Friedrich Hebbel: Die Nibelungen; Südthür. Staatstheater Meiningen

Jeden griechischen Troja-Krieger kennen wir besser und genauer als diese Nibelungen, Amelungen, Heunen und sonstigen Völkerwanderer. Ich frage nicht, ob das gut ist. Ich frage auch nicht, warum das so ist, obwohl das sicher gut wäre. Seinerzeit führte die vollkommen unblutige Entführung einer durchaus nicht gänzlich abgeneigten jungen Frau namens Helena zu einem zehn Jahre andauernden Ausrottungskrieg an der kleinasiatischen Künste. Hier sorgt der feige Mord an einem einzelnen Siegfried über einen vergleichsweise kurzen Umweg zu einem Gemetzel auf leicht erweiterter Königsebene. Über dem einen scheint ewig die Sonne, das andere wird nur aus technischen Gründen nicht in Dauernebel getaucht. Wenn wir sie also überhaupt kennen, dann weil es in regelmäßigen Abständen Gewaltakte mit Wagner gibt, für dessen Ringe die Kenntnis der Textbücher unerlässlich ist, weil den Gesang man herkömmlich einfach nicht versteht. Immerhin: in der Oper lacht gemeinhin niemand, wenn eine Leiche noch eben rasch ihr Rezitativ zu Ende bringt, im Sprechtheater ist der sich zweimal erhebende Siegfried ein Running Gag.

Damit sind wir in Meiningen. Das Südthüringische Staatstheater nimmt sich ohne allzu starken Bezug zu Hebbel-Jubiläen des Jahres 2013 Friedrich Hebbels „Die Nibelungen“ vor. „Ein deutsches Trauerspiel in drei Abteilungen“ heißt das im Untertitel, es sind alles in allem elf Akte und es gab Zeiten, da spielte man das an zwei Abenden. Strukturell ist das nicht weit von Schillers „Wallenstein“ mit dem einaktigen „Lager“ vorn dran, das bei Hebbel „Der gehörnte Siegfried“ heißt. Außer für Einsnuller-Abiturienten ist eine Fußnote vielleicht nicht ganz überflüssig, gehörnt heißt hier nicht: von der Gattin betrogen, es meint jenen Helm, den wird aus „Asterix und Obelix“ kennen, also aus der modernen Geschichtsschreibung. Helme gibt es in Meiningen nicht, das wäre Meiningerei. Die fürs Museum gut, fürs Renommee des Hauses heute schlecht wäre. Man erinnert sich der Attacken auf den Intendanten als Regisseur, als er es einfach einmal mit einer guten „Emilia Galotti“ versuchte ohne Mätzchen und Firlefänzchen. „Die Nibelungen“ haben am 11. September Premiere, beiß uns der Fuchs, wenn da nicht Assoziationen erwartet werden dürfen.

Richtig, das Bühnenbild von Helge Ullmann, der auch die Kostüme verantwortet, sieht irgendwie aus wie Ground Zero, als sich die Staubwolken verzogen hatten und die ersten dreihundert Millionen „O, my god“ über alle Kanäle gesendet waren. So schlecht ist das nicht, den zwei bis vier Nicht-Experten sei dazu ergänzend verraten, dass das Bühnenbild zur sehr berühmten Jürgen-Fehling-Inszenierung von 1924 (Agnes Straub als Kriemhild und Götz Georges Papa Heinrich als Hagen) gar nicht so verschieden war davon, was damals freilich namhafte Kritiker nachhaltig vergrätzte. Heute ist man froh, wenn die Bühne nicht leer ist. Tattoos auf nackten Helden-Oberkörpern gab es schon bei Amina Gusner in Gera, als die auch mal eine Saison-Eröffnung mit „Die Nibelungen“ wagte (viel Beifall der Kritik übrigens), in Meiningen sind die Tattoos bei den Männern die Hälfte des Kostüms, ähnlich bei nicht ganz so nackten Darstellerinnen-Körperteilen. Das optische Ereignis des Abends: Anja Lenßen als Frigga. Bei Hebbel selbst liest man über die Amme der Brunhild fast hinweg. Und erlebt nun plötzlich, wie ein optisches Ereignis überhaupt ein Ereignis ist. Was steckt in dieser Rolle, wenn man rein guckt. Von wegen Nebenrolle.

Patric Seibert, Chefdramaturg, hat aus den weit über 5000 Versen des Dreiteilers einen Abend gemacht, der mit Pause glatt vier Stunden dauerte, eine weniger als 1924, und damals war die Kritik der Streichfassung gram. Das muss man jetzt nicht, auch wenn die Verluste herb sind. Denn zweiteilige Abende, das ist in unserer Zeit out, wir haben an anderthalbtausendteiligen Vorabendserien und Endlos-Staffeln amerikanischer Fernsehproduktionen, die unsere privaten Sender rund um die Uhr abspielen, vollkommen genug. Nur einmal wird in Meiningen gesungen, Renatus Scheibe übernimmt das als Spielmann Volker, ansonsten ist das tatsächlich Sprechtheater. In den ersten beiden Abteilungen ist es sogar mehr Sprechtheater als Spieltheater. Es macht damit aber nur sinnfällig, was früher schon Hebbel-Kennern auffiel: Tragödie ist strenger genommen nur „Kriemhilds Rache“. Dort allerdings fließt das Blut wie im Schlachthaus, es sprudelt und spritzt. Die unlösbare Aufgabe, auf der Bühne ein Kind zu enthaupten, hat sich die Regie gar nicht erst gestellt, auch die anderen Enthauptungen entfielen samt und sonders, es wird geschossen, selbst das berühmte Schwert Balmung ist ein Schießprügel.

Und am Ende hat der Meininger Etzel (Peter Bernhardt) einfach keine Lust mehr, die pathetische Übergabe seiner Kronen an Dietrich von Bern (Reinhard Bock) ist gestrichen. Damit auch die christliche Pointe, die bei Hebbel ihren Sinn hatte. Die Streichfassung hat manche Namen modernisiert, Markgraf Rüdeger (Hans-Joachim Rodewald) heißt zwar im Programmheft wie bei Hebbel, auf der Bühne aber geriet das e zum i, Hebbels Heunen sind in Meiningen zutreffend die Hunnen und was nicht gestrichen wurde, sind die hoch-überheblichen Diskriminierungs-Sätze der Burgunden über und gegen die Hunnen. In den sozialen Netzwerken würden diese Burgunden im Shitstorm von der Bühne gefegt, das Wort Neger in Politiker-Mund animiert brave Journalisten und noch bravere Abgeordnete zu Sechsspaltern und Rücktrittsforderungen. Die Hunnen bei Hebbel regeln den Fall direkter und mit Todesfolge für die Beleidiger. Weshalb sie auch untergegangen sind, muss man fairerweise ergänzen. Im Kino war 1954 einmal der ukrainische Auswanderer Jack Palance der finstere Hunnenkönig Attila. Sein Meininger Kollege strahlte die große Gefährlichkeit des Führers der asiatischen Horden, so nannte man das früher bedenkenlos, nicht annähernd aus. Auch die christliche Bekehrung nicht, deren Niederschläge im Text gestrichen waren.

Die Burgunden stellt Lars Wernecke fast durchweg als junge Männer auf die Bühne. Verheiratet ist noch keiner von ihnen, vielleicht der Sänger Volker, der es aber nicht verrät. So ist König Gunther (Sven Zinkan) auch sofort mehr als hellhörig, als er die Mär von der hochnordischen Brunhild vernimmt. Sein Bruder Giselher (Hannes Sell) hat viel später allerhöchste Eile, Rüdegers Tochter Gudrun ins Ehebett zu bekommen, die gestrichen ist wie Giselhers Bruder Gerenot. Auch Siegfried (Phillip Henry Brehl), der als Gast kommt und am liebsten gleich mit Gunther um beider Reiche gekämpft hätte, muss nur aus dem Augenwinkel in einem Turmfenster Kriemhild sehen und schon ist er hin. Für Kriemhild ist er bereit, die seltsamsten Sachen zu machen, was Gunther und Hagen (Björn Boresch) skrupellos ausnutzen. Also seine unvollkommene Unverwundbarkeit, das Vermögen des Schwertes Balmung, fast unbemannt Siege zu erringen sowie vor allem die Tarnkappe, die unsichtbar macht. Ihr verdankt Siegfried schließlich den Doppelsieg über Brunhild (Evelyn Fuchs), den diese dem Gunther anrechnet mit blutigen Folgen. An Hagens Seite fast immer auf der Bühne, aber selten einen Satz sagen dürfend: Vivian Frey als Bruder Dankwart.

Sie alle sind dazu verurteilt, Recken und Helden zu sein, was bei jungen Männern im wirklichen Lebens zu Bewegungsabläufen führt, als hätten sie Rasierklingen unter die Achseln geklemmt, auf der Bühne wird es sauber kopiert. Vor allem König Gunther bewegt seine Arme bei leicht noch vorn gedrückten Schultern fast permanent synchron, was seltsam aussieht und zu seinem ebenfalls seltsamen Gesichtsausdruck passt. In manchen Momenten erinnerte vor allem sein Spiel an das Ausdruckspathos des Nibelungen-Stummfilms, was kein Lob sein soll. Der Hagen Björn Boreschs (Jahrgang 1990 wie auch Phillip Henry Brehl) lotet den Reichtum der Rolle nicht aus, Hagen ist bei Hebbel der mit Abstand interessanteste männliche Charakter, kühler Kalkulator und Spieler, Sturkopf und Ironiker, Machtmensch und Vasall, der seinen König fast dauernd demütigt und seine eigenen Ambitionen so gut verbirgt, dass er sie nicht einmal sich selbst eingestehen würde. Im Lauf der mehr als drei Stunden Spielzeit, vielleicht ist das nur am Premierenabend so und verliert sich dann, scheinen fast alle Darsteller lockerer zu werden, die Darstellerinnen sind von Beginn an ungebremster.

Meret Engelhardt als Kriemhild folgte in einer Hinsicht sogar der großen Agnes Straub; sie spielte zwei verschiedene Rollen. Ulrike Walther als Mutter des Königs und seiner drei Geschwister blieb wenig Spielraum, noch weniger hatte Peter Liebaug als Hildebrant, der durfte vor allem öfter verächtlich ausspucken. Auf Etzels Spielmann Werbel (Michael Jeske) bereitet die Inszenierung Lars Werneckes leider überhaupt nicht vor, wer den Text Hebbels nicht kennt, wird bis zum Ende rätseln, was für eine seltsame langhaarige und wuchtige Erscheinung das sein soll, die da mit der bekannt durchdringenden Stimme Jeskes Aufmerksamkeit auf sich zieht, die der Rolle streng genommen gar nicht zukommt. Hier zeigen sich die Nebenwirkungen der Strichfassung am deutlichsten. Glück hat damit Siegfried. Phillip Henry Brehl darf das Jugendlich-Unbekümmerte, das durchaus Unbedarfte ausspielen, Bibel-Kenner wissen, was es meint, wenn er sagt, er habe noch keine Frau erkannt. Das ist ein schöner runder Einstieg für einen so jungen Mimen. Den Rüdeger des Hans-Joachim Rodewald dagegen erwartet man bedeutend, nur raubt ihm die Strichfassung mehr als gut ist. Sein Konflikt ist am ehesten der literatur-und geschichtsnotorische der „Nibelungentreue“ und würde tatsächlich in deutsche Abgründe führen.

Vor fast fünfzig Jahren schrieb Martin Schaub: „Die politischen Umstände haben das Stück auf die Bühne gehoben. Von den Bühnen aber sind „Die Nibelungen“ verschwunden, weil sie zu monströs, zu unausgeglichen, dichterisch und theatralisch nicht restlos gemeistert sind. Die Hebbel-Forschung aber kann das Stück nicht übergehen; noch immer ist es nicht schlüssig interpretiert, wahrscheinlich deshalb, weil noch kein Interpret ein sachliches Verhältnis zu den Nibelungen hat finden können.“ Vor mehr als neunzig Jahren schrieb Herbert Ihering: „Hebbels „Nibelungen“ aus einer Grundvision zu inszenieren, ist fast eine unmögliche Aufgabe. Es haben sich vor die Siegfried-Sage so viele primitive, feststehende, von Schule und Überlieferung gespeiste Bildvorstellungen geschoben, das es schon als Wagnis erscheint, Recken ohne Felle, Bettvorleger und wallende Bärte zu spielen.“ Alfred Polgar sah Hebbels Nibelungen als „Geschöpfe, in denen die Verschmelzung von Tierischem und Göttlichem zum Menschlichen noch nicht vollzogen ist. Sie haben Vernunft und Ethos, aber neben diesen, ihnen durchaus koordiniert, stehen in noch ungebrochener Kraft Trieb und Instinkt.“ Georg Hensel dekretierte knapp: „... seine Verquickung von vorzeitlicher Reckenstarrheit und neuzeitlicher Psychologie, von Mythischem und Modernem, ist unbekömmlich geworden.“ Lars Werneckes Meininger Inszenierung fügt sich zur Reihe der Versuche, die das anders sehen, die es in jüngsten Jahren in Berlin, in Frankfurt, in Bonn, in Marburg und Bochum gegeben hat, Gera war schon genannt, am 10. Oktober folgt das Staatsschauspiel Dresden, Regie Sebastian Baumgarten.
www.das-meininger-theater.de


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