Lessing: Emilia Galotti; Schauspiel Leipzig

Von den ursprünglich 80 Minuten Spielzeit sind seit der Premiere am 5. Oktober 2013 noch einmal fast zehn Minuten verloren gegangen. Wo das Tempo seither beschleunigt wurde, ist nicht erkennbar. Diese „Emilia Galotti“, die natürlich ohne Pause gespielt wird, gehört in den Thalheimer-Trend und das nicht einmal nur deshalb, weil die Musik wie seinerzeit in Berlin nun auch in Leipzig von Bert Wrede verantwortet ist, was ganz zu Anfang sogar kurz so klang, als werde die Musik-Gestalt des bürgerlichen Trauerspiels einfach kopiert. Dieser Eindruck verflüchtigte sich immerhin sehr schnell. Auch das aus sechs viereckigen dunklen Säulen bestehende Bühnenbild von Hugo Gretler wirkt ein wenig wie Zitat. Die eine Achse auf der Drehbühne bildenden Säulen verteilen das spärliche Licht (Carsten Rüger), das meist in Richtung Zuschauerraum strahlt, so, dass Dunkelheit überwiegt bis zum Ende.

Anders als Michael Thalheimer hat Regisseur Enrico Lübbe dem Prinzen von Guastalla (Ulrich Brandhoff) wenigstens etwas von seiner politischen und sozialen Dimension belassen, der Leipziger Prinz ist tatsächlich noch rudimentär mit Aufgaben des Regierens befasst, seine problematische Natur ist anders als in Berlin, wofür Lob und Ruhm nicht enden wollten, schlaglichtartig erhellt durch die Art und Weise, wie er ein Todesurteil im Vorbeigehen bestätigt und seinem dienstbaren Geist Marinelli (Michael Pempelforth) dazu wie bei einem guten Scherz an den Oberarm haut. Dieser verliebte Prinz vereint einander scheinbar extrem ausschließende Eigenschaften. Optisch ist er von Marinelli deutlich abgesetzt, Brandhoff bleibt den ganzen Abend barfuß, leger-locker gekleidet, während Pempelforth schon in der Grauzone zur Überdeutlichkeit mit Anzug und Krawatte agieren muss, dazu mit schon jenseits der Grenze liegender Schniegel-Frisur. Wer Lessing nicht mehr als eine reichliche Stunde gönnen will, muss streichen, was nur irgend geht, ohne auf einen letzten Handlungskern zu verzichten.

Der ist der bekannte und blieb in Leipzig erkennbar. Der Prinz begehrt Emilia Galotti und nicht mehr die Gräfin Orsina. Emilia Galotti soll an diesem Tag den Grafen Appiani (Jonas Fürstenau) heiraten und dann mit ihm aufs Land ziehen. Emilias Eltern Odoardo und Claudia mögen den künftigen Schwiegersohn sehr und können die Hochzeit kaum erwarten. Der Prinz spricht die Angebetete in der Kirche von hinten an und setzt sie in äußerste Verlegenheit. Der Gedanke, sie ausgerechnet an diesem Tag an einen anderen zu verlieren, ist ihm unerträglich. Er gibt deshalb dem sich dazu anbietenden Marinelli vollkommen freie Hand für jegliche zum Ziel führende Intrige. Das Ergebnis konstituiert die Tragik des Geschehens: der Bräutigam Appiani wird Opfer gedungener Mörder, sie sind in Leipzig nicht gestrichen wie bei Thalheimer, sie dürfen sich sogar schwarze Handschuhe überstreifen, ehe sie zur für den Zuschauer unsichtbaren Tat schreiten.

Alle Darsteller müssen sich beeilen mit ihrem Text, viel Spiel ist ihnen nicht möglich und wohl auch nicht erlaubt, da sie auf das Thalheimer-Mittel des Stakkato-Redens verzichten. Das Ergebnis lässt nicht auf sich warten, Enrico Lübbe setzt eher auf den artikulierten Vortrag des jeweiligen Rollentextes als auf Gestik, Mimik, Körpersprache. Vor diesem Hintergrund glänzt Henriette Cejpek als Mutter Claudia geradezu, sie nutzt die knappe Zeit ihrer Auftritte zu eindrucksvollem Vorführen der rasch wechselnden Seelenlagen ihrer Figur: mal lässt sie sehen, wie sie mit der Tochter fühlt und gar fiebert, mal wird sie starr und abweisend, Rollen-Mutter, die der Tochter den rechten, den gottgefälligen Weg zu weisen hat. Gatte Odoardo (Denis Petković) und in etwas geringerem Maße auch Anna Keil als Emilia, haben dem wenig entgegenzusetzen. Anna Keil knüllt am Kleid oder reibt die Hände am Stoff, nach ihrem Abgang zum Umziehen trägt sie immer noch das Kleid des ersten Auftritts. Während Denis Petković Freude durch Tänzeln anzeigt und später minutenlang mit offenem Mund steht wie blöde, da wäre sicher mehr möglich.

Stichwaffen als Todesursache sind offenbar inzwischen vollkommen aus der Mode gekommen, das mag am verpönten Bühnenblut liegen oder an der oft unfreiwilligen Komik gespielten Stechens und Durchbohrens. Ob die auch in Leipzig als Ersatzwaffe zum Einsatz kommende Pistole wirklich ein geeigneter Ersatz ist, bezweifle ich, so oft ich diese Lösung auf einer Bühne sehe, es wird einfach zu oft geschossen und wir sind doch noch immer nicht ganz amerikanisiert. Dass Emilia ihren der finalen Tat unfähigen Vater Odoardo anbrüllen muss, um selbst die Pistole in die Hand zu bekommen, die noch vorher ja in der Hand der Gräfin Orsina (Bettina Schmidt) war, passte wenig zu ihrer Rolle, am Ende ist sie es dem Anschein nach selbst, die den Schuss auslöst, den väterlichen Tochtermord so vermeidend. Der Vater schaut dem Geschehen zwischen den Säulen zu, dem ein inniger Kuss zwischen Prinz und Emilia vorausgeht, leicht abseits von Lessing, wie sich versteht. Es wird auch in Leipzig zu viel gebrüllt, immer ein Zeichen, das andere spielerische Mittel fehlen, falls man der Regie nicht Absicht unterstellen will. Der Schnarcher in der Reihe hinter mir erschrak immer hin brav, während die beiden mittelalten Frauen neben mir wenig begeistert waren.

Zweimal hat Enrico Lübbe seiner Inszenierung markante Kuss-Szenen eingefügt. Zunächst schnappt sich Appiani Marinelli, der sich heftig wehrt, dessen Widerstand dann aber rasch immer geringer wird, bis man den Eindruck gewinnt, dieser männliche Kuss sei eigentlich das, worauf er steht. Die schließlich tödliche Wut auf Appiani kommt danach vielleicht sogar mehr aus diesem Gefühl des Zurückgestoßenwerdens als aus einer Urfeindseligkeit aus der Zeit vor Handlungsbeginn. Auch den zweiten Kuss empfängt Marinelli, diesmal von den Lippen der Gräfin Orsina. Auch in Leipzig haut es Marinelli buchstäblich um, nur diesmal vor Ekel, er würgt und kotzt leider ganz naturalistisch, das kann man mögen, muss es aber nicht. Immerhin, Bettina Schmidts Orsina ist eher schlagfertiges Alpha-Mädchen bis zum schnippischen Selbstgenuss als jene zutiefst verletzte Frau, die Lessing in ihr sehen wollte und nicht wenigen großen Darstellerinnen zur Traumrolle geriet. Ihre Gesten sind oft theatralisch, aber sie provoziert immerhin ein Lachen im Publikum mit ihrem Vergleich von denkender Frau und geschminktem Mann, der natürlich bei Lessing zu finden ist. Das Publikum klatschte zurückhaltend.


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