen als hinnehmbare Kollateralschäden des Frauen-Boxens akzeptiert. Der seine Boxerin in einen Keller sperrt, weil sie aufhören will. Der erschossen wird, womit die Situation entsteht, dass niemand weiß, wo die ohne Wasser und alles andere eingesperrte junge Frau zu finden wäre. Das knappe Wasser ist das große Problem, wie ich als Doping-Laie erfahre, denn man schwitzt mit bestimmten Mitteln mehr und müsste entsprechend stets mehr Flüssigkeit zu sich nehmen. Das Verdursten geht in diesem Fall viel schneller und ist natürlich auch viel grausamer, wobei das gesamte Polizei-Team dank einer im Keller-Verlies installierten Kamera dabei zuschauen darf. Ein Kampf gegen die Zeit.

Die Schweiz hat, ohne diesen Tatort hätte ich das nie in dieser Klarheit erfahren, pro Kopf der Bevölkerung mehr Schutzräume als jedes andere Land der Welt. Dafür hat die Schweiz aber auch Baufachleute, die mit einem Blick erkennen, von wann welcher Beton ist, weil sie wissen, wann welche Verschalung von der Österreichern erfunden wurde, was wiederum beweist, dass nicht alles die Schweizer erfunden haben in ihren Bergen, wohl aber die richtigen Hustenbonbons. Auch das geballte Betonwissen führt allerdings nicht gleich und eigentlich gar nicht in den richtigen Keller, weil der außerhalb des Such-Radius liegt. Immerhin, am Ende wird das Mädchen gefunden, der Vater weint, der Onkel erlebt im Gefängnis, dass der schlimmste aller schlimmen Finger mit einer Kugelschreibermine getötet wird. Der Onkel ist Polizist aus Zürich, wir ahnen, weshalb, er hätte auch aus Lausanne kommen können oder Bellinzona, dann aber hätte die deutsche ARD-Fassung noch ganz andere Probleme gehabt, denn das Schweizerdeutsche wird dort nun gerade gar nicht gesprochen. So aber nimmt ein Polizist aus Zürich den tödlichen Schuss auf seine Kappe, auch wenn er, wie wir zuletzt erfahren, nur auf eine Leiche schoss. Was so übertrieben oft nicht passiert.

Zwischendurch sehen wir, dass man ganzen Straßenzügen sekundenweise den Strom entziehen kann, in Argentinien und Paraguay schaffen sie das landesweit und gleich auf längere Sicht, und wir ahnen, wie es sein wird, wenn der Strom nur noch grün ist und ohne Leitungen auskommen muss. Liz Richard verdankt ihr Leben einem finalen Rettungsschuss, von dem wir nicht erfahren, wie er in der Schweiz genannt wird, der Schütze war in dunkler Zürcher Vergangenheit just dieser Polizist, der jetzt den Box-Manager während eines Adrenalin-Kollers erlegte. Es entstanden Abhängigkeiten, Dankbarkeiten, Gegenleistungserwartungen und der Zuschauer darf sich erst einmal wundern, wenn Delia Meyer ungläubig „Du???“ ins Handy spricht. Eugen Mattmann ist auch in dieser Folge mal barsch, mal unwirsch, aber er lobt sein Team auch einmal, was wir selten sahen seit 2012 in Luzern, wo ihm oft die Presse wichtiger war als die Ermittlung. Immerhin rufen in der Schweiz selten echte Innenminister an oder drängende Senatoren. Urs Bühler und Michael Herzig schrieben das Buch zu „Ausgezählt“ und erfanden für den ganz Bösen an der Spitze des Doping-Drogen-Kartells den wahrhaft seltsamen Namen Pius Küng, den Pit-Arne Pietz zu spielen hatte ohne sehr viel Dämonie.

Liz Richard jubelt dem Chef eine Haftungsgarantie unter zum Unterschreiben und Reto Flückiger beschwichtigt den im Moment des Erkennens auf fristlose Kündigung plädierenden Mattmann mit dem wahrhaft teuflischen Argument, ein Dokument mit einer echter Unterschrift könne keinesfalls Urkundenfälschung sein. Gut denn, dass der bestechliche Justizbeamte mit einer hochauflösenden Kamera alle Seiten des bunten Büchleins abfotografierte, das die entführte Boxerin (Tabea Buser) als ihre Lebensversicherung ansah, auch der JVA-Mann dachte dabei an Eigensicherung zuerst. Deshalb wird er an ein Garagentor gekettet mit Handschellen und dann nicht wieder gesehen. In der Haftanstalt zwingt Pius Küng einen seiner ihm hörigen Mitgefangenen, Teile des Büchleins zu verspeisen, mit und ohne Kaffee, und als dieser alles wieder auskotzt, bekommt er zur Belohnung einen so schweren Leberhaken, dass selbst der Polizist aus Zürich mitleidig wird, wenngleich nur, um den jungen Mann seinerseits zum Werkzeug zu machen (die Kugelschreibermine!). Man darf auf jeden Fall gespannt sein, welchen Abgang die eidgenössischen Macher ihrem Duo in der letzten Folge mit ihnen ins Drehbuch schrieben, gesendet wird im September, nach der Sommerpause.


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