Schiller: Die Verschwörung des Fiesko zu Genua; Staatsschauspiel Dresden

Mit dieser Leonore rechnet man nicht. Sie ist laut, drastisch, bewegt sich wild-wütend wie ein Mädchen, das von den Türstehern einer In-Disco abgewiesen wurde. So darf man sich vielleicht Helene Hegemann vorstellen einst am „Berghain“ zu Berlin, ehe sie für ihr Buch auf den bis dahin vollkommen unbekannten Airen zurückgreifen musste, mangels eigener Szene-Erfahrungen. Bei Schiller ist Leonore 18 Jahre alt: „Blaß und schmächtig. Fein und empfindsam. Sehr anziehend, aber wenig blendend. Im Gesicht schwärmerische Melancholie. Schwarze Kleidung.“ Ihr Dresdner Eingangstoben hat die Ansprechpartnerin verloren, denn die beiden Kammermädchen Rosa und Arabella sind gestrichen. Sie fühlt sich vernachlässigt von ihrem Gatten, Fiesko, Graf von Lavagna. Der es allem Anschein nach mit Julia, der Witwe Imperiali, einer Gräfin und Schwester Gianettino Dorias, treibt und zwar so, dass es das Gegenteil eines Geheimnisses ist. Julia bei Schiller: „Dame von fünfundzwanzig Jahren. Groß und voll. Stolze Kokette. Schönheit verdorben durch Bizarrerie. Blendend und nicht gefallend. Im Gesicht ein böser mokanter Charakter.“ Gianettino bei Schiller: „Mann von sechsundzwanzig Jahren. Rauh und anstößig in Sprache, Gang und Manieren. Bäurisch-stolz. Die Bildung zerrissen.“ Jan Philipp Glogers Regie hält sich natürlich nicht an Vorgaben.

Auf der Bühne (Marc Bausback) sieht man zunächst einen schwarzen Aufbau, an die Außenseite eines Gasometers erinnernd, zweiteilig versetzt und drehbar, innen alles hell, innen diverse Gestaltungselemente, ein Tisch, einen optischen Hell-Dunkel-Kontrast, um nicht zu sagen: eine bühnenbildnerische Schwarz-Weißmalerei. Farbsymboliken kommen, soweit meine bescheidenen Kenntnisse jüngerer Inszenierungen reichen, eben bei Fiesko oft vor und zwar in deutlich politischer Demonstrierlichkeit: Sowohl Rudolstadt als auch Weimar (2008 und 2010) stellten das kaiserlich-monarchische Schwarz-Weiß-Rot gegen das zu denkende republikanische Schwarz-Rot-Gold der Publikumserfahrung. Mit derart vordergründigen Fingerzeigen belastet sich das Staatsschauspiel Dresden nicht, weil ein anderer Grundansatz verfolgt wird. Gloger sieht, das Programmheft entfaltet die Sicht auch nachvollziehbar, die Hauptakteure als Spieler. Jürgen Wertheimer war, wenn ich es recht sehe, mit seinem „Schillers Spieler und Schurken“, 2005 im Konkursbuch-Verlag erschienen, der erste, der für diese Lesart weitgehende Allgemeingültigkeit in Anspruch nahm.

Schien mir vor Jahren Schillers Zweitling noch durch Assoziationen gefährdet, die sich aus bestimmten stark veränderten Begriffsinhalten dem Text anlagern, so hat sich das wohl ebenso erledigt wie die Gefahr, in Schiller den ungestümen Verteidiger von Republik und Demokratie zu sehen, um ihn für ein bestimmtes Weltbild instrumentalisieren zu können. Viel eher ist Schiller als Mann zu sehen, dessen Denken und Schreiben sich sehr intensiv mit dem Begriff der Größe befasste, der „Fiesko“ gibt davon deutlichstes Zeugnis, verbunden damit ist sein Umkreisen von Herrscherfiguren, die einem bestimmten ohne Aufklärung nicht denkbaren Modell entsprechen. Die an die Genueser gerichtete Tierparabel, die Fiesko den Zuschauern im zwischenzeitlich erleuchteten Saal vorträgt, fast aus der Rolle tretend (das gab es in Weimar schon fast genau so), spricht eine überdeutliche Sprache, man muss nichts aktualisieren. Dagegen denkt beim Wort „Republikaner“ heute wohl kaum noch jemand an die verschwundene deutsche Rechts-Partei, eher noch an die eine der beiden ewigen Partein der USA, und das mit sicher kaum guten Gefühlen.

„Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“ hat 2015 das Problem eines politischen Konfliktkerns, dem niemand mehr Brisanz zusprechen wird. Es gibt wunderbar demokratisch funktionierende Monarchien (auch Herzogtümer), es gibt miese republikanische Staatsgebilde, in denen in fast allen wirklich entscheidenden Fragen die „Volksherrschaft“ kaum mehr als eine aus dem Altgriechischen übersetzte Sonntagsreden-Phrase ist. Was sollen also Konflikte uns bedeuten zwischen einem sehr jungen Mann (eine der immer offenen Schiller-Fragwürdigkeiten), der das Leben als Spiel fasst, und einem fundamentalistischen Republikaner, der fast eine heutige Ehrenmord-Mentalität zur Schau trägt (nur darin übrigens dem Gretchen-Bruder Valentin im „Faust“ verblüffend ähnlich)? Die schon genannte Parabel-Argumentation ist gerade deshalb so interessant, weil sie Denklogiken dessen in Frage stellt, was heute mit schöner Selbstverständlichkeit schlagwortartig „Political Correctness“ genannt wird. Man muss nicht über Demokratie in Afrika meditieren oder im Kaukasus, um auf den Gedanken zu kommen, dass wählen dürfen der Welt durchaus nicht mit Folgerichtigkeit zu besseren Zuständen verhilft. Jan Philipp Glogers Stücksicht liefert keinen Volkshochschulkurs in historischer Politologie. Und das ist gut so.

Er hat den Dogen gestrichen, dessen Neffe der Bösewicht Gianettino ist, er hat die Tochter des Fundamental-Republikaners Verrina gestrichen, Bertha, die von Gianettino vergewaltigt wird, er hat den Maler Romano gestrichen, der ein Bild zu malen hat bei Schiller, das bei dem vermeintlich vom Kampfeswillen für eine bessere Welt abgefallenen Fiesko zu neuer revolutionärer Motivation verhelfen soll. Ein Bild in einem mannshohen ovalen Rahmen ist geblieben. Darüber hinaus sind sämtliche Kleinrollen weggefallen, was nur dann noch überraschen würde, wenn es nicht die heutige Theaternorm wäre. Man neigt inzwischen dazu, sie nicht einmal wirklich zu vermissen, die Kleindarsteller sind sicher längst auf andere 400-Euro-Jobs ausgewichen. Und dennoch ist, es sei ohne jeden Abstrich gesagt, im Staatsschauspiel Dresden ein Schiller zu sehen, der Schauwert hat, das geht bei Schiller durchaus. Der sehr nahe bei Schiller ist und das nicht nur wegen des hohen Text-Aufkommens ohne Implementierungen, die es freilich auch gibt, aber eher als gute Weiterung, denn als penetrantes Haschen nach Originaltät.

Sicher gibt es neben dem Anfang, der mir allzu fanfarisch daherkam, auch da und dort in den netto zweieinhalb Stunden Spielzeit Punkte, Gesten, Aktionen, die Pastell besser vertragen hätten als Glanzlack. Aber insgesamt rundete es sich, insgesamt wirkte es ganzheitlich und sehr durchdacht, es karikierte, was wohl schon Schiller eher karikierend gesehen wissen wollte und das bekommt seinem gern schlecht geredeten republikanischen Trauerspiel bestens. Ich zitiere stellvertretend das pauschale Verdammungsurteil von Henning Rischbieter (1927 – 2013), der 1960 „Theater heute“ begründete und bis 1997 leitete: „Das Stück bleibt irreparabel und interessiert eigentlich nur als ein erster Versuch Schillers mit einem historischen Stoff und einer politischen Verwicklung.“ Wenn es so wäre, wäre jeder Inszenierungsversuch verlorene Liebesmüh'. Im Staatsschauspiel Dresden wird ein Gegenbeweis angetreten, der auch dem Premierenpublikum hörbar überzeugend geraten schien. Es applaudierte ausdauernd. In der Titelrolle verdiente sich Christian Erdmann diesen Applaus mit einer Vielzahl von Tönen und Nuancen. Nächst ihm nutzte Thomas Braungardt als Muley Hassan, der freilich kein Mohr von Tunis war und sich auch nicht wie seine Vorgänger in Rudolstadt und Weimar schimpansenhaft bewegte, das wunderbare Rollenangebot zum Glänzen.

Die beiden Frauen, Karina Plachetka als Julia Imperiali, und Ines Marie Westernströer als Leonore, zeigten, neben manchem mehr vor allem auch, dass das stets neu kolportierte Gerücht, Schillers Frauengestalten litten durchweg an Blässe und Konturlosigkeit, eben doch ein Gerücht ist und deshalb zwar unausrottbar, aber auch Widerlegung geradezu herausfordernd. Ihre Rollenbilder demonstrieren jenes mehrfache Kippen, das in der Theorie oft wie ein Popanz, gut gespielt aber wie Reichtum wirkt. Nächst ihnen waren unter den weiteren Männerrollen Tom Quaas als Verrina und Jan Maak als Gianettino Doria deutlich bemüht, keine Klischeefiguren vorzuführen, was gerade für den Lüstling und kommenden Diktator eine Herausforderung darstellt. Verrina ist in Dresden ein Mann des tönenden Wortes, er bildet mit den zur Karikatur tendierenden Herren Kalkagno ( Sascha Göpel) und Bourgognino (Kilian Land) ein situationsweise fast schräges Trio. Das komisch antimonarchische Pathos entlarvt sich selbst und offen bleibt wie bei Schiller, warum dieser Mann sich nicht selbst an die Spitze der Bewegung stellt, sondern ausgerechnet einen 23 Jahre alten Grünschnabel von mäßiger Zuverlässigkeit vorschiebt.

Der revolutionäre Windhund Fiesko darf sicher als selbstironisches Selfie Schillers gesehen werden, ohne dass damit schwerer Verstoß vorläge, denn der junge Mann mit roten Haaren, schwäbischem Dialekt und großen Ambitionen überstieg bei seinen heimlichen Helden mindestens der ersten vier Dramen kaum je den eigenen Altershorizont, aber stets die sachliche Wahrscheinlichkeit. Genau das darf Kunst, genau das darf man ihr jedoch auch abmerken. Die komischen Seiten der republikanischen Tragödie zeigen mindestens nebenbei, es soll mit pädagogischer Dreistigkeit und himmelwärts gerecktem Zeigefinger gesagt sein, dass auch das zweite Dauergerücht, Schiller und Shakespeare seien reine Kontrastfiguren, die Zähleibigkeit aller ähnlichen Gerüchte an sich hat und nicht stimmt. Tragisch ist ja allenfalls der Tod der jungen Leonore von der Hand ihres Gatten, der sie, im falschen Mantel, einfach nicht erkennt im Getümmel der Verschwörung. In Weimar war das komplett gestrichen seinerzeit, kaum zum Vorteil des Geschehens, das aber immerhin einen Dogen als Frau vorwies. Weshalb der letzte Satz Verrinas nicht gestrichen werden musste wie jetzt in Dresden, denn niemand geht zu jemandem, den es gar nicht gibt.

Der Schluss hat bei Schiller zwei sicher und eine nicht ganz so sicher verbürgte Version. Regisseur Gloger ließ eine spielen, in der Verrina zuerst den Abbau des Bühnenbildes langsam einleitete und dabei selbst Hand anlegt, während Fiesko sich in selbstherrlicher Rede erging. Er ist einfach nicht aus dem Konzept zu bringen, sich selbst genießend, nachdem er eben noch neben seiner toten Leonore kniete und keineswegs gespielt wirkende Trauer zeigt. Einer wie er geht eben rasch zur Tagesordnung über. Deshalb erlegt ihn der Republikaner Verrina, der übrigens, siehe Schwarz-Weiß-Symbolik oben, selbst grau in grau daherkommt, aus der Seitenloge mit zwei Schüssen. Der zweite ist nötig, weil Fiesko wie die sterbenden Helden der großen Oper weiter redet und redet wie jene singen. Weil es sie gab, sei sie abschließend eigens erwähnt: eine Kampf-Choreographie von Axel Hambach. Gehört Fechtunterricht eigentlich noch zur Mimen-Ausbildung?
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