Zwei Jahre im Netz

Zu reden ist von heimlichen Freuden. Die nach und nach von ihrer Heimlichkeit einbüßen und doch rein bleiben als wären sie Schadenfreuden. Ich zitiere komplett meinen TAGEBUCH-Eintrag vom 15. Mai 2012: „Am 15. Mai 2011 um genau 17.40 Uhr erfolgte die lange vorbereitete Freischaltung meiner Seite www.eckhard-ullrich.de. Sie ist damit heute genau ein Jahr im Netz, fast täglich ein Quell der Freude und des Ansporns für mich, weil ich sehe, wie ich gelesen werde und weil aus der Art, wie gelesen wird,  Folgerungen zu ziehen sind, die weit über jede Statistik hinausgehen. Ich werde bei passender Gelegenheit mein NÄHKÄSTCHEN dazu öffnen, um aus ihm zu plaudern. Denn es ist am Ende gar nicht so sehr anders als bei einer gedruckten Zeitung: Man ärgert sich über jeden übersehenen Fehler, hat jedoch den Vorteil, ihn noch nachträglich korrigieren zu können, was der Journalist, der hartnäckig und ausdauernd begleitet und bekleidet verwechselt, eben nicht kann. Jede Entwicklung braucht seine Zeit, schrieb dieser Tage ein Sportkommentator männlichen Geschlechts. Nur ich kann dann hier reagieren und sagen: Das hat der Entwicklung so an sich.“

Ein Jahr ist exakt vergangen, bis ich tatsächlich mein NÄHKÄSTCHEN öffne und von korrigierten Fehlern rede ich nun nicht abermals. Ich habe Ulrike, die nicht nur eine schon angelegentlich erwähnte sensationelle Orangenmarmelade braut, sondern auch immer darauf achtet, wo ein falscher Buchstabe die Netzwelt beglückt. Beispielsweise neige ich dazu, „mir“ statt „mit“ und umgekehrt zu tippen, die Buchstaben liegen, wem sage ich das, auf der Tastatur oben direkt nebeneinander und weder dem begriffsstutzigen Rechtschreibprogramm noch dem den Text ja kennenden Eigenauge erscheint der Fehler als Fehler. Letzthin kamen wenig Korrekturmails von Ulrike, was entweder bedeutet, sie hat im Garten mehr zu tun als beim Lesen meiner Texte oder aber, dass selbige tatsächlich ohne die üblichen kleinen Ärgerlichkeiten auskamen, was keineswegs mehr Sicherheit auf meiner Seite anzeigt. Denn Blindheit eigenen Texten gegenüber ist eine Berufskrankheit, die sich freilich, Schadenfreude also unangebracht, nicht auf die eigentliche Qualität der publizierten Sachen bezieht.

Mein Maßstab ist hoch, mein Blick einigermaßen sicher, beides garantiert freilich nie und bei niemandem gleichbleibende Dauerqualität, folglich auch bei mir nicht. Ganz unbescheiden bilde ich mir freilich ein, dass es schon eine ganze Reihe Schreibender gibt, mit denen ich locker mithalte, von der Länge dieser Reihe schweige ich aus keineswegs gespielter Höflichkeit. Meine mit meinem in anderer Hinsicht extrem guten Gedächtnis kombinierte wunderbare Vergesslichkeit erlaubt mir, eigene Texte schon nach recht kurzer Zeit wie vollkommen fremde zu lesen. Und wenn ich, wie derzeit da und dort, gegen ein im unteren Bereich dreistelliges Honorar aus meinem in erster Auflage inzwischen fast vollständig verkauftem Buch „Kulturschock NVA. Briefe eines Wehrpflichtigen 1971 – 1973“ vorlese, dann habe ich gerade bei den paar Gedichten und der einen kleinen Erzählung, die eingeflochten sind, ein merkwürdiges Gefühl. Da muss ich mir dann schon sagen, dass ich 18, 19 und 20 Jahre alt war, als ich das schrieb. Damals wäre mir Schillers „Don Carlos“ nicht eingefallen, weil ich ihn noch nicht kannte, heute ist der späte Satz über die Ideale der Jugend mir so geläufig, dass ich ihn verschweige, weil ich ihn so eben nicht mehr unterschreiben oder an eine Fahne heften würde.

Zwei Jahre im Netz bin ich, soweit es meine eigene Seite betrifft, die ich mein Internet-Feuilleton nenne. Es ist eine sechsstellige Klickzahl in dieser Zeit zusammen gekommen. Wobei ich die Lesungen der täglichen TAGEBUCH-Einträge gar nicht einzeln kenne, dies wäre eine Installation, die ich haben könnte, nicht aber zwingend haben muss. Was ich täglich sehe, sind die Klickzahlen für alle einzelnen Texte aller anderen Rubriken und die sind Freudengründe. Erste Soziologien meiner Leserschaft wären ablesbar, ich habe jedoch keinen diesbezüglichen Ehrgeiz. So etwas wie das deutliche Ansteigen des Leserinteresses für Dresden-bezogene Texte nach meiner rundum angenehmen Lesung im Militärhistorischen Museum der Bundeswehr in Dresden ist spürbar von Tag zu Tag, es scheint also ein Weitersagen zu funktionieren. Und nicht zuletzt nennt das Buch ja hinten auch die Internet-Quelle, aus der zu beziehen ist, was ich schreibe.

Es ist eine Schule, täglich schreiben zu müssen, die so genannten Blogger wissen das, sie haben aber einen Vorteil mir gegenüber. Wenn sie die virtuelle Tinte nicht halten können oder meinen, der Welt wirklich mitteilen zu müssen, wenn am Morgen wieder einmal das Fünf-Minuten-Ei zu weich war, dann ergießen sie sich eben wie einst die kunstliebenden Klosterbrüder der Romantik. Es kommt ihnen und sie bremsen sich nicht. Mein Format sind exakt zehn Bildschirmzeilen in Thorndale 12 Punkt. Das sind verblüffend oft 153 Wörter, Spaßvögel mögen es austesten. Zwischen 140 und 160 Wörtern je nach Wortlänge sind es in fast hundert Prozent aller Einträge. Das erzeugt keine schreiberische BILD-Reife, aber es bewahrt vor Mitteilsamkeit. Sülze mit Remoulade mag ich auf dem Teller, nicht als Lesestoff. Übrigens aß ich nach der Lesung in Dresden eine geradezu sensationelle Sülze in einer Örtlichkeit namens „Köhler-Hütte“. Wo es auch Wildsülze gibt, die den rollenden Augen meiner Tischgesellschaft zufolge mindestens ebenso lecker ist.

In Rudolstadt aß ich, um hier keine Einseitigkeiten zu verbreiten, eine sehr feine Kartoffelsuppe. Deren Urheber kann ich hier leider nicht nennen, weil ich ihn nicht weiß. Ich werde ihn gelegentlich nachtragen, falls jemand mir die Informationslücke schließt. In Rudolstadt und Umgebung, jedenfalls bei Freunden des Rudolstädter Theaters, spüre ich ebenfalls eine gewachsene Leser-Neugier, meine uralte Besprechung des „Revisors“ behauptet immer noch den Platz 4 unter deutlich über 300 Texten im Netz (Tagebuch nicht gerechnet). Neun THEATERGÄNGE sind unter den Top 25, vier aus BÜCHER, BÜCHER. Würde ich mich nach Einschaltquoten richten, dürfte ich keine vergessenen oder wenig bedachten Autoren mehr in JAHRESTAGE würdigen. Doch da gibt es dann die wenig massenhaften, aber um so intensiveren Danksagungen aus der so genannten Fachwelt. Manchmal entstehen kleinere und größere Mail-Wechsel daraus. Die jüngste Freude: Martina Keun-Geburtig schrieb mir, die 1951 geborene Tochter von Irmgard Keun. Erinnerlich ist mir der Dank der Clara-Viebig-Gesellschaft. Manchmal bekennt Luise F. Pusch, dass ihr gefiel, was ich schrieb.

Als ich die Strittmatter-Biografie von Annette Leo verriss, bekam ich nicht nur die bösartige Attacke eines in Dresden lebenden Autors und eines Mannes, der mir seine Haftzeit in der DDR um die Ohren hauen zu müssen glaubte. Ich hatte plötzlich auch Freunde und Freundinnen aus einer Ecke, die mir gar nicht sehr sympathisch ist, was ich hier nicht vertiefen möchte. Ich weiß nun, dass der Satz „Die Feinde meiner Feinde sind meine Freunde“ keinesfalls stimmt, auch wenn Feinde für meine Fälle ein viel zu starker Ausdruck wäre. Mit einer seltsamen Zeitverzögerung, die es immer einmal wieder gibt, gehört meine LEO-Kritik zu den Longsellern, die fast Tag für Tag öfter als die meisten anderen Sachen gelesen oder geklickt werden. Mein ARBEITERFAMILIE IN ILMENAU interessierte zunächst buchstäblich niemanden, inzwischen steht es auf Platz 15. Der mit Abstand meistgelesene Text ist UPDIKE LIEST IN HEMINGWAYS NACHLASS, auf Platz 2 in jeder Hinsicht unangefochten der Meininger DARIO FO, BEZAHLT WIRD NICHT!. Als ich den Geraer Dario Fo besprach, war ich neugierig, ob das Interesse eher dem Autor oder aber tatsächlich der  Inszenierung galt. Bis jetzt spricht alles für die Inszenierung.

Zu den erfreulichsten Klickerfolgen rechne ich meine Besprechung von Dora Wentschers Kleist-Buch, derzeit Platz 24 mit anhaltender Tendenz nach oben. Das hat damit zu tun, dass gerade Weimarer Kultur-Würdenträgerschaft offenbar die Eigenschaft in sich bindet, gewöhnliche Kontaktaufnahme-Versuche zu ignorieren. Mehr schnöde Ignoranz als in Weimar ist mir nur noch in Arnstadt begegnet, wobei die Kulturligen, in denen beide Städte spielen, doch kaum zu vergleichen sind. Vielleicht bin ich einfach zu gut erzogen worden, um Ignoranz tolerabel zu finden. Vielleicht habe ich zu lange einen Job gehabt, der auf Publikum, in dem Fall Leser, angewiesen ist, um schnöde über sie hinweg sehen zu können. Wenn mich jemand etwas fragt, dann antworte ich. Ich kann ja immer ablehnend antworten. Gar keine Antwort aber finde ich, mit Verlaub, zum Kotzen. Ich wiederhole: Z-u-m K-o-t-z-e-n!!!

Zum Heulen schön dagegen finde ich, wenn jemand meine Besprechung des vollkommen vergessenen uralten Strittmatter-Buches „Paul und die Dame Daniel“ liest, in dem ich unter anderem sachlich richtig schrieb, dass mein Exemplar keinen Schutzumschlag besitzt und dann meldet sich nicht nur ein Leser, sondern dieser Leser bekennt sich als mein Fan, er schreibt tatsächlich, dass er sich „outet“, und er schickt mir (aus Naumburg) als Scan eben den fehlenden Umschlag. Wäre ich 46 Jahre jünger, schriebe ich: Deshalb schreibe ich. Aber das ist mir heute dann doch zu lyrisch, zumal ich ja auch schreibe, um schnöden Mammon damit zu erwirtschaften. Wenn ich heute mitten im Nachbarland auf dieses winzige Jubiläum einen „Wodka mit Gras“ über die Zungenwurzel rollen lasse, dann in der wilden Entschlossenheit, am Ball zu bleiben.


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