Dürrenmatt: Abschied vom Theater

Er hat schon sehr früh sehr tückische Sätze formuliert, dieser Friedrich Dürrenmatt: „Wer einen Diktator einen Dämon nennt, verehrt ihn heimlich.“ Das steht unter der Überschrift „Sätze für Zeitgenossen“, die in den Jahren 1947/1948 geschrieben wurden. Das waren die Jahre seiner ersten beiden Uraufführungen: am 17. April 1947 brachte Regisseur Kurt Horwitz am Züricher Schauspielhaus „Es steht geschrieben“ auf die Bühne, am 10. Januar 1948 folgte im Stadttheater Basel „Der Blinde“ in der Regie von Ernst Ginsberg. Der neue Autor Friedrich Dürrenmatt war 26 beziehungsweise 27 Jahre alt zu diesen Zeitpunkten. Zehn, fünfzehn Jahre später galt er auch jenseits der Schweiz als ein Fixstern am Theaterhimmel, mindestens am europäischen. Weitere 15 Jahre später war er ein Lesebuchautor und hatte für nicht wenige im Publikum und für recht viele professionelle Kritiker seine beste Zeit hinter sich. Seinen Abschied vom Theater bereitete er in aller Stille vor, ehe er einen vergleichsweise langen Text dieses Titels zu Papier brachte, aus dem er dann zwei Teile machte, die nach seinem Tod wieder unter diesem einen Titel vereint wurden. Der, falls man mit einer bestimmten Erwartung an ihn herangeht, kräftig enttäuscht. Denn Dürrenmatt macht weit weniger seinen praktisch-tatsächlichen Abschied vom Theater nachvollziehbar, als er sein letztes Bühnenwerk „Achterloo“ erläutert, interpretiert und letztlich zu rechtfertigen sucht.

Heute, 30 Jahre nach seinem überraschenden Herztod am 14. Dezember 1990, sind in den Gegenden, die er im Blick hatte, als er von Diktatoren schrieb, die dämonisiert werden, alle Arten von Thematisierung des gemeinten Paradebeispiels immer noch mehr als nur up to date. Immer neue, meist kaum mit neuen Fakten ausgestattete Dokumentationen über den Schnauzbartträger aus Braunau am Inn bekommen gute Sendezeiten im Fernsehen, manchmal sind es nur Farbbilder und Filmchen von der Hand der Eva Braun, die das abermals zeigen, was nun wirklich jeder schon seit Guido Knopps selig-unseligen Zeiten dutzendfach gesehen hat. Es ist, zugegeben, nicht mehr die ganz stupide Dämonisierung erleichternder Selbstentlastung christlichen Ursprungs, die für alles Böse einen Teufel verantwortlich macht, der im Bedarfsfall nicht nur bei Goethe Menschengestalt annehmen kann. Dürrenmatt schaute 1947/48 über eine sehr nahe Grenze, noch nicht ganz ausschließlich in den Hinterkopf gerückte Vorstellungen parat, was gewesen wäre, wenn der Dämon auf die Idee verfallen wäre, das kleine Alpenland sich einzuverleiben. Allen guten Schweizern ist bis heute im Gedächtnis, dass die bösen Geßler-Gestalten aus Österreich kamen und in ruhmreichen Schlachten wie auch mittels Armbrustattentaten in hohlen Gassen ihre verdienten Strafen erhielten. Auch deutsche Nachrichtenmagazine haben extrem gern Dämonen mit Seitenscheitel auf dem Titel.

Am 12. Dezember 1990, anderthalb Tage vor seinem Herzversagen, sprach Friedrich Dürrenmatt mit Hardy Ruoss. Der 1948 in Graubünden geborene Literaturkritiker, der für die „Neue Zürcher Zeitung“, die „Schweizer Monatshefte“ geschrieben hatte, seine Dissertation galt dem bis heute unvergessenen Krimi-Autor Friedrich Glauser, arbeitete da für das Schweizer Radio DRS, war auch Juror im alljährlichen so genannten Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Das Gespräch beginnt, seltsam genug, will es nachträglich erscheinen, mit dem Tod, ausgerechnet mit dem Tod. Dürrenmatt sagt: „Dass man sterben muss, ist ein Wissen, das den Menschen immer begleitet. Der Mensch ist das einzige Wesen, das wir kennen, das weiß, dass es sterben muss. … Er kann das verdrängen. Der Mensch lebt eigentlich so, wie wenn er unsterblich wäre. Er will auch nicht altern, er lebt im Augenblick.“ Das sind zwar nicht eben Sätze, mit denen die philosophische Anthropologie zu neuen Höhepunkten geführt werden könnte, für Dürrenmatts Weltsicht, Weltbild, Weltmodell, durchaus auch in dieser Reihenfolge zu sehen, sind sie zentral. Man redet über den Roman „Durcheinandertal“ und sein Autor Dürrenmatt behauptet, es sei für ihn das lustigste Buch, das er je geschrieben habe. „Das kann ich mir heute leisten.“ sagt er und es klingt vielleicht nicht unbedingt stolz, aber dazu passt, wenige Sätze später: „Heute kann ich schreiben, was ich will.“

Das sagt er, so darf man es sehen, angesichts seines nahenden Todes, den er womöglich wirklich nahen fühlte, wir werden es nie erfahren. Die Folgerung aus beiden Sätzen wäre ja: Früher konnte ich es mir nicht leisten, konnte nicht schreiben, was ich wollte. Früher aber umfasste dann nahezu sein gesamtes Lebenswerk, all das, was er vor „Achterloo“, vor „Durcheinandertal“ schrieb. Ich weiß nicht, ob seither jemand Werk plus Nachlass unter diesem Gesichtspunkt durchforstet hat nach Spuren des Eigentlichen im Uneigentlichen, des Gewollten im stattdessen Gemachten. Wer etwa, ich gehöre dazu, die wenigen Kriminalromane aus seiner Feder liebt, sieht sich nicht wenig vor den Kopf gestoßen, wenn er zur Kenntnis nehmen muss: „Ich habe sie geschrieben, als ich es nötig hatte sie zu schreiben.“ Da scheint nicht nur über die Hintertreppe, aber laut genug, dass es auch die vordere sein könnte, die ganz alte, ganz deutsche, scheinbar so gar nicht schweizerische Abwertung von Unterhaltung. Gibt mit solchen Aussagen Dürrenmatt all jenen recht, die ihm nie verzeihen konnten, dass er „nur“ Komödien schrieb? Der große Gottfried Benn, nachdem er „Die Ehe des Herrn Mississippi“ gesehen hatte, hielt fest: „Man muss so dringend fragen, denn es handelt sich beim vorliegenden Stück nicht um eine Komödie, um einen Jux, sondern, wie der Schluss deutlich macht, um eine existentielle Tragödie.“ Warum nur nannte der Autor das Werk dennoch Komödie?

Benn, der als Dramatiker keine Spur in der deutschen Bühnengeschichte hinterlassen hat, auch wenn die „Gesammelten Werke“ unter der Überschrift „Szenen“ acht Texte nachdrucken, sah ganz offenbar ja nicht einmal einen Unterschied zwischen Komödie und Jux. Und hätte sich fragen sollen, ob auf Bühnen überhaupt existentielle Tragödien denkbar seien, denn dort werden seit dem Herauswachsen szenischer Darstellungen aus dem Tanz in der Frühzeit der Menschheit Tragödien gespielt, vorgeführt, gezeigt, ereignen sich aber immer nur im Leben, dem tatsächlichen. Wobei sie, das nun eine Erkenntnis Dürrenmatts, auf die er stets sehr viel Wert legte, letztlich immer auch mit Komischem kontaminiert sind. Shakespeare, der größte aller, die je für Bühnen schrieben, die im modernen Sinn auch Bühnen waren, wusste das so selbstverständlich, dass er vermutlich nie einen Gedanken darauf verwandte. Er baute seine Rüpelszenen in alles, was er schrieb und wenn spätere Schlaumeier das seiner Rücksichtnahme auf das Publikum zuschrieben, war das schon die bald allgemein üblich werdende Verachtung des Publikums. Überliefert ist, dass Friedrich Dürrenmatt auch in eigenen Stücken, wenn er sie sah, an Stellen lachen musste, an denen es sonst im Parkett still war. Von Brecht ist Ähnliches überliefert und beide haben sich immerhin sogar persönlich gekannt, auch wenn der eine Brasil rauchte, der andere Havanna und letztlich beide zu früh starben.

Als Dürrenmatt dann tot war, drei Wochen vor seinem siebzigsten Geburtstag, dessen Feier er, wie vernehmbar wurde, unbedingt entfliehen wollte, gab es natürlich die üblichen Nachrufe: einen schrieb Gerhard Stadelmaier, einen Reinhardt Stumm, einen Benjamin Henrichs (weitere seien hier vernachlässigt). Es fällt auf, dass zwei von diesen dreien es offenbar als ehrenrührig ansehen, dass Dürrenmatt zur Schullektüre geworden ist schon zu Lebzeiten. Dass Stadelmaier mit Dürrenmatt eigentlich wenig anfangen konnte, zeigt sein Nachruf, konnte man aber schon wissen, wenn man das Inhaltsverzeichnis seines sonst durchaus honorigen, vor allem aber aufschlussreichen Buches „Traumtheater. Vierundvierzig Lieblingsstücke“ je zur Kenntnis genommen hatte. Dort gibt es weder einen Max Frisch noch einen Friedrich Dürrenmatt: im wirklichen Leben nennt man das auch Abstimmung mit den Füßen. O-Ton Stadelmaier über Dürrenmatt und Brecht in einem Aufwasch: „Sie waren die zwei Dramatiker in diesem Jahrhundert, die sich den Ruhm teilen dürfen, so bekannt und auch beliebt zu sein, dass man sie getrost vergessen hat. Beide haben das Theater bewegt. Und dafür hat das Theater sich meilenweit von ihnen wegbewegt.“ Irrtum, Herr Stadelmaier, darf man heute, falls einen danach gelüstet, reinen Herzens rufen. Noch die Behauptung, dass „Die Physiker“ als einziges Dürrenmatt-Stück überlebten, muss als allzu vorschnell, allzu eifrig angesehen werden.

Geradezu haarsträubend aber erscheint 2020 ein Stadelmaier-Satz, den er am 15. Dezember 1990 beinahe triumphierend in der FAZ drucken ließ: „Die Weltgeschichte ist über Dürrenmatts Weltpessimismus hinweggegangen.“ Ist sie nicht. Im Gegenteil. Nur, würde sich Dürrenmatt heute wohl die Hände darüber reiben, dass er recht behalten hat? Das Rechthabenwollen war einfach nicht sein Problem. Gerade deshalb vielleicht hatte er so oft recht. Benjamin Henrichs hatte für seinen Nachruf etwas mehr Zeit, weil er für die ZEIT schrieb: „Wenn die Welt untergeht, ist die Stunde der fleißigen Propheten und der faulen Narren gekommen.“ Das klingt um Längen besser als es ist. Da die Welt noch nie untergegangen ist, ist der Satz nicht verifizierbar und wenn sie untergegangen wäre, wäre keiner mehr da, ihn nachträglich für weise zu erklären. Gemeint aber ist, was auch Stadelmaier schon glaubte meinen zu müssen: Die Welt ist über Dürrenmatt hinweggegangen. Henrichs hat die immerhin ergiebige Idee, sich weitgehend an „Romulus der Große“ festzuhalten, eine Parallele zu ziehen zwischen dem letzten Kaiser Roms und dem Theaterkaiser Dürrenmatt. Er ist aber leider zu sehr hin- und hergerissen zwischen dem, was er sagen will und dem, was er dann demonstrativ fast wider Willen doch sagt. „Friedrich Dürrenmatt hätte der größte, unverschämteste Komödienautor unserer Epoche sein können – aber das war ihm leider zu wenig.“ Wieso leider?

Unter der Maske des Komödianten Dürrenmatt findet Benjamin (für seinen Vornamen kann er nichts) Henrichs den Pädagogen, den Pastorensohn und den Strafprediger Dürrenmatt. Der Gedanke, einer könne das eine und das andere sein, kommt ihm gar nicht erst, tief sitzt das alte JaJaNeinNein, und was darüber ist, das ist von übel. Dürrenmatt kannte seinen Kant und seinen Hegel, seine Kritiker eher nicht, den Kierkegaard gar hat beinahe nur Annette Mingels im Zusammenhang mit Dürrenmatt gesehen (Dürrenmatt und Kierkegaard. Die Kategorie des Einzelnen als gemeinsame Denkform, Böhlau Verlag 2003), die aber wollte nie Theaterkritikerin werden, soweit ich sehe. Man bedauere jeden, der nur oder denken kann, nie und. „Und welcher Romulus ist der wahre Romulus? Und welcher Dürrenmatt der wirkliche Dürrenmatt: der Komödienschreiber, der die Welt höhnisch auslacht, oder der Prophet der letzten Tage, der ihr ernst, aber vergeblich noch einmal ins Gewissen redet? Sind Dürrenmatts Stücke große apokalyptische Farcen oder doch nur betulich moralisierende Pfarrhauskomödien?“ Was für Fragen! „Er verfügte mit imperialer Gebärde über alle Sprachen und Jargons dieser schlechten Welt – aber eine ganz eigene Sprache hatten seine Stücke und seine Figuren nicht.“ Was für eine Behauptung! Klar, das so einer den „Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“ als Zeitstücke sieht, die veralten müssen.

Verlockend wäre es, diesem Henrichs-Satz, auch wenn er nur trivial ist, weiter nachzusinnen: „Zeitstücke aber (das ist ihr Stolz und ihre Tragik) verwelken mit der Zeit, für die sie gemacht sind.“ Soll das heißen, es sei besser, es gar nicht erst mit Zeitstücken zu versuchen? Soll das heißen, es gäbe überhaupt bedeutende Zeitstücke, die für verwelkende Zeiten gemacht werden? Es scheint, als hätte der ZEIT-Kritiker zeitweise eine Zentralkategorie im Denken Dürrenmatts komplett aus seinem Horizont gestrichen: das Modell. Das aber macht seinen Nachruf zu einem, der schon welk in die Vase kam, kein frisches Wasser könnte ihn kräftigen. Reinhardt Stumm aber (13. Dezember 1930 – 12. April 2019), gestern hätte er seinen 90. Geburtstag gefeiert, war wohl nicht nur aus Altersgründen näher an Dürrenmatt, als er seinen Nachruf für die „Basler Zeitung“ schrieb, der am 15. Dezember 1990 dann gedruckt erschien. Er fragte sich: „Ist Dürrenmatt ganz einfach zu schwierig?“ Das Wissen Lichtenbergs, dass, wenn ein Kopf und ein Buch zusammenstoßen und es hohl klingt, das nicht unbedingt das Buch sein muss, hat sich seither verloren, die „inthronisierte Kritik“, wie Stumm sie nennt, würde nie auf die Idee kommen, die Füllung des eigenen Kopfes zu prüfen. „Jeder Mensch ist irgendwann, irgendwie in Verlegenheit zu bringen, bei Dürrenmatt war das offenbar unmöglich.“ Er war einer, „der mit unglaublich viel Mutterwitz und Komik völlig unangestrengt über die schwierigsten Dinge der Welt sprach.“ Kleinere Geister macht das nervös.

„Die Tragödie rennt gegen die Welt an und zerschellt, die Komödie wird zurückgeworfen, fällt auf den Hintern und lacht.“ So steht es gleich auf der ersten Seite von „Abschied vom Theater“. Und schon auf der zweiten Seite kommt er auf eine des zeitgenössischen Theaters, mit der er nichts zu tun haben möchte. Es sind die Klassiker-Inszenierungen landauf, landab. Die von Brecht ausgehende Theaterarbeit macht Dürrenmatt dafür verantwortlich, „dass sich das Theater von der Wirklichkeit abkapselt.“ Er diagnostiziert: „Es stellt nicht diese dar, sondern eine Ideologie über sie. Aus dem gleichen Grunde ist das heutige Theater in der Regel unfähig, Klassiker zu spielen, weil diese von einem Standpunkt beurteilt werden, der nicht der ihre war. … Das Problem der Werktreue stellt sich. Der Begriff ist nebelhaft. Die Klassiker müssen oft verschärft, aber dürfen nie verkleidet werden.“ Man muss nur Dürrenmatt selbst, und sei es hilfsweise, als Klassiker sehen, um zu erkennen, wie gnadenlos klar er seine eigene Situation sah, schon zu seinen späteren Lebzeiten, vor allem aber wohl auch sein Nachleben, bezüglich dessen er sich dann doch ein wenig geirrt hat. Man lese, was er in „Abschied vom Theater“ über Kleists „Der zerbrochne Krug“ schreibt. Da sind Spielideen formuliert, freilich nur für Regisseure, die nicht „wieder einmal gesellschaftskritisch sein“ wollten, doch leider: „Die Zeit der Peymanns ist gekommen, jede Maus zeigt ihre Pranke.“

Dreißig Jahre später darf festgestellt werden: eine Maus war Claus Peymann dann doch nicht, aber die Polemik ist hübsch und wir wissen spätestens seit Heine, dass das eine Eigenschaft von Polemik sein kann, die ihren Inhalt überlebt. Dann aber setzt Friedrich Dürrenmatt einen schweren Wirkungstreffer: „Eine reaktionäre Linke, die es nur noch im Theater gibt, inszeniert weiterhin gegen eine reaktionäre Rechte, die nicht ins Theater geht, zur Beruhigung des Publikums ein Schattenboxen.“ Hat sich daran sehr viel geändert? „Zum Glück brauchen die Zuschauer dank des zu verkaufenden Programmbuches nicht zu erraten, welches Stück der Regisseur inszeniert hat, sie können darin auch lesen, was der Regisseur vorgibt, bei seiner Inszenierung gedacht zu haben, und sogar was ein Dramaturg dachte, was der Regisseur auch noch gedacht haben könnte, und endlich kann er auch noch lesen, was der Autor hätte denken müssen, als er das Stück schrieb, statt Marx zu lesen ...“. Erschöpfender und prägnanter habe ich nie einen bestimmten Typus von Programmheft charakterisiert gefunden, man muss statt Marx dann allenfalls Foucault oder irgendeinen Guru der Dekonstruktion einsetzen und alles stimmte, stimmt und wird stimmen. Dürrenmatt hat sie alle ertappt, deshalb mögen sie ihn nicht, soweit sie ihn je gemocht haben. Und er drischt auch gleich noch auf alle aus der DDR in den Westen gekommenen Regisseure, kennt man die Namen noch?

Am Tag nach der Verkündung des zweiten Lockdown 2020 in Deutschland liest sich selbst solch ein Satz aus „Abschied vom Theater“ ganz anders: „Die Evolution der Säugetiere ist gleichsam mit dem Menschen abgeschlossen, sie findet vielleicht nur noch bei den Viren statt.“ In Zeiten, da Jakob Augsteins FREITAG Woche für Woche mehr oder minder prominente Menschen nicht nur fragt, ob sie Jan Fleischhauer oder Margarete Stokowski mehr mögen, sondern auch, ob Lüge in der Politik erlaubt sei, wird Dürrenmatt geradezu luftraubend aktuell. Er führt in „Abschied vom Theater“ sein „Romulus der Große“ als Modellspiel der Notwendigkeit von Verrat in der Politik vor. „Achterloo“ ist danach in seinen Augen eine zweiter beispielhafter Fall. „Die Widersprüchlichkeit der Zeit liefert meine Stoffe, ich schreibe keine Satiren, ich schreibe Paradoxien.“ Es hat schon Kritiker gegeben, die wussten, was das ist. Sie sind aber, in Dürrenmatts Sicht jedenfalls, Intellektuelle, was bedeutet: „Sie nehmen die Welt gleich zweimal in Anspruch: so wie sie ist und so wie sie sein sollte. Von der Welt, wie sie ist, leben sie, von der Welt, wie sie sein sollte, nehmen sie die Maßstäbe, die Welt zu verurteilen, von der sie leben ...“. Das Selbstzitat entstammt seinem Stück „Der Mitmacher“, das am 8. März 1973 am Schauspielhaus Zürich seine Uraufführung erlebte, in der Regie des polnischen Filmregisseurs Andrzej Wajda übrigens. Wer wirft rasch den ersten Stein aus seinem Glashaus?

Die folgende These zeigt, warum „Abschied vom Theater“ nicht als handliche Dürrenmatt-Bibel gedruckt wurde: „Der Nationalsozialismus äffte das Judentum nach, um es zu vernichten, und um es vernichten zu können, projizierte er in den Juden hinein, was er selber war, und projizierte aus ihm heraus, was er sein wollte – der Minderwertigkeitskomplex der Henker.“ Anders als noch 1968 im Stadttheater Basel meint er nun: „Der demokratische Sozialismus, den die Intellektuellen fordern, hat dabei keine Chance. Er fiel dem Wortmissbrauch zum Opfer, der mit dem Sozialismus getrieben wurde.“ Fast überraschend nach solchen Pointen gegen Ende des Abschieds dieses für mich rührende Bekenntnis: „Eines der schönsten kosmischen Objekte ist der Krebsnebel. Ein zartes blaues nebelhaftes Gebilde, rot umrandet und von weiß-rötlichen Bändern umschlungen.“ Dem kann eigentlich nur kommentarlos der Schluss folgen, der mit einem Fragezeichen endet: „Die alten Fluchtwege des Menschen sind verschüttet, er beginnt sich selber zu stellen. Er war sein eigener Feind. Er muss sein eigener Freund werden. Dann erst kann er seinen Nächsten wie sich selber lieben. Jesus war vielleicht der erste wirkliche Atheist. Aber was wissen wir von ihm?“ Die letzte Bearbeitung von „Abschied vom Theater“ vom 21. November 1990 erschien übrigens posthum in den von Heinz Ludwig Arnold herausgegebenen „Göttinger Sudelblättern“ (Wallstein Verlag) 1991.


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