Wenn der Erfolg nicht adelt, sondern ächtet

Wer Hermann Hesses Grab besuchen will auf dem zu Montagnola im Tessin gehörenden Friedhof St. Abbondio, kommt fast unvermeidlich auch am Grab von Hugo Ball und Emmy Ball-Hennings vorbei. Dies hat im zum Hesse-Jahr ausgerufenen Jahr 2002 mit derm 125. Geburtstag des Nobelpreisträgers für Literatur des Jahres 1946 am 2. Juli und mit seinem 40. Todestag am heutigen 9. August mehr als nur symbolisch zu tun. Denn der Katholik Hugo Ball war es nicht nur, der die erste und in vieler Hinsicht bis heute beste Biografie des Dichters verfasste aus Anlass des 50. Geburtstages von Hesse im Jahr 1927. Er war es auch, der seinem Freund ein wenig Neid eingab und viel Nachdenklichkeit über das Auseinanderfallen von Religion auf der einen und Kirche auf der anderen Seite.

Hugo Balls Biografie ist seinerzeit unter erschwerten Umständen entstanden: er war mit seinem Gegenstand persönlich und auch familiär sehr eng befreundet und dieser erfreute sich, als die Biografie erschien, durchaus guter Gesundheit und hatte noch 35 lange Jahre Lebens vor sich. Nimmt man nur die Publikationen dieses Jahres daneben, etwa das im Deutschen Taschenbuch Verlag eigens erstellte Porträt, das Klaus Walther schrieb, fragt man sich, warum diese verlegerische Investition nicht einfach unterblieb. Ein so ärmliches, so wenig Korrektur gelesenes und sogar von sachlichen Fehlern nicht freies Buch hätte niemand vermisst, wenn es nicht erschienen wäre.

Etwas anderes dagegen habe vielleicht nicht nur ich in diesem Jahr vermisst, in dem Hermann Hesse sogar für Guiness-Buch-Rekorde herhalten muss. Der SPIEGEL, der ohne Not 1958 dem damals 81 Jahre alten Hesse eine so bösartige Titelgeschichte widmete, dass der ewige Hesse-Herausgeber Volker Michels (Suhrkamp Verlag) noch Jahre später schrieb, sie habe nicht nur Hesse selbst, sondern ebenso alle, die sich zu ihm bekannten, der dauerhaften Lächerlichkeit preisgegeben, hat in souveräner Selbständigkeit kein Wort an den meistverkauften deutschsprachigen Autor des 20. Jahrhunderts verschwendet.

Dabei hätte der für die üblichen Verhältnisse des Nachrichtenmagazins unfassbar tendenziöse und von mindestens acht gröbsten sachlichen Fehlern auf immer sich selbst disqualifizierende ungezeichnete Beitrag eine späte Korrektur durchaus verdient. Hat er doch, wie Kenner meinen, eine ganze Rezeptionsgeschichte im westlichen Deutschland entscheidend und zwar entscheidend negativ geprägt. Es galt einfach als ehrenrührig, sich zu Hesse zu bekennen, es sei denn, man offenbarte eine so geartete Leidenschaft zeitgleich als glücklich überwundene Jugendsünde. Natürlich durfte man „Peter Camenzind“ (1904) gelesen haben, „Unterm Rad“ (1906), „Gertrud“ (1910) oder „Roßhalde“ (1912), die frühen Romane also, man durfte natürlich die Erzählungen kennen, die in den Bänden „Diesseits“ (1907), „Nachbarn“ (1908) oder „Umwege“ (1912) gesammelt wurden, die Gedichte, die Skizzen aus Indien, die von der vergeblichen Flucht in die Lebenswelt von Großvater mütterlicherseits, Mutter und auch Vater führten. Man durfte sogar begeistert gewesen sein. Dann aber gab es nur eine Pflicht noch: Reue zeigen und Lernbereitschaft.

Auch Theo Sommer, der damalige Chefredakteur der ZEIT, noch heute Flaggschiff unter den wöchentlich erscheinenden Publikationen und das Privileg zelebrierend, Artikellängen zu drucken, die jeder andere Chefredakteur ihrer schieren Länge wegen in den echten oder heute virtuellen Papierkorb werfen würde, hat sich in diese üble Traditionslinie eingeschrieben: er hat Hesse den „Gartenzwerg“ unter den deutschen Nobelpreisträgern genannt und sich dabei wahrscheinlich sehr wohl gefühlt. Dabei haben alle Niedermacher, auch die, die scheinbar gute Argumente auf ihrer Seite haben, ein Einfaches übersehen. Sie haben sich blindlings einer Wertordnung unterworfen, die sich zwar die Literatur unterwarf wie alle Kunst auch, aber fragwürdig ist und bleibt.

Es ist die Wertordnung, die Modernität mit Qualität gleichsetzt, die auf dieser geraden Linie natürlich nicht anders kann, als Avantgarde folgerichtig mit höchster Qualität gleichzusetzen. Da steht Hesse dann freilich zu jedem Zeitpunkt seines Lebens ziemlich dumm da. Als Quasi-Neu-Romantiker zwischen den schwappenden Wellen von Naturalismus und Expressionismus. Als pazifistischer Kriegsgegner im nationalen Geheul. Als bekennender Verächter von Politik inmitten von Bekenntnisorgien. Kann solch ein Mann mit seinem Werk, mit „Knulp“, mit „Demian“, mit „Der Steppenwolf“, „Narziß und Goldmund“, mit „Das Glasperlenspiel“, gar nicht zu reden von seinen wunderschönen Gedichten, die natürlich nicht alle gleichermaßen schön waren, auch nur die Spur einer Chance von Gerechtigkeit erwarten in einer Zeit, die hermetische Sprachexperimente unter der Flagge der „Konkreten Poesie“ bejubelte, die mit blödbegeisterter Miene vor monochrom blauen Flächen eines Yves Klein stand? Die Frage beantwortet sich von selbst. Und es ist schlimm genug, dass der vom Feuilleton gewissermaßen genüsslich verordnete offizielle Hesse-Boykott auf breiter Front erst durchbrochen wurde, als die Hesse-Manie aus den USA und aus Japan zurückschwappte.

Hesse passte zu einem zweiten urdeutschen Glaubensgrundsatz in Sachen Kunst nicht: er hatte Erfolg. Er hatte hartnäckig und über viele Jahre bei etlichen Generationen viel Erfolg. Jeder Wicht, dessen armselige Lautmalerei, jeder Pinselheinz, dessen „Komposition pur“ Lob nur bei dem Literatur- oder Kunstprofessor fand, der auf derartigem Boden deutend schmarotzt, rechtfertigt ja seit Zeiten seine eigene Erfolglosigkeit mit der angeblichen Seichtigkeit der Erfolgreichen. Und würde doch so gern auch einmal einen großen Preis empfangen. Auch einmal in die Talk Show geladen werden oder auf einer Titelseite prangen.

An seinen Arzt und Freund Dr. Josef Bernhard Lang schrieb Hesse am 26. Januar 1920: „Am liebsten gäbe ich jedes neue Werk unter einem neuen Pseudonym heraus. Ich bin ja nicht Hesse, sondern war Sinclair, war Klingsor, war Klein etc und werde noch manches sein...“. In diesem Jahr ist Hermann Hesse auch ein Mann, der froh sein dürfte, den Rummel um seine Person nicht erleben zu müssen. Vielleicht gibt es unter denen, die sich heute und in diesen Tagen seinem Grab nähern, mehr Menschen, die er gemocht hätte, als wir vermuten dürfen.
  Zuerst veröffentlicht in: FREIES WORT, 9. August 2002, Seite 24
  Dachzeile: Vor 40 Jahren starb Hermann Hesse in Montagnola


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