Büchner: Leonce und Lena; Bühnen der Stadt Gera

Dass Darsteller schon präsent sind, während das Publikum nach und nach seine Plätze einnimmt, gehört mittlerweile zum Standardrepertoire von Inszenierungen, im Maxim Gorki Berlin gab es einmal sogar Rohkost von der Bühne herab für die erste Reihe, ehe es losging. Das MGT ist nicht zufällig Stichwort an dieser Stelle. Denn als dort der Postmigrantismus ausbrach, vom feinen Feuilleton hin- und umgerissen orchestriert, schien es unbefangenen Lesern entsprechender Elogen, als seien das prämigrantische Theater wie auch das migrantische selbst so etwas wie der Schnee von vorgestern, wie man ihn in den tieferen neuerdings gern Permafrost genannten Schichten von Tundren anbohren kann. In Gera gibt es Postmigrantismus ohne begleitende Blasmusik und auch die Geschlechterrollen werden getauscht, dass es eine Freude ist, wenn es eine ist. „Leonce und Lena“ ist ein herrliches Stück. Von Georg Büchner. Der in den wenigen Jahren seines Schreibens mehr Facetten von sich und der Welt zu Literatur machte als drei Jahrgänge Buchpreis-Longlist-Exponenten bis zum Erreichen der Rente wohl je schaffen werden.

In Gera hat die Elsässerin Catherine Umbdenstock den Regieauftrag erhalten, Bühne und Kostüme liefert die freie Bühnenbildnerin Elisabeth Weiss und nach den neunzig Spielminuten im Kleinen Haus ist beiden der Premierenstein vom Herzen keineswegs auf die Füße gefallen. Sie verbeugten sich brav und tapfer inmitten der Darsteller: solide Arbeit bekommt soliden Applaus. Philipp Reinheimer als Leonce verwandelt den Prinzen des Königreichs Popo zunächts in eine Art Kurt Cobain. Wer ihn als solchen nicht erkennt, weil er zu alt, zu jung, oder mit anderem Musikgeschmack als Grunge geschlagen ist, hat einen nur unwesentlich geringeren Spaßfaktor und aufklärende Interviews in Regionalzeitungen werden halt nur noch von wenigen vor einem Theatergang gelesen, weil Regionalzeitungen eben nicht im Ruf stehen, zum Theater Nennenswertes beizutragen, soweit sie nicht den Pressespiegel ganz kleiner Häuser füllen, deren Pressedamen auf dem autistischen Printmedientrip sind. Gera also nicht.

Also Philipp Reinheimer fällt die Aufgabe zu, die Langeweile vorzuführen, an der er genussvoll leidet. Das gipfelt oder mündet, es bleibt dem Zuschauergeschmack überlassen, in einem Vorträg der Ärzte-Titels „Langweilig“. Wohl demjenigen oder derjenigen mit der einfachen und wunderbaren, also einfach wunderbaren Idee, die benutzten Musik- und Gesangsbeiträge des Abends auf dem Programmblatt einzeln auszuweisen. Neben den Ärzten, die man nicht mögen muss, sind da noch Bob Dylan, die Rolling Stones, Nick Cave und Kylie Minogue, Raffaella Cara und die Gruppe Wind verzeichnet, die keineswegs mehr oder weniger zum gewussten Allgemeinwissen gehören wie etwa die diversen Fugen oder Etüden diverser Klassiker und Neoklassiker der so genannten ernsten Musik (war ein Scherz). Dass weitere Musik Eigenkompositionen und Interpretationen des Hauptdarstellers bot: Hut ab. Man sah schon mehr Proben des Geraer Multitalentschuppens, ohne sich über sie geärgert zu haben.

Als die DDR im Hinscheiden begriffen war, erfreute der führende Verlag seine Literaturfreunde noch einmal mit einem dicken Band „Studien zu Georg Büchner“, darunter 42 Druckseiten von Thomas Wohlfahrt zu „Leonce und Lena“, ergänzt durch stolze 177 Fußnoten, die weitere zehn Druckseiten füllten. Ihre Hauptleistung: sie schmuggelten französisches strukturalistisches Denkgut inklusive Vokabular ein, ohne dies als solches kenntlich zu machen oder gar für den Uneingeweihten zu erläutern. Gemäß dieser Abfüllung des alten Büchner-Weines in einen neuen westalliierten Schlauch ist in „Leonce und Lena“ etwas, was man (Kleinschreibung absichtlich) histoire nennt und etwas, was man discours nennt, das eine ist zu Ende, während das andere noch anhält. Die histoire ist einigermaßen rasch hererzählt, in Gera wie auch sonst dauert es eine Weile, bis man ihr auf die Schliche kommt. Leonce und Lena sollen heiraten nach dem Willen des Königs Peter, welcher danach das Zepter aus der Hand legen will. Weder kennt Leonce Lena, noch Lena Leonce, was früher eher der Normalfall war, hier aber zum Lustspiel geraten soll, weil Büchner das so will. Als beide sich treffen, wissen sie nicht, dass der andere der nämliche ist und umgekehrt.

Catherine Umbdenstock hat mit verblüffend sicherem Instinkt (und vielleicht auch tätiger Hilfe) an den passenden Stellen des Dreiakters auf Text pur vertraut. Die Darsteller haben diese ihre Konzeption beeindruckend umgesetzt. Denn dieser Büchner ist bei aller scheinbaren Verspieltheit, die eben oft auch eine tatsächliche ist, bei aller scheinbaren Oberflächlichkeit, die ebenso oft eben keine ist, hochpoetisch, er ist von rasanter Ironie bisweilen, philosophisch sowieso und er füttert die Freunde solcher Subtexte auch mit Anspielungen. Ich will nicht wiederholen, was ich vor dreieinhalb Jahren an dieser Stelle zur Coburger Inszenierung von „Leonce und lena“ schrieb, es ist leicht aufzufinden. Auf eine Frage, welcher Büchner-Satz ihr am besten gefallen habe, antwortete die Regisseurin einer Reporterin: „Heiraten! Das heißt einen Ziehbrunnen leer trinken.“ Ich bin mir nicht sicher, ob es schwieriger ist, einen Ziehbrunnen oder einen anderen Brunnen leer zu trinken. Mein Lieblingssatz lautet, gesprochen von Leonce: „Unglücklicher, Sie scheinen auch an Idealen zu laborieren.“ Das ist an Valerio gerichtet.

Valerio kommt in Gera zunächst fast wie ein Doppelgänger daher, ihn spielt Johanna Paliege, ohne die die Regisseurin vielleicht gar nicht in Gera gelandet wäre. Auch sie muss und darf musikalische Talente demonstrieren (und akrobatische). Sie singt Dylans „Death is not the End“. Wie zur Wiederherstellung des Gleichgewichts der Geschlechter ist die Rolle der Rosetta mit Henning Bäcker besetzt, er singt mit Philipp Reinheimer „Where the wild roses grow“ Und trägt ein Kostüm, insbesondere Strümpfe, die meinen Sitznachbarinnen elementar in die Augen stachen und bewundernde Kommentare provozierten. Die hyperaktiven Büchner-Forscher haben  längst herausgefunden, dass die Handlung von „Leonce und Lena“ kaum mehr als vierundzwanzig Stunden umfasst. Was wie Folge scheint, ist Zeitgleiche, Raum und Zeit, wir verlassen das Thema sofort wieder, seien modern behandelt, also vorausweisend ins zwanzigste Jahrhundert der Moderne. Demzufolge wäre, was immer jeweilige Regie für Italien auf die Bühne stellt, am allerwenigsten ein irgendwie reales Italien als Ziel einer Reise oder Flucht gar, es scheint nur so.

In Gera ist Italien eine Imbissbude, die sich drehen und besteigen lässt, auf der Rückseite ein Sitzensemble von multipler Verwendbarkeit. Da lässt die Regie nun richtig die Sau raus: Innen schauen zwei auf der Mikrowelle Fußball, dann sind drei an der Pizza-Strecke zugange, dazu die schon erwähnte Raffaella Cará. Inzwischen ist Lena im Spiel, Esra Yasar spricht sie mit Akzent, sie stammt aus der Türkei, Akzent gibt es auch bei Rachelle Ouedraogo als Gouvernante und Ouelgo Téné als König Peter, beide aus Burkina Faso, die Regisseurin verständigte sich mit ihnen, las ich, auf französisch. Und das alles in Gera! Man muss nicht bis Berlin, um Tschechow oder Gorki auf türkisch zu sehen. Büchner hat „Leonce und Lena“ geschrieben, um einen Preis mit Preisgeld zu gewinnen. Er trug den Sieg nicht davon und steht seitdem mit seinem Verlierertext ganz weit oben in der Rangliste der genialsten deutschsprachigen Lustspiele. Die Sieger von einst kennt niemand mehr, falls sie je jemand kannte.

Hohen Schauwert lieferte Manuel Struffolino als Präsident und Souffleur seines Königs. Wie er den Blick auf die Uhr warf alleweil, wie er dem König den Weg wies, wie er versuchte, den scheintoten Leonce wiederzubeleben, der ihn zum Dank dann fast zum Kollaps knutschte, Lustspiel mit Betonung auf Lust und Spiel zugleich. Ouelgo Téné als König Peter dabei natürlich ein Partner auf Augenhöhe. Die Art der Sprüche zu demonstrieren, sei Leonce zitiert, an den Präsidenten gerichtet: „Sagen Sie einem höchsten Willen, daß ich alles tun werde, das ausgenommen, was ich werde bleiben lassen, was aber jedenfalls nicht so viel sein wird, als wenn es noch einmal soviel wäre.“ Wer je die burlesken Narren-Szenen bei Shakespeare las oder hörte, falls sie der Regie nicht zum Opfer fielen, wird wissen, aus welcher Quelle diese Dialogführung schöpft. Nicht selten waren sie bei Shakespeare einfach des Kontrastes wegen im Text, ob sie nun fugenfrei passten oder ob es in der Folgelogik quietschte, das Publikum wusste, warum es genau das liebte. Büchner hat auch am romantischen Lustspiel der Zeit angeknüpft, das niemand mehr kennt, Shakespeare aber sehr wohl.

Auch in Gera gibt es eine Hochzeit „in effigie“ und was es nur in Gera gibt, sind drei potentielle Bräute mit Schleier, dazu eine Schaufensterpuppe, deren Ja-Wort nicht zwingend nötig ist. Auch in Gera hängt hinten die seltsame Utopie-Formulierung, die die Zeit außer Kraft zu setzen wünscht, auch in Gera sagt der Präsident: „Ein königliches Wort ist ein Ding – ein Ding – ein Ding – das nichts ist.“ Als revolutionären gesellschaftskritischen Spruch will das heute niemand mehr sehen. Dass König Peter sich nach dem Regieren nun dem Denken widmen möchte, spricht für eine besonders zarte Sicht auf Arbeitsteilung. Die Regierungsfähigkeit von Meisterdenkern war zu Georg Büchners Zeiten noch nicht erprobt und hatte deshalb Charme. Heute wissen wir, dass dergleichen Versuche mit langweilender Regelmäßigkeit scheitern. Die Altenburger Premiere dieser feinen Inszenierung soll am 22. Mai sein. Die dortigen Theatergänger dürfen sich jetzt schon freuen.
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